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302, Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten Juni 2016, www.daskonstruktiv.at, Euro 9,– | GZ 12Z039152 M | bAIK, Karlsgasse 9, 1040 Wien 302, raum und krise Wie viel Raum steht einem Menschen zu? Mehr, hätte man noch vor Kurzem gesagt. Doch die europäische Kultur hat den Verzicht auf ihre Fahnen geschrieben.

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Inhalt 8 – 12 13 – 15 16 – 19 20 – 23 24– 27 28 – 31 32 – 34 raum und krise Impressum Medieninhaber und Herausgeber Editorial, Vorwort des Präsidiums Puntigams Kolumne, Dusls Schwerpunkt Standpunkte: Klaus Thürriedl, Anne Mautner Markhof, Karl Grimm Stephan Heid und Gerald Fuxjäger Plus / Minus: Generalunternehmer plus Räume für Menschen | Techniken für die komprimierte Stadt Wolfgang Pauser Schluss mit „hätti-tati-wari“ | Eine neue Kultur in der Raumplanung ist gefragt Reinhard Seiß Stabile Raumgerüste | Der Wandel als baukulturelle Chance Stephanie Drlik Stadt? Land! Fluss | Die Antwort ist multilokal Christian Fröhlich Auf in den Weltraum! | Der Mensch als multiplanetare Spezies Florian Aigner Flucht und Krise | Zur Problematik räumlicher Konzentration Flüchtender Andre Krammer Maßstab Mensch | (Wohn)Raum für Menschen auf der Flucht Raffaela Lackner 40 Empfehlungen 41 Jüngste Entscheidung, Krassnitzers Lektüren 42 Porträt: Patricia Zacek-Stadler Claudia Rinne 43 Fehlanzeige 44 Von oben Erscheinungsweise Auflage Einzelpreis Abopreis pro Jahr Redaktion, Anzeigen & Aboverwaltung Redaktionsteam Redaktionsbeirat KoNstruktiv 302 Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (bAIK) 1040 Wien, Karlsgasse 9 T: 01-505 58 07-0, F: 01-505 32 11 www.daskonstruktiv.at vier Mal jährlich 14.500 Stück 9,00 Euro 24,00 Euro art: phalanx Kunst- und Kommunikationsagentur Clemens Kopetzky und Susanne Haider (Geschäftsleitung) Franziska Leeb und Marlies Marbler 1070 Wien, Neubaugasse 25 /1/11 T: 01-524 9803-0, F: 01-524 9803-4 redaktion@daskonstruktiv.at, anzeigen@ daskonstruktiv.at, abo@daskonstruktiv.at Christian Aulinger (Präsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten), Armin Haghirian (Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Steiermark und Kärnten), Andrea Hinterleitner-Sedlacek (Stv. Vorsitzende des Forums der Ziviltechnikerinnen), Gabriele Kaiser (Leiterin afo architekturforum oberösterreich), Rudolf Kolbe (Vizepräsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten und Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Oberösterreich und Salzburg), Anna Soucek (Journalistin), Hanno Vogl-Fernheim (Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Tirol und Vorarlberg) Lektorat Grafisches Basiskonzept Gestaltung Druck Schriften Abbildungen F. = Fotograf A. = Architekt Dorrit Korger Gassner Redolfi, Schlins Bohatsch und Partner, Wien ap media – Visuelle Kommunikation, Wien www.ap-media.at Ueberreuter Print GmbH, Korneuburg Gedruckt auf SoporSet Premium 120 g/m2 Vista Sans (Xavier Dupré), Arnhem (Fred Smeijers) S. 3: F. Johannes Zinner © baik; S. 4: F. Ingo Pertramer, Andrea Maria Dusl; S. 5: F. Johannes Zinner © bAIK (oben und Mitte); © Wilke; S. 7 bis 31: F. Paul Kranzler, bis auf S. 13: F. Lupi Spuma; S. 14: F. Gabi Obi; S. 15: the next enterprise architects; S. 18: Skizzen Caramel Architekten; S. 32 bis 34: F. Gerhard Maurer; S. 40: © Semptec Urban Survival Technology; © ballesterer; S. 41: © Birkhäuser; S. 42: © Atelier Zacek; S. 43: flickr, creative commons; S. 44: © NASA Die Redaktion ersucht diejenigen Urheber, Rechtsnachfolger und Werknutzungsberechtigten, die nicht kontaktiert werden konnten, im Falle des fehlenden Einverständnisses zur Vervielfältigung, Veröffentlichung und Verwertung von Werkabbildungen bzw. Fotografien im Rahmen dieser Publikation um Kontaktaufnahme. Das Gestaltungskonzept dieser Zeitschrift ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist unzulässig. Die Texte, Fotos, Plandarstellungen sind urheberrechtlich geschützt. Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist auf www.daskonstruktiv.at veröffentlicht. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben ausschließlich die Meinung des Autors/der Autorin wieder, die sich nicht mit der des Herausgebers oder der Redaktion decken muss. Für unverlangte Beiträge liegt das Risiko beim Einsender. Sinngemäße textliche Überarbeitung behält sich die Redaktion vor. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Das Zitat auf dem Titel wurde dem Text von Wolfgang Pauser entnommen. 2 | 3

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Editorial Umweltkrise, Immobilienkrise, Bankenkrise, Demografiekrise, Flüchtlingskrise, Asylkrise, Wohnungskrise, Bildungskrise, Arbeitsmarktkrise: Die Welt ist im Wandel, gefühltermaßen stärker und schneller denn je, und wohl jede Profession ist gefordert, nach ihren Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen, um von der Krise nicht ins Desaster zu schlittern. Im etymologischen Sinn bedeutet eine Krise zunächst keine hoffnungslose Lage. Das Wort kommt, ebenso wie „Kritik“, vom griechischen Verb „krínein“. Es bedeutet „trennen“, „entscheiden“, „urteilen“ oder „beurteilen“, bezeichnet also einen Moment oder eine Situation, in der Entscheidungen notwendig sind, die zu einer neuen Entwicklung führen. In der Medizin versteht man unter „Krisis“ einen entscheidenden Wendepunkt im Verlauf einer akuten Krankheit. Dem Schweizer Schriftsteller und Architekten Max Frisch wird das Zitat „Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ zugeschrieben. In der asiatischen Schriftsprache setzt sich das Zeichen für Krise aus dem Zeichen „Gefahr“ und jenem für „Gelegenheit“ zusammen. Noch expliziter als Max Frisch formulierte es 1955 Albert Einstein: „Eine Krise ist der größte Segen, der einer Person oder einem Land passieren kann, denn sie bringt immer Fortschritt. Die Kreativität entsteht aus der Panik, genauso wie der Tag auf die Dunkelheit der Nacht folgt.“ In diesem positiven, Hoffnung gebenden Sinn wollen wir auch den Titel dieser Ausgabe des Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Ausgabe haben wir über die Bemühungen der Kammer hinsichtlich der Schaffung eines Anfechtungsrechts für gesetzliche Interessensvertretungen in Vergabesachen berichtet. Damit es gar nicht erst zu einer Anfechtung kommen muss, hat die Bundeskammer nun einen Auftrag zur Erstellung von Vergabemodellen für geistige Dienstleistungen öffentlich ausgeschrieben. Mit einem Leitfaden samt Mustertexten und Qualitätskriterien soll Auftraggeber/innen ein geeignetes Werkzeug für die Gestaltung fairer und qualitätsvoller Verfahren zur Verfügung gestellt werden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Einbindung der wichtigsten Auftrageber/innen, um größtmögliche Akzeptanz des Ergebnisses zu erzielen. Mehrere öffentliche Auftraggeber/innen wie BIG, ASFINAG oder der Gemeindebund waren bereits in das Auswahlverfahren der eingereichten Angebote involviert. Die Vergabemodelle sollen im Zuge der Novelle des Bundesvergabegesetzes, die noch für heuer avisiert wurde, breitenwirksam präsentiert werden. KONstruktiv Im Dezember 2015 wurde im Vorstand der Bundeskammer beschlossen die Printversion der Zeitschrift KoNstruktiv per Sommer 2016 einzustellen. Aktuell wird an digitalen Folgeprojekten gearbeitet. N KoNstruktiv „Raum und Krise“ verstanden wissen. Denn auch in Architektur, Städtebau, Raumplanung und Landschaftsarchitektur sorgen die diversen Krisen für Dynamik und bieten Chancen, etablierte Diskurse aufzubrechen und die Wende zum Besseren einzuleiten. Aus unterschiedlichen Blickwickeln befassen sich die Autorinnen und Autoren mit Raumproblematiken auf verschiedenen Ebenen. Wie und wo wir in Zukunft leben werden, wird jedenfalls nicht ganz unwesentlich auch davon abhängen, wie couragiert sich Ziviltechniker/innen aktiv für die Gestaltung einer lebenswerten Welt einsetzen – auf dem Land, in der Stadt oder irgendwann einmal auch im All. Keine Angst, es kann nur besser werden; die nächste Krise kommt bestimmt! Franziska Leeb N Christian Aulinger (links) Präsident Rudolf Kolbe (rechts) Vizepräsident

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Schöner wohnen mit Asteroiden Martin Puntigam Kabarettist, Autor und MC der Science Busters Orte für Menschen gibt es schon auf der Erde nicht sehr viele, aber außerhalb des Planeten sind sie noch rarer, selbst wenn wir passende Raketen hätten, um sie überall zu erreichen. Auch Publikumslieblinge wie der Mars kommen nicht einmal für eine Landpartie infrage, nicht zuletzt weil es dort dauernd kalt ist. Minus 55 Grad Celsius im Schnitt sind keine Seltenheit, im Marskalender kann man Monate ohne R, während der man barfuß ins Freie gehen darf, lange suchen. Könnte man den Mars aufwärmen? Grundsätzlich kein Problem. Der Mars ist unter anderem deshalb so viel kälter als die Erde, weil er so viel weiter von der Sonne entfernt seine Runden dreht. Mithilfe von Asteroiden ließe er sich aber näher an die Heizquelle heranbringen. Wie macht man das, legt man dem Mars eine Spur aus Asteroiden zur Sonne und er nascht sich zum Stern hin? Nein. Man nimmt einen Asteroiden, von denen es jede Menge im Weltall gibt, und lässt ihn regelmäßig und knapp am Mars vorbeifliegen. Dadurch bekommt der Asteroid durch die Gravitation des Mars quasi einen kleinen Schubs, aber auch umgekehrt der Mars durch den Asteroiden. Wenn das einmal passiert, dann ist das natürlich nicht sehr nachhaltig, aber wenn man das sehr oft wiederholt, dann kann man so unseren Nachbarplaneten näher an die Sonne heranlocken. Wie oft? Planen Sie sicherheitshalber einmal hundert Millionen Jahre ein. Kann aber auch mehr werden, kommt auch ein bisschen darauf an, wie man aus der Stadt rauskommt. Ginge das auch umgekehrt, denn dem Vernehmen nach wird sich die Sonne irgendwann zum roten Riesen aufblähen, dann wäre es für die Erde günstig, Abstand zu halten. Natürlich wäre auch das denkbar. Nach demselben Prinzip könnten Sie das Sonnensystem umbauen, wie Sie wollen. Erde weiter raus, Saturn weiter rein, Neptun und Pluto tauschen Platz, mit ausreichend Asteroiden zur Hand ist im Sonnensystem kosmisches Feng-Shui ohne Grenzen möglich, und schwuppdiwupp gibt es mehr Orte für Menschen im Universum, als man in einem Leben mit Raketen erreichen kann. N Dusls Schwerpunkt 4 | 5 Puntigams Kolumne, Dusls Schwerpunkt

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KONstruktiv, letzte Ausgabe Klaus Thürriedl Vorsitzender der Bundessektion der Ingenieurkonsulenten Zwangsläufig ist es in der Zivilisation ja so, dass „Orte für Menschen“ leider auch „Unorte“ für Menschen, wie Kläranlagen oder Mülldeponien, nach sich ziehen – und natürlich auch „Orte für Unmenschen“ z. B. Gefängnisse – aber nicht zwangsläufig! Wenn sich Architekt Ernst May in der gebauten Umwelt um Mehrwerte kümmern will, müssen die Ingenieure halt wieder in den Gatsch hupfen und die Minderwerte (Fäkalien und Abfälle) aus der Wohlfühlwelt herausholen und damit was tun, damit es weiterhin beim Wohlfühlen bleibt. Yes, we can! Und wir tun das gerne! Ja, wir sollen das Schöne und Angenehme im Leben in den Vordergrund stellen. Das haben wir verdient. Architekt/innen stehen in der gebauten Umwelt im Vordergrund. Das Wohn.Chance – Die Aufgabe im Auge Mit Bewunderung habe ich den Einsatz meiner Tochter am Westbahnhof Wien gesehen, als sie sich tatkräftig für eine der Hilfsorganisationen engagierte, die ein geregeltes Ankommen von Flüchtenden koordinierten und Hilfe leisteten. Dieses Engagement habe ich mir zum Vorbild genommen und gemeinsam mit Architektenkollegen Franz Gschwantner zunächst ehrenamtlich die Baupläne für die günstige Wohnschiene „Wohn.Chance“ des Landes Niederösterreich überarbeitet. Dabei hatten wir beide die Aufgabe im Auge, leistbaren Wohnraum unter wirtschaftlichen Kriterien zu optimieren und funktional zu konzipieren. Das erste, nicht von Architekten geplante Projekt war zuvor starker Kritik ausgesetzt. Kritik, die teilweise ihre Berechtigung hatte, Bundesgärten vor dem Aus Karl Grimm Stellvertretender Vorsitzender der Fachgruppe Raumplanung, Landschaftsplanung und Geografie jedoch nicht zwingend war: Denn ich sehe es als Aufgabe der Architekt/innen, nicht nur Kritik verbal zu äußern, sondern die Ärmel hochzukrempeln und für das hehre Ziel des wirklich leistbaren Wohnraumes, mit anzupacken. Ich bin der festen Überzeugung, dass „günstig“ nicht per se „schlecht“ bedeutet. Beispielsweise gibt es in den neuen Entwürfen französische Fenster, sodass zu einem späteren Zeitpunkt die Balkone angefügt werden können. Weil wir Grundstücke noch nicht kennen, wurden die Wohnzimmer jeweils an den Gebäudeecken angeordnet, um die optimale Besonnung unabhängig von der Orientierung der Baukörper zu gewährleisten. Es ist die ureigene Aufgabe der Architekt/innen, genau solche Lösungen zu schaffen. In diesem Sinne Zu Österreichs reichem kulturellen Erbe zählen neben Bauwerken und Kulturlandschaften auch historische Gärten. Die österreichischen Bundesgärten betreuen die bekanntesten Parkanlagen. Völlig überraschend soll diese bewährte Institution nun ihre Eigenständigkeit und ihre Leitung verlieren und in die Höhere Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau eingegliedert werden. Vergleichbar ist das in etwa mit einer Unterstellung der Burghauptmannschaft unter eine HTL für Hochbau! Eine kompetente, international anerkannte und bisher recht autonom agierende Kulturgüterverwaltung wird zum Anhängsel einer Mittelschule degradiert. Das dafür verantwortliche Lebensministerium spricht auf Anfrage vage von Absicherung und Chance, gibt aber keine konkreten Gründe und Ziele an. Synergien sind jedenfalls nicht ersichtlich, denn die Schule befasst sich mit angewandtem Garten- und Landschaftsbau, können sie! Und das tun sie auch gerne! Beneidet der Ingenieur den Architekten, die Ingenieurin die Architektin? Na ja, ein wenig schon. Und ein wenig ungerecht ist das auch, weil dass die gebaute Umwelt nicht zusammenbricht, braucht’s schon die Ingenieurskunst – dringend! Die steht aber erst im Vordergrund, wenn’s passiert. Wenn dieses KoNstruktiv heute zum letzten Mal erscheint, endet auch eine Ära, in der die Ingenieur/innen die Chance hatten, sich in Wort und Bild zu beweisen. Das war am Anfang ein wenig holprig, gelang dann aber immer besser. Jedenfalls wird dieser Wettstreit um öffentliche Anerkennung weitergehen. Und jedenfalls liegt es an uns Pluspunkte zu sammeln. N Anne Mautner Markhof Stellvertretende Vorsitzende der Bundessektion Architekten wäre die beste Kritik der Kollegenschaft einfach mitzuarbeiten. N die Bundesgärten dagegen betreuen Gartenkunstwerke auf hohem Niveau – unter anderem die Schlossparks Schönbrunn, Belvedere, Burggarten sowie Ambras in Innsbruck. Sie schaffen den schwierigen Spagat zwischen Kulturgüterschutz, Tourismushotspots und kostenlos zugänglichem Erholungsraum. Was soll also diese Aktion? Wenn als Antwort nur Phrasen geboten werden, liegt der Verdacht auf verborgene Agenden nahe. Soll eine neue Leitung ohne Rücksicht auf Verluste Spektakel zulassen, wie etwa ein medial kolportiertes Skirennen von der Gloriette in Schönbrunn? Oder soll gar die Filetierung der Bundesgärten eingeleitet werden? Verantwortungsvoller Umgang statt ministerieller Machtspiele wäre angesagt! Aus fachlicher Sicht kann nur die international bewährte Lösung einer Zusammenführung von Schlössern und Gärten in eine gemeinsame Verwaltung empfohlen werden. N Standpunkte

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Generalunternehmer plus Dass die Juristen zusehends das Planen und Bauen bestimmen ist kein neuer Vorwurf. Ein neues Vertrags- und Vergabemodell namens „Generalunternehmer plus“ ist im Anmarsch und wurde bereits mehrfach angewendet. Wird damit die Bestellqualität des Bauherrn erhöht, wie die Erfinder des Modells meinen? Was bedeutet diese Konstruktion für die planenden Ziviltechniker/innen, was für die Auftraggeber? Um den wachsenden Bedürfnissen des Marktes zu entsprechen und die Produktivität in der Bauwirtschaft zu stärken, sind wir als Rechtsanwälte seit Jahren maßgeblich daran beteiligt, innovative Vergabe- und Vertragsmodelle zu entwickeln. Eines dieser Modelle ist der von uns konzipierte Generalunternehmer „plus“ („GU +“), der im Vergleich zu den „klassischen“ Modellen des Totalunternehmers („TU“) und des Generalunternehmers („GU“) eine Zwischenstellung einnimmt: Wie beim GU verbleiben auch beim GU + die geistigschöpferischen Ziviltechnikerleistungen der Vorentwurfs-, Entwurfs- und Einreichplanung beim planenden Ziviltechniker. Neu ist hingegen die getrennte Ausführungsplanung, die nun zu einem Teil vom GU + erbracht wird. Beispielsweise verblieb bei einem von unserer Kanzlei betreuten GU +-Projekt die Ausführungsplanung so weit beim planenden Ziviltechniker, als dies für die Erstellung der funktionalen Leistungsbeschreibung zur Findung des GU + erforderlich war. Daran anknüpfend erbrachte der GU + die (vertiefte) fachtechnische Ausführungsplanung. Entscheidend beim GU + ist, dass die Qualitätssicherung im Sinne einer erweiterten architektonischen Oberleitung (künstlerische Oberleitung mit Teilen der technischen und geschäftlichen Oberleitung) weiterhin beim Ziviltechniker verbleibt und dieser die Leistungen des GU + bis zur Schlussabnahme des Bauwerks überwacht. Gerade diese Überprüfung und Optimierung führt zu einer wesentlichen Qualitätssteigerung für den Bauherrn. Eine weitere Besonderheit liegt in der Auftragsvergabe: Da die Leistungsbeschreibung zur Findung des GU + im Wesentlichen funktional erfolgt, ist das Bestbieterprinzip für die Wahl des Professionisten verpflichtend anzuwenden und die Wahl des Verhandlungsverfahrens möglich, wodurch die bisherige Planung mitsamt den Kostenansätzen eingehend überprüft bzw. optimiert und die Bestellqualität des Bauherrn erhöht wird. Weiters wird in den Verhandlungsrunden und technischen Besprechungen bereits wertvolles Teambuilding betrieben. Da ein respektvolles Miteinander gerade für Bauprojekte – als gemeinsame Unternehmen auf Zeit – ein entscheidender Erfolgsfaktor ist, hat der GU + im Vergleich zu den „klassischen“ Modellen auch in diesem Bereich einen klaren Vorsprung und verdient sein „+“. Stephan Heid, Heid Schiefer Rechtsanwälte N Die Suche nach Alternativen zur klassischen getrennten Beauftragung von Gesamtplanung und nachfolgender Bauausführung ist zuletzt um die Variante „Generalunternehmer plus – GU +“ reicher geworden: Der planende Ziviltechniker wird bis zur Einreichung und mit Teilen der Ausführungsplanung beauftragt, der Großteil der Ausführungsplanung wird jedoch auf einen bauausführenden Generalunternehmer übertragen. Der Bruch in der Planung samt fehlender Kontinuität und drohendem Qualitätsverlust soll durch begleitende Zusatzleistungen durch den planenden Ziviltechniker während der Ausführungsplanung abgefedert werden. Unausgesprochen bleibt jedoch, welche über die Einreichplanung hinausgehende Planungstiefe konkret erforderlich ist, um bei der Ausschreibung des GU + vergleichbare Angebote zu erhalten bzw. überhaupt kalkulieren zu können. Auch eine sinnvolle Grenzziehung zwischen den beiden Planungsaufträgen bleibt vage. Selbst eine begleitende Beauftragung des Planers, die lediglich auf Leitdetails reduziert ist, erfordert vom Planer eine vertiefte Durcharbeitung. Ohne ganzheitliche planerische Erfassung wird darüber hinaus bereits die Definition, welches denn überhaupt die erforderlichen Leitdetails sind, zum Ratespiel. Im Ergebnis würde diese Konstruktion entweder den doppelten Planungsaufwand und damit auch doppelte Kosten für den Auftraggeber bedeuten. Oder Gratisleistungen durch den Ziviltechniker, die zwar planerisch erforderlich, formal aber nicht beauftragt sind. Die Alternative wäre das Risiko des Qualitätsverlustes durch Verzicht auf ausreichende Vorgaben. Fraglich scheint auch die Gewährleistung der gegenseitigen Kontrolle: Nur die ausreichende Abgrenzung von Planung und Bauausführung sorgt für ein funktionierendes Vier-Augen-Prinzip. Für die Berufsvertretung der Ziviltechniker stellt sich daher die Frage, warum Auftraggeber eine Beauftragungsvariante wählen sollten, die automatisch in eine Wahl zwischen planerischer Sinnlosigkeit, unfairen Auftragsbedingungen oder ökonomischem Wahnsinn mündet. Die gesamte Planung aus einer Hand ist immer noch der beste und kostengünstigste Weg, Qualität und Kontinuität im Projekt sicherzustellen. Gerald Fuxjäger, Kammer der Ziviltechniker/innen für Steiermark und Kärnten N 6 | 7 Plus / Minus

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raum und krise „Reporting from the Front“ hat Oberkurator Alejandro Aravena als Thema der heurigen Architektur-Biennale ausgerufen und Architekten eingeladen, sich mit den Problemen der Gegenwart zu befassen, den Horizont nach neuen Aktionsfeldern abzusuchen und aus ihrer täglichen Arbeit zu berichten. Der von Elke Delugan-Meissl kuratierte österreichische Beitrag nimmt dies zum Anlass, mit konkreten Interventionen in drei Wiener Flüchtlingsunterkünften das Potenzial architektonisch-gestalterischen Wirkens aufzuzeigen. Die von Caramel Architekten, Eoos und the next ENTERprise verantworteten exemplarischen Arbeiten in umgenutzten Büroimmobilien zeigen sehr augenscheinlich, wie mit sorgfältig bedachten, einfachen und kostengünstigen Maßnahmen räumliche und soziale Bedingungen bedeutend zu verbessern sind. Darüber hinaus liefern sie jede Menge Denkanstöße zu Themen wie temporäres Wohnen, Aktivierung von Leerstand und die Rolle von Gemeinschaftsräumen und öffentlichem Raum für ein gedeihliches Zusammenleben. Ausführlichere Informationen zum österreichischen Beitrag für die 15. Architektur-Biennale von Venedig unter: www.ortefuermenschen.at

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Räume für Menschen | Techniken für die komprimierte Stadt Wird es eng in den Städten, wenn immer mehr Landflüchtige, Kriegsflüchtlinge und Zugewanderte dort wohnen wollen? Wie antworten Technik und Architektur auf die neuen Anforderungen an urbane Verdichtung und Ökologisierung? Wie viel Raum steht einem Menschen Wolfgang Pauser beschäftigt sich als Kulturwissenschaftler, Autor und Berater mit Konsum, Produkten, Marken und Märkten. In den 90er-Jahren schrieb er Kolumnen über Konsumwelten für Die Zeit und unterrichtete Architekturtheorie am Institut für Wohnbau und Entwerfen an der TU Wien. Utopie und Dystopie Während die Weltbevölkerung wächst, bleibt ihr Heimatplanet nicht nur gleich groß, er schrumpft sogar an Ressourcen. Projiziert man beide Tendenzen in die Zukunft, gibt das kein schönes Bild. Alles wird weniger, alles wird enger, das ist die Kurzformel für das gegenwärtige Lebensgefühl. Positive Stadtutopien gab es zuletzt in den 1970er-Jahren. In Zukunftsfilmen wurde das Thema Raum stets mit der Eroberung des Weltraums gelöst. Der Fortschrittsglaube war noch intakt, die Endlichkeit von Rohstoffen und belastbarer Umwelt noch nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen. Wachset und vermehret euch, war der Auftrag der Bibel, bis das Buch „Grenzen des Wachstums“ dem Optimismus den Boden entzog. Der Film „Blade Runner“ erschien 1982. Er kippte das utopische Genre ins Negative. Seither dominiert die Dystopie den Inhalt des Zukunftsfilms. Pessimismus hat unseren Zeitgeist ergriffen. Blade Runner spielt in einer bis an den Horizont reichenden Riesenstadt, deren verfallende Häuser durchtränkt sind von Dauerregen. Dekadent, düster, schmutzig und extrem überbevölkert erscheint diese Megalopole. Von der Filmcrew wurde sie als „Hadeslandschaft“ bezeichnet. Menschen aller Kontinente, Kulturen und Subkulturen leben hier zusammen und verständigen sich in „Cityspeak“, einer Mischung aus Englisch, Japanisch, Koreanisch, Deutsch, Ungarisch und Spanisch. Sie wurden von der in den Weltraum geflüchteten reichen Oberschicht auf der Erde zurückgelassen. Die von Konzernen politisch wie ökonomisch Entrechteten leben polizeilich überwacht in einer Stadt, in der Altbauten in Neubauten integriert sind. Futuristische Wolkenkratzer und verfallene historische Bauten aller Stilepochen mischen sich zum Endzeitbild einer Metropole, die als Ganze zum Slum heruntergekommen ist. Geschäftsleute, Chassidim, Hare-Krishna-Jünger/innen und Punks leben beziehungs- und rücksichtslos, verarmt und gewaltbedroht unter dem Dach der alles verfinsternden Smog-Glocke. In Computerspielen und in der Jugendmode des Cyberpunk hat dieser Albtraum einer verrosteten Zukunftsstadt bis heute nichts an Aktualität verloren. Nicht unwahrscheinlich ist, dass dieser Albtraum auch in den Köpfen jener lebendig ist, die Masseneinwanderung in die europäischen Städte mit Angst erfüllt. Angst ruft nach Schutzmaßnahmen technischer und baulicher Art. Zäune werden entlang der Staatsgrenzen errichtet, der Bautypus Grenzsta tion kehrt zurück, Produzenten von Zelten, mobilen Toiletten, Traglufthallen, Fingerabdruck-Scannern und Feldbetten haben Hochkonjunktur. Flüchtlingsindustrie hat gute Chancen, demnächst zum Unwort des Jahres erklärt zu werden. Die Frage, wo und wie Flüchtlinge untergebracht werden sollten, würde in der Bevölkerung vermutlich recht gegensätzlich beantwortet. In Zeltlagern möglichst weit weg, damit abschreckende Bilder erzeugt werden, ist die Vision der rechten Seite. In über die Stadt verstreuten Neubauten, damit sich keine Gettos bilden, fordert die linke Seite. Dort wird auch über Enteignung von Leerstand und zwangsweise Einquartierung diskutiert. Politische Polarisierung ist die Folge. Die Stunde der Architekt/innen Nicht nur die Ausgrenzung, auch die Integration der Einwanderer eröffnet neue Perspektiven und Arbeitsfelder für Ingenieure, Urbanistinnen, Raumplaner und Architektinnen. Auf der Architekturbiennale 2016 präsentiert Österreich in Venedig Projekte und Lösungsansätze im Sinne des Social Design. Unter dem Titel „Orte für Menschen“ gibt sich die Architektur den sozialen Auftrag, „Schutz zu bieten, menschenwürdige Lebensbedingungen und Voraussetzungen für ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben zu gestalten“. Wie können leer stehende Bürohäuser in Quartiere verwandelt werden? Welche hölzernen Alternativen gibt es zum Stahlcontainer? Was müssen Raumtrenner leisten, um die Lebensqualität in Hallen und Parkhäusern zu verbessern? Die Initiative Raum4Refugees weist darauf hin, dass neben allen technisch-funktionalen Fragen auch die gestalterische Qualität „enormen Einfluss auf die Integrationsfähigkeit der Ankommenden“ habe. In ökonomischer Perspektive bietet sich Planer/ innen ein zwiespältiges Szenario. Nun „sei die Stunde der Architekten“, schrieb Niklas Maak in der faz. Mehr Menschen brauchen mehr Bauten. Zum wichtigsten Auftraggeber wird nun der Staat. Mit der Fokussierung auf soziale Themen baut die Zunft eine diskursive Brücke zur Politik. Andererseits wird „in der Hektik auf Architekten verzichtet“. Modulbauweise ist gefragt. Als Spezialisten für ästhetischen Mehrwert werden Architekten und Architektinnen so sehr mit unnötigem Luxus assoziiert, dass Ausgaben für Gestaltung politisch schwer argumentierbar erscheinen. Ein ästhetisch veredeltes Abschiebezentrum wird von manchen sogar als Zynismus beargwöhnt. Gettobildung stößt auf breite Ablehnung, obwohl Little Italy und Chinatown in Amerika gute Vorbilder liefern und es das nachvollziehbare Bedürfnis vieler Immigrant/innen ist, zumindest 8 | 9 302 Räume für Menschen

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the next ENTERprise: UN/COMMON SPACE – UN/DEFINED LIVING Auf dem ehemaligen Siemens-Gelände in Wien werden ab dem Sommer im von der Caritas betreuten experimentellen Wohnprojekt junge Flüchtlinge und Studierende ohne Fluchthintergrund in verschiedenen Wohnformen ein neues Zuhause finden. Die „Stadtbausteine“ von the next ENTERprise können nicht nur temporär im Bestand, sondern in einer Vielzahl von urbanen Situationen eingesetzt werden. Verschließbare, mit einem zum Tisch umfunktionierbaren Bett mit Stauraum, Klapptisch, Licht und Stromanschluss ausgestattete „Raum-im-Raum“-Module – im Bild ein Prototyp – ermöglichen innerhalb der Großräume Rückzug und unterschiedliche Grade der Öffnung. Zusätzlich schaffen die Architekten durch Interventionen im Außenraum Voraussetzungen für die Kommunikation und Begegnung zwischen Bewohner/innen und der Nachbarschaft. Räume für Menschen

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anfangs in einem kulturell und sprachlich vertrauten Distrikt Fuß zu fassen. Zu oft schon haben sich lokale Parallelgesellschaften in Paris wie in Belgien als Ausgangspunkte von Gewalt erwiesen. Durchmischung scheint die einzige Alternative zu sein. Zugleich fehlt in den meisten Städten der Baugrund für das Nachverdichten. Zwang zur Dichte Wie können mehr Menschen in der Stadt untergebracht werden, wenn Neubau nicht möglich ist? An dieser Frage entzündet sich zurzeit viel gestalterische, technologische und politische Kreativität. Steigende Preise für städtisches Wohnen führen zu kleineren Einheiten. Klappmöbel sind im Design der letzte Schrei. Wenn Betten, Tische, Küchen und Bänke in den Wänden verschwinden können, lässt sich sogar in kleinsten Einraumwohnungen eine raffinierte Geräumigkeit erleben – zumindest stellt sich das in schicken Werbebildern so dar. Oft wird Ostasien als ästhetisches Vorbild für kleinräumliches Wohnen gepriesen. Blickt man nach Hongkong, zeigt sich die minimale Behausung weit weg von minimalistischem Design. Käfigmenschen oder auch menschliche Batteriehühner nennt man dort jene Hundertausende Familien, die nur ein paar Quadratmeter zum Leben haben. Die wenigen Habseligkeiten werden in Kisten bis unter die Decke gestapelt, geschlafen wird oft im Schichtbetrieb, Bewegungsfreiheit gibt es keine. In den letzten sechzig Jahren hat sich die Bevölkerung vervierfacht. In einer der reichsten Städte der Welt fehlt Raum so sehr wie sozialer Ausgleich. Neue Ideen für dichteres städtisches Leben ergeben sich auch bei der gemeinsamen Betrachtung von Stadtraum und Wohnraum. Sie gehen von der Frage aus, welche Funktionen geeignet sind, ausgelagert zu werden. Mehr gemeinschaftlich genutzte Räume könnten Wohnblocks und Nachbarschaften entlasten. Sie würden im Sinne der Sharing Culture das Miteinander lehren und die Integration unterstützen. Kindergeburtstage und Grillfeste wären auch in frei nutzbaren Parkanlagen möglich. Nach südlichem Vorbild könnte sich das Leben mehr auf die Straßen und Plätze verlagern. Öffentlicher Raum sollte erhalten bleiben, damit die Schrumpfung des Privatraums kompensierbar ist. Mit wachsendem Raumdruck tritt möglicherweise auch das Gegenteil ein – öffentlicher Raum könnte an Legitimität verlieren. Wären die Straßen einmal voll mit Obdachlosen, bliebe kein Park davor verschont, Bauland für einen Wolkenkratzer zu werden. Wie tief können Standards sinken? In München ist die Wohnungsnot besonders groß. Schon jetzt übersteigt die Anzahl der Antragsteller/ innen die der frei werdenden Sozialwohnungen um das Vierfache. Neubau für Neuankömmlinge wird gefordert. Doch wie soll der aussehen? „Das muss nicht gleich in bestausgestatteten Neubauwohnungen sein. Es reicht zunächst ein Dach über dem Kopf“, sagt der bayerische Innenminister. Die wachsenden Raumerfordernisse bei knappen Staatskassen lassen in der Architektenschaft Hoffnungen aufkeimen, die ins Kraut geschossene Bauordnung wieder abbauen zu können. In den hinter uns liegenden Jahrzehnten der Prosperität sind die quantitativen und qualitativen Standards für Bauen und Wohnen kontinuierlich gestiegen. Wenn die Globalisierung dazu führt, dass die Armut der Welt sich nicht mehr geografisch distanzieren lässt, könnte die Wohnform Slum in Europa so selbstverständlich werden wie auf allen anderen Kontinenten. In einem solchen Szenario müssten für die Geltung der Bauordnung Ausnahmezonen geschaffen werden. Es gibt bereits Architekturprojekte, die vorzeigen, wie sich zum halben Preis bauen ließe, wenn man denn dürfte. Vermutlich wird weder die Wellblechhütte noch der den heutigen Ansprüchen und Normen entsprechende Kommunalbau die Zukunft prägen. Wie tief die Standards sinken sollen, könnte eine heftige Debatte werden, in der zwei gegensätzliche Konzepte sozialer Moral und Politik aufeinandertreffen. Denkt man den Ansatz einer Sharing-Culture ins Extrem, ergeben sich mannigfaltige Möglichkeiten. Kehrt die Gangtoilette zurück, das gemeinsame Badezimmer wie in den Hotels der 1950er-Jahre? Wird im urbanen Wohnbau der Zukunft nur noch in Gemeinschaftsküchen gekocht oder gar gemeinsam gegessen? Was ist das Minimum an Funktionen, die das Konzept Wohnung umfassen muss? Wenn es überhaupt noch proprietären Raum gibt, welche Funktion würden die Menschen bevorzugen? Das Schlafzimmer, das Wohnzimmer, das Bad oder gar nur die Abstellkammer? Schlafen ließe sich in mietbaren Schlafkojen, Essen nur noch in Restaurants – Kinderzimmer hätten die stärksten Gründe für sich, nicht täglich ausgewechselt zu werden … Solche utopischen oder auch dystopischen Visionen eines total dynamisierten, den Raum lückenlos nutzenden und teilenden Stadtlebens sind durch die neuen Sharingtechnologien zumindest potenziell realisierbar geworden. Der Fahrtendienst Uber und die Einquartierungsplattform Airbnb repräsentieren heute schon ein Szenario von Nutzungsoptimierung, in dem manche die Zukunft einer webbasierten Tauschökonomie erblicken. Das Konzept der Smart City, bisher als „technische Lösung auf der Suche nach einem Problem“ kritisiert, könnte bei wachsendem Raumdruck bald fündig werden. Wie viele Menschen eine Stadt nutzen können, scheint in diesem Licht eine Frage organisierender Technologie zu sein. Automobilkonzerne entwickeln jetzt schon Fahrzeuge für eine Stadt, die keine Parkplätze mehr braucht, weil es nur noch selbst fahrende Elektroautos gibt, die wie Taxis per App geordert werden und rund um die Uhr unterwegs sind. Die Anzahl der innerstädtisch benötigten Fahrzeuge wäre im Vergleich zur heutigen Autodichte Räume für Menschen

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erstaunlich gering. Alle Verkehrsbewegungen der Stadt würden von künstlicher Intelligenz permanent optimiert. Breite Straßen würden unnötig und könnten als Grundflächen schmaler Hochbauten für die Nachverdichtung genutzt werden. Städte bedecken bisher nur 2 Prozent der Erdoberfläche. Warum sollte es dort eng werden? Alle Fantasien der Verengung und Verdichtung Aus Gründen der haben eine ökologische Implikation. Umwelt- und Ressourcenschonung erscheint wünschenswert, dass die Verstädterung zunimmt, ohne das Umland zu zersiedeln. Eine weitere Implikation ist ökonomischer und sozialer Natur. In einem antisozialen Szenario schwindender Verteilungsgerechtigkeit kann man sich nämlich auch vorstellen, dass anstelle des Teilens ein Regime des Trennens das Bild der zukünftigen Stadt bestimmt. Die reichen Bezirke würden zu Gated Communities, in denen die Wohnungsgröße wächst und die Bebauungsdichte abnimmt, um das Ensemble großzügiger und ästhetischer wirken zu lassen. Der Rest würde zum Slum verkommen, dort wären Einheimische und Fremde gleichge stellt. Innerstädtische Mauerbauten nach altem Berliner Vorbild, kombiniert mit Luxusimmobilien im Oligarchenstil hätten dann Konjunktur. Blade Runner wäre in der Gegenwart angekommen. Die aktuelle Debatte über die Verteilung von Menschen im Raum wird von der Architektur mit alternativen Bau- und Nutzungsvorschlägen vorangetrieben. Parallel dazu zeigt die „smarte“ Technik mit innovativer Software und automatisierten Maschinen die Organisierbarkeit höchster Verdichtung im Ballungsraum auf ökologisch erwünschte Art. Doch der Begriff „sharing“ ist schillernd. Ob man das Eigene teilen will oder muss, wird unterschiedlich empfunden. Vielleicht ist ja gar nicht die Verteilung von Menschen im Raum, sondern die Verteilung von Geld unter Menschen das einzige wahre Problem. Dann wären die imaginierten Raumnöte samt ihren Lösungsvorschlägen nur Projektionen der ökonomischen Ungleichheit in die dritte Dimension. Angesichts der erwarteten Einwanderung ist die alte Debatte um das Recht auf Privateigentum neu entflammt. Ist es noch legitim, ein Haus oder eine Wohnung zu besitzen, die man nicht oder nicht ständig benutzt? Darf man noch Auto fahren, ohne jemanden mitzunehmen? Soll der Staat Leerstand enteignen dürfen, um Flüchtlinge unterzubringen? Wie sieht es mit unbewohnten Zimmern aus – ist zwangsweise Einquartierung in große Miet- und Eigentumswohnungen moralisch und politisch geboten? Eigentum ist das Recht, andere Menschen vom Gebrauch einer Sache auszuschließen. Im Privatrecht manifestiert es sich technisch und baulich in Form von Hausmauern, Türen, Schlössern und Gartenzäunen. Im öffentlichen Recht findet sich die Hausherrschaft metaphorisch ins Kollektive projiziert. Der Nationalstaat beruht auf Staatsgrenzen, dem Staatsvolk und dessen demokratischer Selbstherrschaft. Das Volk wird verwandtschaftlich analog zur Familie imaginiert, das Ter ritorium als Haus und Garten im Privateigentum der souveränen Ausschließungsgemeinschaft. Grenzzäune, Schranken und Kontrolleinrichtungen manifestieren technisch und baulich den aus der Idee des Privateigentums konzipierten Staat. Sobald die kollektive Grenze geöffnet ist, verschiebt sich deren Ausschließungsfunktion auf die private des Eigentums. Mit der Frage, ob und wie viel man teilen will, ist heute jeder Einzelne konfrontiert. Sie lässt sich nicht mehr an den Staat delegieren und verdrängen. Wie viel Raum steht einem Menschen zu? Mehr, hätte man noch vor Kurzem gesagt. Doch die europäische Kultur hat den Verzicht auf ihre Fahnen geschrieben. Sie stellt infrage, wie weit der Mensch überhaupt ein Recht dazu hat, auf diesem Planeten zu leben und dessen Ressourcen zu verbrauchen. Das Paradigma der Konsumgesellschaft, stets nach dem Mehr zu streben, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Wir wollen weniger. Weniger heizen, in die Ferne reisen, Fleisch essen, Auto fahren, Cola trinken und sonstwie unmoralisch sein. Die Frage nach dem Raumbedarf ist in diesem kulturellen Kontext verortet. Wir wollen es enger, lautet die Antwort unserer Zeit. Ob es sich bei dieser Antwort um eine moralische Evolution oder um eine dekadente Hybris gehandelt hat, wissen wir frühestens in fünfzig Jahren. N 12 | 13 Räume für Menschen

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Schluss mit „hätti-tati-wari“ | Eine neue Kultur in der Raumplanung ist gefragt Der PlanerInnentag 2016 erging sich nicht in den üblichen Wünschen an Politiker/innen, Investor/innen und Bürger/innen, sondern fragte, was die Raumplanung selbst ändern muss, um wirksamer zu sein. Reinhard Seiß ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Dass es der heimischen Raumplanung an Durchsetzungskraft fehlt, offenbart sich landauf, landab. Freilich wäre manches anders, wenn die Akteur/ innen der Siedlungsentwicklung das berücksichtigen würden, was die Planer/innen seit Jahrzehnten empfehlen. Doch hat dieses Lamento noch nie etwas zum Besseren gewendet – im Gegenteil: So lange die Raumplanung in ihrer Rolle als Stiefkind von Politik und Gesellschaft verharrt, nimmt sie sich die Chance, aus eigener Kraft effektiver zu werden. Daher blickten die Bundesfachgruppe Raumplanung, Landschaftsplanung und Geographie der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten sowie die Kammer der ZiviltechnikerInnen für Steiermark und Kärnten an ihrem diesjährigen PlanerInnentag in Leoben zunächst einmal über die Grenzen des Landes sowie ihrer Disziplin, um neue Impulse für das Selbstverständnis wie auch für die eingeübten Strategien der eigenen Zunft zu bekommen. Virna Bussadori entlarvte in ihrem Referat die Vorgaben in den österreichischen Landesraumordnungsgesetzen zur Bürgerbeteiligung als fadenscheinig. Die Bevölkerung werde viel zu spät eingebunden, nämlich nachdem gewisse Entscheidungen schon getroffen wurden, und habe keinerlei Anspruch darauf, dass ihre Wünsche und Einwände Berücksichtigung finden, so die Direktorin des Amts für Landesplanung der Autonomen Provinz Südtirol. Ergo handle es sich im Grunde auch um keine Partizipation, sondern um eine bloße Anhörung, um eine Teilhabe „ex post“. Dabei könne die Raumplanung ihrer Erfahrung nach von der Bevölkerung lernen. Denn wer kenne eine Stadt, eine Region besser als die, die sie bewohnen? Zudem werde die Gesellschaft auch in Planungsfragen zunehmend kompetenter. Beim Rostfest in Eisenerz werden Ort und Leerstände mit einem vielfältigen Programm bespielt. Von den Bürger/innen lernen Im selben Maße, wie sich die Bürger/innen ihrer Rechte und Rollen immer bewusster würden, forderten sie auch immer nachdrücklicher konkrete Qualitäten in ihrem Lebensraum ein: mehr Grün, weniger Lärm, bessere Infrastruktur – aber auch mehr Klarheit über Planungsabläufe und -entscheidungen. Daher müsse anstelle der bisher praktizierten reaktiven Beteiligung der Bevölkerung an Planungsprozessen in Form von möglichen Einsprüchen gegen bereits weit fortgeschrittene Planungen alsbald eine proaktive Einbindung der Bürger/innen erfolgen, und zwar von Anfang an. „Ich bin überzeugt, dass man heute ohne Partizipation keine gute Kommunal- oder Regionalentwicklung mehr zuwege bringt“, resümierte Bussadori in Leoben. „Man kann zwar auch ohne die Bevölkerung richtige Pläne machen, ihre Wirksamkeit wird in den meisten Fällen aber nicht sehr hoch sein.“ Ebenfalls, so die Bozner Landesplanerin, habe man in Südtirol erkannt, dass die meisten Probleme der Gemeinden nicht zu lösen sind, wenn diese nur für sich selbst planen. Daher gingen immer mehr Kommunen, wie beispielsweise die drei Gemeinden des Grödnertals, dazu über, tatsächlich eine gemeinsame Regionalentwicklung zu betreiben. Auf diesem Weg sind hierzulande bereits auch die meisten steirischen Städte und Gemeinden. So sprach Leobens Bürgermeister Kurt Wallner am Planer- Innentag ganz selbstverständlich von der „obersteirischen Stadtregion“, die sich von Trofaiach über Leoben, Bruck an der Mur und Kapfenberg bis Kindberg erstreckt, als er die Wichtigkeit eines leistungsfähigen schienengebundenen Verkehrs für die Vitalität von Ballungsräumen betonte. So wie die Frequenzsteigerung der S-Bahn in der Süd-, Ostund Weststeiermark zu einer Stabilisierung der Bevölkerungszahlen in diesen Regionen beigetragen habe, brauche es einen ähnlich attraktiven Taktverkehr auch für das Prosperieren der Obersteiermark. Verkehrspolitischer und soziologischer Zugang Wie sehr diese Region nach wie vor unter dem wirtschaftlichen Strukturwandel leidet, zeigte der Grazer Soziologe Rainer Rosegger in seinem Vortrag – wobei er die Ausdünnung des Siedlungsraums, insbesondere der Ortszentren, in Zusammenhang stellte mit dem Schwinden des gesellschaftlichen Zusammenhalts, dem Auseinanderdriften der Generationen, ja der Fragmentierung in einzelne Milieus. Genauso könne es aber gelingen, durch räumliche Verdichtung die Gemeinschaft in den Orten wieder zu stärken, wie er dies am Beispiel Eisenerz veranschaulichte. Dafür brauche es neben planerischen Ideen und dem Engagement der Bürger/innen allerdings auch finanzielle Unterstützung – seien es Förderungen für sozialen Wohnbau als Leerstandsnutzung in den Zentren, seien es Mittel zum Ankauf Schluss mit „hätti-tati-wari“

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und zur Entwicklung von brachliegenden „Schlüsselobjekten“, wie es sie heute in fast jeder österreichischen Gemeinde gibt. Freiburg im Breisgau, Stadtteil Rieselfeld: Nutzungsmix in einer kleinparzelligen, heterogenen Struktur Ein zweiter Erfahrungsbericht aus dem Ausland präsentierte ein städtebauliches Großvorhaben, das seit zwei Jahrzehnten modellhafte Ergebnisse durch neue planerische Ansätze hervorbringt. „Wir wollten einen urbanen Stadtteil mit entsprechender Dichte durch überwiegend fünfgeschoßige Bebauung, ohne Trennung von Wohnen und Arbeiten, mit dezentraler Nahversorgung, vollständiger öffentlicher Infrastruktur, hochwertigen Freiräumen für eine gemeinschaftliche Nutzung, mit sanfter Mobilität und energetischer Effizienz – und das alles für eine heterogene Bevölkerung“, umriss Klaus Siegl die Ziele von Anfang der 1990er-Jahre für das stadteigene Entwicklungsgebiet Rieselfeld im Westen von Freiburg im Breisgau, „wobei zu Beginn ganz unterschiedliche politische Visionen für die Stadterweiterung bestanden hatten“. Siegl war von 1992 bis 2010 Leiter der ämter- und dezernatsübergreifenden Projektgruppe zur Planung und Realisierung des 70 Hektar großen Neubauviertels mit 4200 Wohnungen und 1000 Arbeitsplätzen. Noch Ende der 1980er-Jahre litt das heute 230.000 Einwohner/innen zählende Zentrum von Südbaden unter der Abwanderung junger Familien ins Umland, verursacht durch fehlende leistbare Wohnungen in Freiburg. Mit der Folge, dass die Stadt nicht nur Steuerzahler/innen und Konsument/ innen verlor, sondern durch die zusätzlichen Einpendler/innen mit wachsender Verkehrs- und Umweltbelastung konfrontiert war. „Daher versuchten wir, mit dem neuen Quartier einen Teil dieser Menschen wieder nach Freiburg zurückzuholen“, erzählte der heute pensionierte Planer. Was geradezu illusorisch klingt, ist 20 Jahre nach dem Erstbezug am Rieselfeld wahr geworden: Ein Viertel der 10.000 Bewohner/innen des Stadtteils ist aus dem suburbanen Umland wieder ins Zentrum zurückgezogen und hat das Einfamilienhaus mit Doppelgarage im Grünen gegen eine Stadtwohnung mit Straßenbahnanschluss getauscht – was wohl das untrüglichste Zeichen für die hohe Lebensqualität am Rieselfeld ist. Von der Planung für Betroffene zum Management von Akteur/innen Hinter dieser Qualität stehen zum einen eine modellhafte Stadtteilplanung und, was Siegl für viel wesentlicher hält, ein dauerhaftes Stadtteilmanagement – sowie zum anderen ein permanenter Informations-, Diskussions-, Bewusstseinsbildungs- und Beteiligungsprozess: mit sämtlichen politischen Parteien, mit allen involvierten Behörden, mit den Investoren und Bauträgern sowie natürlich auch mit den Bewohner/innen. So führte das Freiburger Stadtplanungsamt schon im Vorfeld eine Fragebogenaktion durch, bei der die Bevölkerung ihre Wünsche für den neuen Stadtteil kundtun konnte. Der Oberbürgermeister berief einen regelmäßig tagenden Bürgerrat mit Vertreter/innen aller relevanten Gruppen der Stadt ein. Und nicht zuletzt bildeten Abgeordnete sämtlicher Fraktionen im Freiburger Gemeinderat ein Gremium, das alle paar Monate – und über die Jahre insgesamt 70 Mal – ausschließlich wegen des Rieselfelds zusammentraf. „Dabei achteten wir darauf, dass die Gemeinderäte zunächst einmal nur informiert wurden und diskutierten und erst etwas beschlossen, nachdem sie den Entwicklungsprozess tatsächlich verstehen konnten“, betonte Klaus Siegl die Wichtigkeit, politische Entscheidungen von parteipolitischen Interessen loszulösen und auf sachliche Argumente zu gründen. „Von insgesamt 100 Vorlagen, die ich in 18 Jahren zum Rieselfeld in den Gemeinderat eingebracht habe, sind 98 einstimmig angenommen worden.“ Freilich waren nicht alle Akteur/innen von Anfang an gewillt, von den herkömmlichen Strategien der Stadtentwicklung abzugehen. „Auch Freiburger Investoren wollen entweder Wohnoder aber Büro- und Gewerbebauten realisieren, und das in möglichst großen Einheiten“, stellte Klaus Siegl klar. Demgegenüber stand der planerische Anspruch, eine kleinteilige Struktur mit möglichst unterschiedlichen Funktionen zu schaffen: Die Parzellen am Rieselfeld haben Breiten von 16 bis 24 Metern, kaum ein Wohnbau hat mehr als 40, 50 Wohnungen – und kein Baublock ist von nur einer Nutzung bestimmt. „Wir fragten jeden Investor, was er bauen wolle, und schlugen ihm dann vor, wo sein Projekt am besten hinpasse“, verriet Siegl einen weiteren Grund für die erstaunlich hohe Urbanität im Neubauviertel – und gab damit zudem ein passendes Beispiel dafür, was der Raumplaner Kurt Puchinger, von 2006 bis 2012 Planungsdirektor von Wien, in seinem Referat als zeitgemäße Planung postulierte: nämlich durch öffentliche Maßnahmen private Investitionen, also Projekte, dorthin zu lenken, wo sie am meisten zur Erreichung urbanistischer Ziele beitragen. Lernende Planung, kommunizierende Planung So steht heute am Rieselfeld beispielsweise eine Krankenpflegeschule zwischen einem sozialen Mietwohnungsbau und einem von über 90 Baugrup- 14 | 15 302 Schluss mit „hätti-tati-wari“

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penhäusern. Und in den Blockinnenbereichen gibt es ausschließlich zusammenhängende Grünräume, die für alle nutzbar sind. Durch die Suche nach dem jeweils passenden Projekt vergingen bei manchen Baublöcken vom ersten bis zum letzten Gebäude gut und gern zehn Jahre – was der Qualität des Ganzen aber nur zuträglich war: „Stadt ist ja ein Organismus, der sich entwickeln können und bei dem auch immer wieder etwas verändert werden muss. Mit dieser Strategie der kleinen Schritte konnten wir auf unsere Erfahrungen in jedem einzelnen Baublock reagieren“, beschrieb Klaus Siegl das Freiburger Prinzip der „lernenden Planung“. Der zweite Teil des PlanerInnentags wurde als „World Café“ gestaltet, bei dem freie Planer/innen, Planungsbeamt/innen, Planungspolitiker/innen wie auch Planungswissenschaftler/innen einander mit ihren wechselseitigen Wünschen und Erwartungen konfrontierten. Kritisiert wurde dabei unter anderem die Fragmentierung der Planung: Es gäbe immer mehr Instrumente wie Stadtentwicklungspläne, Stadtmarketingkonzepte, Gestaltungsrichtlinien etc., die Gesamtsicht auf eine Kommune gehe aber zunehmend verloren – und damit auch die Verantwortung für das große Ganze. Schwindende Verantwortung wurde auch als Mitgrund für die zunehmende Verrechtlichung der Landesplanung attestiert: Die Raumordnung in den Ländern werde immer mehr zur juristischen denn zur planerischen Materie – was einer von Klaus Siegl propagierten lernenden Planung diametral entgegenstehe. Das wichtigste Anliegen der Teilnehmer/innen des PlanerInnentags war allerdings eine neue Gesprächskultur innerhalb der Fachwelt: Die Kommunikation zwischen Kolleg/innen aus Planungspraxis und Planungsverwaltung habe sich in den letzten Jahren in vielen Bundesländern verschlechtert. In inhaltlichen Fragen offen miteinander zu diskutieren und sich gegenseitig den Rücken zu stärken, anstatt sich aufeinander auszureden, wurde von vielen vermisst – und sollte, etwa nach dem Beispiel der dreimal pro Jahr stattfindenden „Austauschrunden“ in Niederösterreich, im Sinne aller wieder zur Regel werden. Der PlanerInnentag 2016 wurde unterstützt von der Abteilung Umwelt und Raumordnung des Landes Steiermark sowie der Stadt Leoben. Die Vorträge und Diskussionen der Veranstaltung finden sich unter www.arching.at/planerinnentag. N the next ENTERprise: UN/COMMON SPACE – UN/DEFINED LIVING Möbelierung mit „Raum-im- Raum”-Modulen, Grundriss Schluss mit „hätti-tati-wari“

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Stabile Raumgerüste | Der Wandel als baukulturelle Chance Landschaftsarchitektur ist eine Disziplin mit gesellschaftlichem und kulturellem Auftrag. Sie kann Stadträume organisieren und urbane Prozesse steuern. Landschaftsarchitektinnen und -architekten kommt dadurch in Stadträumen eine erhebliche soziale Verantwortung zu. Diese kann jedoch im Zeitalter des globalen und kulturellen Wandels nur dann überzeugend eingelöst werden, wenn Veränderungen als Chance für eine landschaftsarchitektonische und baukulturelle Weiterentwicklung genutzt werden. Stephanie Drlik ist Landschaftsarchitektin, Gründerin des Büros la propos (www.lapropos. at) und ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität für Bodenkultur. Unsere Welt verändert sich. Das war wohl immer so, doch im globalen Wandel des 20. und 21. Jahrhunderts sind zwei Faktoren neu. Noch nie sind Veränderungen so rasch abgelaufen wie jetzt und noch nie war der Einfluss des Menschen als manipulative Größe im ökologischen, sozio-kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Weltsystem derart umfangreich und irreversibel. Das macht ihn zum Hauptverursacher zahlreicher aktuell auftretender, eigendynamisch ablaufender Entwicklungen, die zum Teil bereits unabwendbar und unumkehrbar geworden sind. So wird der Mensch auch zum Betroffenen der selbst verursachten Veränderungen, die sich global auf einer abstrakten Makroebene, regional und lokal jedoch sehr real spürbar und nicht immer vorteilhaft auf unser aller Leben auswirken. Die Ursachen dieser Phänomene sind ebenso wie ihre Wirkweisen unermesslich komplex, sie stehen in engem Zusammenhang und beeinflussen sich zu einem erheblichen Teil gegenseitig. In diesem globalen Wandel beschäftigen uns So vermerken wir diverse Umweltveränderungen, allen voran der etwa einen Anstieg der globalen anthropogen verursachte Klimawandel und Durchschnittstemperatur oder die seine Auswirkungen. Zunahme extremer Wetterereignisse. Aber auch demografische Veränderungen stellen uns derzeit vor neue Herausforderungen. In westlichen Ländern werden sie durch innergesellschaftliche Trends verursacht, etwa Wachstums-, Schrumpfungs- oder Überalterungstendenzen, und durch einen stetig vollzogenen kulturellen Wandel. Dieser zeigt sich in hoch entwickelten Ländern etwa durch neue Lebens- und Erwerbsmodelle, geänderte Wohnformen oder durch partizipative, emanzipatorische Demokratieentwicklungen. Bevölkerungsstrukturen westlicher Länder können sich jedoch auch durch humanitäre Krisen externer Gesellschaftssysteme ändern. So lösen Kriege, klimabedingte Extremsituationen oder Hungersnöte großräumliche Bevölkerungsbewegungen und Migrationsströme aus, wie wir es derzeit in Europa erleben. Derartige soziale und ökologische Entwicklungen werden durch ein weiteres globales Phänomen beeinflusst: die stetig voranschreitende Urbanisierung der Welt. In wachsenden Stadträumen liegt besonderes Potenzial zur Generierung ökologischer oder soziodemografischer Transformationen. Die Stadt wird zum Mitverursacher und Katalysator von globalen Veränderungstrends mit positiv oder negativ wahrgenommenen regionalen, nationalen und globalen Auswirkungen. In Groß- und Megastrukturen wirken bereits minimalste Verschiebungen oftmals stark, unvorhersehbar und eigendynamisch. Doch in diesen urbanen Vorgängen ruht eine Chance: Der Mensch als Verursacher ist in einer aktiven, einflussnehmenden Position. Wie sich Veränderungstrends auswirken, ob sie Schaden anrichten oder wir sie positiv nutzen können, liegt in unserer Hand. Es hat sich gezeigt, dass gerade in den urbanisierten Lebenswelten grundsätzliche Lösungen für entwicklungsbedingte Probleme unserer Zeit zu finden sind. Lösungen zur Ursachenreduzierung ebenso wie Lösungen zur Anpassung. So birgt der jetzt noch bedrohlich einwirkende Wandel auch Chancen für grundlegende Verbesserungen des Lebens in der Stadt. Lebensräume formen die Stadt Unsere überwiegend urbanen Lebensräume im 21. Jahrhundert sollen also Lösungen für entwicklungsbedingte Probleme bereitstellen und so konzipiert sein, dass sie dem veränderlichen Zeitalter des globalen Wandels standhalten. Das erfordert Strategien, die den komplexen Anforderungen ebenso vielschichtige Lösungsansätze anbie - ten. Es gilt, statische Strukturen durch anpassungsfähige, dynamische Systeme zu ersetzen. Systeme, die stabilisierend und dennoch flexibel genug sind, um mit veränderlichen Prozessen zu wachsen. Doch was können Flexibilität und Adaptivität für den freiräumlichen Lebensraum Stadt vor dem Hintergrund des globalen Wandels bedeuten? Lebenswerte Städte basieren auf übergeordneten Raumstrukturen, innerhalb dieser sich ökologische, soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Systeme etablieren. Im globalen Wandel kommt nun hinzu, dass diese Raumstrukturen in relativ kurzen Zeitzyklen auf spontan auftretende Trends und auf dauerhaftere Änderungen reagieren müssen. Der Lebensraum Stadt bleibt daher nur dann nachhaltig und zukunftsfähig, wenn er stabile Raumstrukturen bereitstellt, die stärker als bisher Veränderungs-, Adaptierungs- und Aneignungsprozesse ermöglichen und temporäre, provisorische Interventionen zulassen. In diesem Zusammenhang erhebt eine seit den 1990er-Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnende Bewegung die Landschaft – oder anders gesagt den Freiraum – zur geeignetsten Dimension, um solche stabilen und dennoch flexiblen Raumgerüste zu schaffen. Die Theorien des „landscape urbanism“ erklären großräumliche, vernetzte und anschlussfähige Freiraumstrukturen zur sinnvollsten Methode, um Städte nachhaltig zu orga- 16 | 17 302 Stabile Raumgerüste

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Caramel Architekten: HOME MADE Da das Notquartier in der Büroimmobilie im 15. Bezirk zunächst nur für vier Monate vorgesehen war, galt es für die Caramel Architekten, schnell und extrem kostengünstig zu agieren. Sie entwickelten ein System von textilen Elementen, das innerhalb weniger Wochen und in Zusammenarbeit mit den Bewohner/innen installiert werden konnte und nun den Menschen ein Minimum an Privatheit und Häuslichkeit in den nüchternen Großraumbüros bietet. Stabile Raumgerüste

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18 | 19 302 Räume Stabile für Raumgerüste Menschen

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nisieren. Die Landschaft soll dabei keinen Antipol zur Stadt darstellen, ganz im Gegenteil: Nur dort, wo Landschaft und Stadt eng ineinandergreifen, vielleicht sogar zu neuen Hybridtypologien verschmelzen, können hochwertige Lebensräume entstehen. Die Landschaft wird zum räumlich oper ativen, organischen System, in dem sich urbanes Leben entwickeln und an dem die Stadt wachsen kann. Der urbane Raum wird weniger von Architektur und Infrastruktur geformt als von ganzheitlichen Lebensräumen und den Bedürfnissen des Lebens. In diesem neuen Verständnis von Stadtplanung wird die Landschaft, der Freiraum, zur neuen Dimension des Urbanismus und Landschaftsarchitektinnen und -architekten, ausgestattet mit einem Rüstzeug an neuen Praktiken, werden zu den Stadtplanerinnen und -planern unserer Zeit. Hochbeetproduktion reicht nicht Landschaftsarchitektur ist eine Disziplin mit gesellschaftlichem und kulturellem Auftrag. Sie organisiert Stadträume und steuert urbane Prozesse. Der globale und kulturelle Wandel ändert auch die Rahmenbedingungen, in denen wir Freiräume planen. Die Bedürfnisse der Menschen, die bis vor einigen Jahren für die Freiraumproduktion handlungsleitend waren, haben in ihrer gewohnten Form heute keine Gültigkeit mehr. Der öffentliche Freiraum wird zunehmend zum Sozialraum, der allen Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung steht und eine wichtige Plattform des städtischen öffentlichen Lebens darstellt. Veränderungen der Umwelt, der Bevölkerungsstruktur, der Lebens-, Arbeits- und Wohn- tektinnen und Landschaftsarchi- weisen müssen sich daher auch im öffentlichen -architekten kommt in diesem Freiraum widerspiegeln. Zusammenhang eine erhebliche Verantwortung zu, die jedoch im Zeitalter des Wandels nur dann überzeugend eingelöst werden kann, wenn Veränderungen mit einem disziplinären, ja vielleicht sogar mit einem grundlegenden baukulturellen Umdenken einhergehen. Bei Umweltveränderungen scheint die Dringlichkeit für proaktive Mitigations- und reaktive Adaptionsmaßnahmen deutlich. So haben wir auf Phänomene wie etwa Klimaveränderungen, städtische Hitzeinseln oder den exzessiven Ressourcenverbrauch bereits zahlreiche ökologische, stadträumliche und planerische Antworten gefunden. Doch wie auf den gerade stattfindenden demografischen und kulturellen Wandel freiraumplanerisch reagiert werden kann, wurde bislang nur wenig oder zu eindimensional thematisiert. Eines steht jedoch fest: Der zurzeit allerorts im Einsatz befindliche Gemeinschaftsgarten mit Hochbeetproduktion kann nicht als einzige Lösung der Landschaftsarchitektur auf alle dringlichen Fragen des Wandels antworten. Wir benötigen inter- und transdisziplinäre Freiraumstrategien und visionäre Objekt- planungen, um den großen Herausforderungen unserer Zeit in der Stadt gerecht zu werden. Und wir brauchen Auftraggeber und Auftraggeberinnen, die solche Visionen fördern und finanziell er möglichen. Die veränderliche Situation im Umbruch macht die Flexibilität zur nachhaltigen Planungskomponente. Flexibilität kann in einem stabilen, übergeordneten Freiraumsystem durch das Schaffen von Möglichkeitsräumen entstehen. Diese produzieren keine festgeschriebenen Bilder, sondern lassen, je nach Erfordernis, Lebens- und Nutzungsvielfalt durch Anpassbarkeit und Aneignungsspielraum zu. Das urbane Freiraumsystem wird so zum Raum für Vorhersehbares ebenso wie für Unvorhersehbares. Dafür müssen wir uns jedoch von oktroyierten Normen und Regeln sowie von dem Bild der urbanen Landschaft als romantisches, rural anmutendes Idealbild einer ungestörten Natur verabschieden. Die Landschaft der Stadt wird zum hybriden Freiraumsystem, das nicht unweigerlich grün sein muss. Neuartige Raumtypologien mit überarbeiteten Öffentlichkeitssphären ergänzen traditionelle und etablierte Formen und schaffen vielschich tige, widerstandsfähige Lebensräume. Die baukulturelle Kraft einer Zukunftsdisziplin Die Entwicklung solch hybrider Freiraumsysteme verlangt selbstverständlich nach einer umfassenden, ganzheitlichen Herangehensweise, da unüberschaubar komplexe Aspekte und Wirkweisen mitgedacht werden müssen. Kooperativ, interdisziplinär und beteiligend arbeitende Kollektive sollten Prozesse langfristig begleiten: Von der stadträumlichen Konzeption über die objektplanerische Entwicklung bis weit über die Produktionsphase hinaus. Schon jetzt nehmen Landschaftsarchitektinnen und -architekten in disziplinübergreifenden und bürgerbeteiligenden Prozessen eine Vorreiterrolle ein. Diese Kompetenz gilt es auszubauen. Die Landschaftsarchitektur, ein vergleichsweise junges Fach, war lange Zeit damit beschäftigt, sich zu finden, Theorie und Praxis zu entwickeln und sich erfolgreich zu etablieren. Gerade jetzt, im Umbruch, besteht enormer Bedarf für die planende und gestaltende, interdisziplinäre, ökologische und soziale Kompetenz dieser naturwissenschaftlich-technischen Zukunftsdisziplin. Zur Schaffung hochwertiger, urbaner Lebensräume sollten die Veränderungen als Chance für eine disziplinäre Weiterentwicklung genutzt werden. Der Freiraum einer Stadt ist das Ergebnis kultureller Produktion, Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung. Im globalen und kulturellen Wandel, da der Mensch zur bestimmenden Kraft geworden ist, sollte die Landschaftsarchitektur ihre kulturelle Verantwortung wahrnehmen und im Sinne der urbanen Nachhaltigkeit zu einer ebenso bestimmenden Kraft im baukulturellen Geschehen Österreichs werden. N Stabile Raumgerüste

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Stadt? Land! Fluss | Die Antwort ist multilokal Christian Fröhlich war zuletzt Gastprofessor an der Kunstuni Linz und Senior Scientist an der Akademie der bildenden Künste Wien. Er betreibt zusammen mit Johanna Digruber das Studio HARDDECoR ARCHITEKTUR. Ihr Portfolio umfasst Architektur, Kunst und Medien. Das aktuelle Projekt „Das Haus ist vergangen“ ist für die Shortlist des Superscape 2016 Award nominiert. http://harddecor.at un habitat (Hg.): State of the World’s Cities 2010/2011. Nairobi, United Nations Human Settlements Programme 2007. S. 12 https://www.zukunftsinstitut.de/ artikel/urbanisierungdie-stadt-von-morgen/ http://www.iconeye. com/architecture/ features/item/11031- rem-koolhaas-in-thecountry https://www.zukunftsinstitut.de/ artikel/urbanisierungdie-stadt-von-morgen/ http://harddecor.at/ work/dein-dorfplatzbesteht-aus-siebenszenarien/ http://harddecor.at/ work/das-tote-haus/ aus: Twin Peaks, tv-Serie, usa, 1990 – 1991, Mark Frost and David Lynch Subjektive Narration des Intros zu Twin Peaks Wo sollen wir leben? In der Stadt. Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt bereits in Städten – im Jahr 2050 werden es aller Voraussicht nach drei Viertel sein. 1 Flächenmäßig bedecken Städte aber lediglich 2 Prozent der Erdoberfläche. Dabei verbrauchen sie aber 75 Prozent der weltweit benötigten Energie und produzieren 80 Prozent aller Treibhausgase. Also auf dem Land. Warum sollten wir unser Augenmerk immer nur auf die urbanen (weißen) Flächen richten, die geografisch gesehen einen sehr kleinen Teil unserer Welt ausmachen? Außerdem wissen wir seit Koolhaas, dass Veränderungen auf dem Land viel schneller passieren als in den meisten Städten und dass Landschaft kein unberührter Naturraum mehr ist. 3 Aber was hat sich eigentlich wirklich verändert? Während noch in den 1970er- Jahren die Vororte und das Leben auf dem Land als Wohnideal galten, konnten sich seither die Städte mehr und mehr von ihrem alten Image des verdreckten, hektischen und lärmenden Molochs lösen. 4 Gleichzeitig haben sich manche Klischees wie „Wofür steht die Stadt?“ und „Was sind die Vorzüge des Lebens auf dem Land?“ geradezu umgekehrt. Stadt oder Land – alles ist im Fluss. Hier ein Erklärungsversuch in zehn Episoden. Anm.: Die folgenden Beispiele beruhen auf persönlichen Beobachtungen auf dem (österreichischen) Land und beschreiben den Handlungsspielraum, den man als Gestalter/in vorfindet – oder eben nicht vorfindet, wenn man sich für eine menschengerechte, lebenswerte Umgebung engagiert. Die Geschehnisse spielen weder in Lahnenberg und Braunschlag noch Dogville oder Twin Peaks, auch wenn sich der Autor herzlich bei Felix Mitterer, David Schalko, Lars von Trier und David Lynch für die fiktive Inspiration bedankt. Episode 1: Die Gemeinschaftslüge „Unsere Kinder sollen gut behütet mit guter Luft und in gesunder Atmosphäre aufwachsen.“ So lautete einst die Argumentationskette, warum wir auf dem Land leben sollten. Neben den klimatischen Vorzügen war damit vor allem die ausgeprägtere soziale Interaktion innerhalb einer Dorf- und Siedlungsgemeinschaft gemeint. Die Kinder treffen sich alle nach der Schule auf dem Spielplatz im Dorfzentrum. Und wie stellt sich das heute dar? Da gilt das beschriebene Szenario eher für die urbanen Grätzel der Stadt, in denen der öffentliche Raum rückerobert wurde. Auf dem Land leben die Familien in ihren Einfamilienhäusern mit Eigengarten und adäquater repetitiver Spielgeräteausstattung, die zum Status gehört. Somit gibt es pro „Kirchengasse“ fünf Hupfburgen, drei Schaukeln und vier Rutschen, aber keinen Bedarf für einen öffentlichen Spielplatz – wären da nicht die Flüchtlingskinder. Episode 2: Dein Dorfplatz besteht aus sieben Szenarien. 5 Wie geht man also als Gestalter/in auf dem Land mit dem oben beschriebenen Phänomen, das natürlich auch für die Erwachsenenwelt gilt, um? Man beobachtet für einen Ort typische Situationen und macht Notationen, wie „der Bach, der kreuzt“ und „der Weg, der teilt“ – und entwickelt ein Programm aus Szenarien für repräsentative Dorfbewohner/innen wie die Gärtnerin, das Mädchen auf der Schaukel, den Genießer. Damit richtet man sich in einem offenen Brief an die Dorfgemeinschaft: (Auszug) „Dein neuer Dorfplatz besteht aus sieben Szenarien. Wenn du beim Eingang stehst, merkst du gleich: Die Brücke über den kleinen Fluss ist jetzt viel breiter und hat kein Geländer mehr, da auch der Bach jetzt viel höher liegt. Das scheint uns angemessen, da dieser unserem Ort immerhin seinen Namen gibt. Wenn du ein Genießer bist, kannst du dich also gleich auf diese neue Plattform setzen und deine Füße ins Wasser stecken, aber bitte pass ein bisschen auf die Seerosen auf. Die hat unsere Gärtnerin neu gesetzt. ( … )“ Episode 3: Das Tote Haus Das Tote Haus 6 steht stellvertretend als Platzhalter für eine unangenehme Haustypologie, die uns zusehends beschäftigt: der Leerstand. Alle Vorschläge, dem Toten Haus wieder Leben einzuhauchen, verstehen sich daher eher als Initialzündung denn als maßgeschneidertes Renovierungskonzept. Tote Häuser gibt es schließlich in jeder einzelnen Gemeinde. Das Tote Haus war das „erste Haus“ im Dorf. Was kann man als Planer/in ungefragt und ohne Mandat machen, wenn einem das auffällt? Man belegt die Bedeutung des Hauses für den Ort, indem man auf Lage, Proportion und Typologie hinweist. Und: Man untersucht, mit welch geringem Einsatz von Mitteln das Tote Haus wieder lebendig wäre und welche kurzfristigen Bespielungen den Dorfkreislauf anregen könnten. Der Gemeinderat hört aufmerksam zu und stellt es gleich einem Investor vor. Dieser hat gleich zugesagt – unter einer Bedingung: Er wünscht keine Einmischung, wenn er seinen Neubau nach Tiroler Vorbild – also Betonhaus, rundum mit Holzschindeln verkleidet – umsetzt. Die Folge war die Ermordung des Toten Hauses. Es war ein schneller Tod. Episode 4: Die Eulen sind nicht, was sie scheinen. Douglastannen links und rechts der Bundesstraße. Nur ein kleiner Vogel, ein Buschzaunkönig, schaut zu, wie die Kreissäge des lokalen Sägewerks langsam, aber notorisch Bäume in Stapelholz verwandelt. Ehrliche Maschinenarbeit in dörflicher Idylle. Doch Vorsicht: „Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.“ 7 Nahe dem Fluss findet sich ein lebloser Frauenkörper, eingehüllt in Plastik. Es ist Mord. 8 20 | 21 302 Stadt? Land! Fluss

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Der materielle Aufwand, um die Wohnatmosphäre bedeutend zu verbessern, ist gering: 50 Euro betragen die Kosten für ein „Home made“-Set, das für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden kann. Stadt? Land! Fluss

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Nach dem gleichen Prinzip wurden Gemeinschaftsräume eingerichtet, z. B. eine Küche, in der gemeinschaftlich im Haus gekocht wird. 22 | 23 302 Stadt? Land! Fluss

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http://harddecor.at/ work/das-gelbe-haus/ https://de.wikipedia. org/wiki/Marc-Antoine_ Laugier#/media/File: Essai_sur_l%27Architec ture_-_Frontispiece.jpg http://harddecor.at/ work/das-haus-ist-nurein-dach/ http://harddecor.at/ work/stapelhaus/ Das Schlagwort leitet sich ab vom Titel des 1959 erschienenen Buches „Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos“ des Architekten Hans Bernhard Reichow. http://www.iconeye. com/architecture/ features/item/11031- rem-koolhaas-in-thecountry Episode 5: Das Gelbe Haus Das kleine Haus 9 liegt auf dem Dorfplatz und gehört dem Musikverein, der keine Verwendung mehr dafür hat. Und: Es liegt in der „Gelben Zone“, jener Gefahrenzone, die durch Hochwässer gefährdet ist. Nun sucht die Gemeinde nach einem Programm für ein nutzlos gewordenes Haus. Denn: Würde man es abreißen, dürfte man dort nie wieder etwas bauen. Damit ergibt sich ein interessanter Auftrag für Gestalter/innen: Schlage etwas vor, von dem wir bisher noch nicht gewusst haben, dass wir es brauchen, und überlege dir etwas, damit wir nicht Gefahr laufen, etwas zu verlieren, wofür wir momentan keinen Nutzen sehen. Episode 6: Das Haus ist nur ein Dach. Das Haus, das hat kein Dach. Die weibliche Figur zeigt dem Kind den wahren Ursprung der Baukunst, die „Urhütte“ aus Baumstämmen, die durch vier Rundhölzer verbunden sind und eine Art Dach tragen. Auch wenn die vitruvianische Urhütte, vor allem in der allegorische Darstellung von Charles Eisen in Laugiers „Essai sur l’architecture“ 10 das Dach als bestimmendes architektonisches Element zeigt, lösen nach unserer Erfahrung Dächer bei neuen Architekturen auf dem Land die größten Kontroversen aus. Manchmal muss man diese als Gestalter/in in ein Projekt hineinreklamieren und manchmal muss man sich rechtfertigen, weil man scheinbar auf sie vergessen hat. So gelang es uns, z. B. bei einem Infrastrukturprojekt die Bauherren davon zu überzeugen, dass sie kein neues Haus brauchen. Verkürzt erzählen wir immer an dieser Stelle: Sie fragten uns nach einem Haus, aber ein Haus bestand schon. Deshalb entwickelten wir ein Dach … 11 Andererseits verlangte ein zweites Projekt, aus dem gleichen Entstehungsjahr und nur ein paar Hundert Meter entfernt realisiert, ein monolithisches Haus, das einen Holzstapel des lokalen Sägewerks zitiert. Holzstapel haben nun mal nur eine schützende horizontale Abdeckung und kein Dach. 12 Was zur Folge hatte, dass unsere Hütte von da an als Haus, das kein Dach habe, kommuniziert wurde. Episode 7: Ich habe auch meine Ideen. Wenn Bürgermeister gestalten. Als Vorzüge von Planungsprozessen auf dem Land gelten kürzere Wege und wenige Entscheidungsträger. Der Bürgermeister ist manchmal auch Projektant und sein Vize ausführendes Organ. Das entspricht zwar nicht ganz der Gewaltentrennung, hilft aber, wenn man selber seine Ideen hat. Es soll ja in unserem Land auch Bürgermeister geben, die sich in Gestaltungsfragen gerne und unabhängig beraten lassen, dem Argument folgend: Es könne ja nicht so sein, dass sich das Dorf nach dem Geschmack des Bürgermeisters oder eines Investors entwickelt. Das ist nicht überall so. Episode 8: Der Tourismus hat immer recht. Wenn „was geht“, dann für den Tourismus. Fördermittel werden vorwiegend für touristische Projekte ausgeschüttet. Der Wert für die Allgemeinheit ist immer an den Index für den Tourismus gebunden. Will man der flüchtenden Landbevölkerung den öffentlichen Raum, der für die Tourist/innen reserviert scheint, zurückgeben, dann tut man das am besten versteckt. Denn wenn dann die Tourist/innen doch nicht in der selbstbewusst formulierten Anzahl kommen, nützen die Maßnahmen am Ende gar den ansässigen Bewohner/innen, die den Wert des wiedergewonnenen öffentlichen Raums vor lauter Eigengärten ja erst wieder entdecken müssen. Episode 9: Das autogerechte Land Die Idee einer „autogerechten Stadt“ 13 , die sich an den Bedürfnissen des motorisierten Individualverkehrs orientiert und damit das Auto zum Maß aller Dinge macht, gilt als überwunden. Auf dem Land ist das noch nicht ausgestanden. Anfänglich wundert man sich, dass großzügige Verbreiterungen von Fußgängerbrücken so leicht durchzusetzen sind, bis man merkt, dass damit eine Autobefahrbarkeit eintritt und freie Räume am Dorfplatz für Parkflächen rückerobert werden. Selber schuld. Gut gemeint, Planer/in! Aber schlecht aufgepasst. Episode 10: Oberflächenerscheinungen Werden also einfach alle Fehler, die in den Städten passiert sind, zeitversetzt analog auf dem Land wiederholt? Nein. Das Land ist heute einfach ein gut gepflegter Ort, wo Oberflächenerscheinungen – früher „die Fluren“ – kaum mehr Rückschlüsse erlauben, was auf/unter der Erde und in den Häusern geschieht. 14 Der große Walter Pichler, 2012 verstorben, Doyen im Grenzbereich von Skulptur und Architektur, selbst ernannter „Häuslbauer“ für seine eigenen Plastiken, ein früher multilokaler Bewohner – noch bevor der Begriff existierte – zwischen Wien und St. Martin im Burgenland, hat mir einmal erzählt: „Das Land brauche ich nicht. Ich schätze nur den vielen Platz …“ N Stadt? Land! Fluss

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Auf in den Weltraum! | Der Mensch als multiplanetare Spezies Wir Menschen sind eine merkwürdige Tierart. Wir haben weite Teile unseres Planeten besiedelt, wir haben Häuser in Wüsten gebaut und in kalten Polarregionen. Es gibt nur noch einen logischen nächsten Schritt für uns: den Aufbruch in den Weltraum. Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer und lebt in Wien. Er schreibt, erzählt und zeichnet Wissenschaftliches für die TU Wien, für futurezone.at und andere Medien. Lebensraum fern der Erde In den letzten Jahrzehnten verlief die Entwicklung schleppend. Der Weltraumenthusiasmus der 1960er-Jahre ist verflogen, seit der letzten Mondlandung im Jahr 1972 hat kein Mensch mehr einen Fuß auf einen fremden Himmelskörper gesetzt. Das soll sich aber in Zukunft wieder ändern. „Wir müssen eine interplanetare Spezies werden“, ist Elon Musk überzeugt. Mit seiner Firma SpaceX will er dazu beitragen, ein neues Kapitel in der Raumfahrtgeschichte aufzuschlagen. nasa-Chef Charles Bolden ist ähnlicher Meinung: In den 2030er-Jahren sollen erstmals Menschen den Mars betreten, die langfristige Vision einer dauerhaften Besiedlung fremder Himmelskörper lebt weiter. Je länger man aber fern der Erde unterwegs sein möchte, umso wichtiger wird es, die künstliche Umgebung für die Weltraumreisenden sicher, angenehm und lebenswert zu gestalten. Somit entstand ein ganz neues Forschungsgebiet – die Weltraumarchitektur. Wie konstruiert man ein Raumschiff, in dem mehrere Personen jahrelang friedlich zusammenleben können? Wie müsste eine Basis auf dem Mond oder dem Mars aussehen? Eine der Spezialistinnen, die sich wissenschaftlich mit diesem Thema beschäftigen, ist Sandra Häuplik- Meusburger von der tu Wien. Sie warnt davor, die Planung künftiger Raumfahrzeuge ausschließlich Ingenieuren und Ingenieurinnen zu überlassen: „Weltraumarchitektur ist interdisziplinär. Naturwissenschaft, Ingenieurwesen und Architektur sich die Schwere- Wie dramatisch müssen eng miteinander kooperieren.“ losigkeit auf den Alltag im Weltraum auswirkt, ist für Menschen, die ihr ganzes Leben auf der Erdoberfläche verbracht haben, schwer nachzuvollziehen. „Auf der Erde nehmen wir natürlicherweise eine aufrechte, entspannte Haltung ein. In der Schwerelosigkeit winkelt man ganz automatisch die Beine ab, der Kopf neigt sich zur Brust. Jede Körperhaltung, die von dieser embryoähnlichen Stellung abweicht, erfordert zusätzliche Muskelkraft“, weiß Sandra Häuplik-Meusburger. Manche Bewegungen sind in der Schwerelosigkeit einfacher als auf der Erde, andere sind schwieriger – so ist es zum Beispiel mühsamer, sich zu bücken, weil hier die Gravitation nicht mithilft. Design und Architektur werden dadurch maßgeblich beeinflusst. Wenn es kein oben und kein unten gibt, lassen sich Boden und Decke eines Moduls gleichermaßen als Arbeitsplätze nutzen – das wird teilweise auf der iss auch so gemacht. Die Geräte müssen auf die Schwerelosigkeit ausgelegt werden: Der Ro- boterarm des Spaceshuttles könnte auf der Erde nicht einmal sein eigenes Gewicht tragen. Im Weltraum hingegen leistet er wertvolle Dienste. Wohnqualität im All Entscheidend ist aber nicht nur die Technik, sondern auch das psychische und soziale Wohlergehen während der Weltraumreise. Privatsphäre und ruhige Rückzugsmöglichkeiten sind wichtig, speziell bei längeren Weltraumaufenthalten, aber für das Zusammenleben ist es auch entscheidend, Gemeinschaftsräume zu schaffen. Wie die Erfahrung zeigt, ist es für den Zusammenhalt in der Raumstation besonders wichtig, das Abendessen gemeinsam einzunehmen. Dafür muss auch genug Platz sein. Auch gutes Benehmen ist wichtig: Beim Essen wird penibel darauf geachtet, nicht über den Esstisch zu schweben oder kopfüber am Essen teilzunehmen – das wird als unangemessenes und unfreundliches Verhalten empfunden. Manchmal sind es ganz einfache Details, die über Erfolg oder Misserfolg einer Weltraummission entscheiden können: „Die Lieblingsbeschäftigung der meisten Astronauten in der Raumstation ist es, durch das Fenster die Erde zu beobachten“, sagt Häuplik-Meusburger. „Dazu muss man sich in der Schwerelosigkeit aber irgendwo festhalten können – den Aspekt hat man bei der Planung vergessen.“ Am Lieblingsfenster der Crew waren keine Haltegriffe angebracht, daher hielten sich die Astronauten wiederholt an einem Luftschlauch fest, der dadurch schließlich ein Leck bekam. Gute Architektur muss eben die kleinen alltäglichen Probleme bedenken – im Weltraum wie auf der Erde. Besonders heikel sind architektonische Fehler in der Planung von Basisstationen am Mond oder auf dem Mars, wo die Astronauten vielleicht sogar den gesamten Rest ihres Lebens verbringen würden. In bisherigen Konzepten sieht Sandra Häuplik- Meusburger trotz großer Fortschritte noch schwere Mängel: Die geplanten Module sind zu klein, wenig flexibel und nicht auf die Bedürfnisse der Bewohner/innen für Langzeitmissionen ausgelegt. „Die Bahn der Raumfahrzeuge können wir mit unglaublicher Genauigkeit berechnen und gleichzeitig wird das menschliche Element der Mission nur auf lächerlich vage Weise berücksichtigt“, klagt Häuplik-Meusburger. „Scheinbar unwichtige Elemente werden aus Kostengründen weggelassen. Das Wohnmodul der iss wurde während der Konstruktionsphase gestrichen, und erst seit 2008 gibt es für alle sechs Mitglieder der permanenten Crew private Schlafkabinen.“ Oft orientiert man sich bei der Planung von Weltraummissionen am absoluten Minimum, an den Mindestanforderungen, die das physische Überleben der Crew gerade noch ermögli- 24 | 25 302 Auf in den Weltraum

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chen. Für Häuplik-Meusburger ist das der falsche Zugang: „Wir sollten das von der anderen Seite betrachten und nachdenken: Worauf verzichten wir – und ist dieser Verzicht überhaupt verkraftbar?“ Welche Möglichkeiten gibt es, den Weltraumreisenden darüber hinwegzuhelfen, dass sie nicht im Wald spazieren gehen können, dass ihre Möglichkeiten für soziale Kontakte stark eingeschränkt sind, dass sie kaum frische Nahrungsmittel zur Verfügung haben? Kann vielleicht auch Kunst dabei helfen, den Verzicht auf gewohnte irdische Annehmlichkeiten zu verkraften? Es gibt Ideen, Weltraummissionen mit Bildern, Klanginstallationen oder Zen- Gärten auszustatten. Vielleicht sind Kunst, Ästhetik und Raumgestaltung auf einer langen Weltraumreise kein unnötiger Luxus, sondern eine wesentliche Stütze für die geistige Gesundheit, die für das Gelingen der Mission genauso entscheidend ist wie ein Sauerstofftank. Der Mensch ist keine Maschine, wir brauchen nicht bloß Sauerstoff und Nahrungsmittel, wir können ohne sinnliche und intellektuelle Genüsse langfristig genauso wenig leben wie ein Waldtier in der Wüste. Wenn es uns eines Tages tatsächlich gelingt, eine „multiplanetare Spezies“ zu werden, wenn sich die Menschheit von ihrem Heimatplaneten aus tatsächlich auf mehrere Himmelskörper ausbreiten sollte, dann werden wir dorthin nicht nur unsere physischen Bedürfnisse mitnehmen, sondern auch unsere Kultur, unser ästhetisches Empfinden und gute Architektur. N Auf in den Weltraum

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Flucht und Krise | Zur Problematik räumlicher Konzentration Flüchtender „Wenn die Flüchtlinge (deren Zahl in unserem Jahrhundert nie aufgehört hat zu wachsen, bis sie schließlich einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Menschen ausmachte) in der Ordnung des modernen Nationalstaats ein derart beunruhigendes Element darstellen, dann vor allem deshalb, weil sie die Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk aufbrechen und damit die Ursprungsfiktion moderner Souveränität in eine Krise stürzen. Der Flüchtling, der den Abstand zwischen Natur und Nation zur Schau stellt, bringt auf der politischen Bühne für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren geheime Voraussetzung ist.“ Agamben, Giorgio: Homo Sacer, 1995, S. 140. Andre Krammer ist Architekt und Urbanist in Wien. Kommunizierende Gefäße Im Rahmen der sogenannten „Flüchtlingskrise“ wurde unter anderem die Frage gestellt, welchen Beitrag Architekt/innen, Urbanist/innen und Ingenieur/innen leisten können und sollen. Sogar von der „Stunde der Architekten“ war die Rede, von einer einmaligen Chance, nicht zuletzt Formen eines „social design“ weiterzuentwickeln. Bevor die Frage nach dem Was geklärt werden konnte, wurde die Frage nach dem Wie gestellt. Doch die Unterbringung von Flüchtenden in Lagern, An - hal tezentren und Gebäuden auf engstem Raum wirft soziale und politische Fragen auf, die auch in der Notlage nicht vergessen werden dürfen. Gerade aus dem Grund, da die eine oder andere Form der „Flüchtlingsarchitektur“ auf Dauer zu bestehen droht. Ein Blick auf die Geschichte der Stadtentwicklung kann da lohnen, die ja bis zum heutigen Tag von Migrationsbewegungen entscheidend mitgeprägt wurde. Der britische Journalist Doug Saunders hat in dem aktuellen Buch Arrival City die Dynamik der „globalen Ankunftsstadt“ nachgezeichnet. Es wird deutlich, dass Städte und in weiterer Folge die Staaten, in denen sie liegen, keine autonom lebensfähigen Systeme, sondern vielmehr kommunizierende Gefäße darstellen. Nicht nur Waren und Güter werden importiert und exportiert. Auch geistiger und kultureller Input von außen ist notwendig, will eine Gemeinschaft nicht in ihrer Entwicklung stagnieren. So wäre – um nur ein Beispiel zu nennen, das Saunders anführt – die Französische Revolution ohne den Zustrom der verarmten Landbevölkerung, die wesentlich an den Aufständen beteiligt war, nicht denkbar gewesen. Gleichzeitig gab und gibt es die entgegengesetzte Bestrebung jener Teile der Gesellschaft, die sich durch territoriale Grenzziehungen vor Fremden, Armen und vor Krieg Flüchtenden schützen zu müssen glauben. In der Stadt gehören – wie gesagt werden könnte – urbane (offene) und antiurbane (sich abschottende) Bewegungen zu einer fortwährenden Dialektik. Innerhalb dieser Dynamik zeigen insbesondere physische Grenzen und Barrieren eine Krise der offenen Gesellschaft an. Früher waren es Mauern und Tore, heute sind es die Mauern der „gated communities“. Dabei handelt es sich um Mechanismen des Ein- und Ausschlusses, die in zweifache Richtung wirken. Denn jene, die ihr Territorium nach außen abriegeln, schließen sich auch immer selbst ein. Was eine Abschottung, die bis zur Selbstinhaftierung geht, auf der staatlichen Ebene bedeutet, hat die ehemalige ddr vorexerziert und kann gegenwärtig in Nordkorea beobachtet werden. Eine dauerhafte Klausur führt auf städtischer wie auf staatlicher und überstaatlicher Ebene früher oder später zum kollektiven Lagerkoller und mit hoher Wahrscheinlichkeit zum inneren Kollaps. Das Lager, zentraler Topos der Moderne Auch der Architektur sind – wie jeder Form der Raumproduktion – Mechanismen des Ein- und Ausschlusses immanent. Nicht zuletzt geht es um die räumliche Verteilung der Masse und der Individuen, ob es sich nun um Fabriken, Schulen, Wohnungen oder Gefängnisse handelt. Doch die erwähnten Gebäudetypen gehören längst zum Bestandteil des typologischen Arsenals der Moderne und sind somit in alle Breite diskutiert und in ihrer Tendenz, im Übermaß zur gesellschaftlichen Disziplinierung und Kontrolle beizutragen, umfassend problematisiert worden. Der Typ des Lagers – Flüchtlingslager sind nur ein Beispiel für diese Kategorie – wurde, nicht zuletzt aufgrund der zeitgeschichtlichen Vorbelastung, gerne als Sonderfall betrachtet oder überhaupt links liegen gelassen. Für den zeitgenössischen italienischen Philosophen und Juristen Giorgio Agamben hingegen ist „das Lager“ ein zentraler Topos der Moderne wie auch seiner eigenen kritischen Theorie. Angesichts jüngster Entwicklungen erscheint eine eingehende Beschäftigung mit den Thesen seines mehrbändigen Hauptwerks Homo sacer dringlicher denn je. Als Homo sacer wurden im alten römischen Recht Personen bezeichnet, die aufgrund eines begangenen Delikts nicht nach offiziellem Ritus geopfert werden durften. Jedoch wurden jene – und darin liegt das Paradox –, die einen Homo sacer um sein Leben brachten, nicht angeklagt. Agamben interessiert sich in seinen rechtsphilosophischen Betrachtungen besonders für derartige Leerräume und Anomalien im Rechtssystem, da in diesen sonst verborgen liegende Grundlagen desselben gefunden und sichtbar gemacht werden können. Dem Philosophen geht es dabei nicht um eine rein historische Analyse. So ist für ihn der Lagerinsasse im Dritten Reich ein Nachfahre des antiken Homo sacer. Aller Rechte beraubt und auf seine kreatürliche Körperlichkeit reduziert ist er einer radikalen Willkür ausgesetzt. 28 | 29 302 Flucht und Krise

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EOOS: SOCIAL FURNITURE Im Gebäudekomplex der ehemaligen Zollamtsschule in Wien-Erdberg betreiben auf vier Etagen mit insgesamt 21.000 m² zwei NGos eine Grundversorgungseinrichtung. Das Designteam EooS mildert mit einem umfangreichen Programm, das auch die Schaffung von Arbeitsund Tauschmöglichkeiten in Form einer hauseigenen Gemeinschaftsökonomie umfasst, die zahlreichen Unzulänglichkeiten der zuvor vom Bund als Betreuungsstelle für Flüchtlinge genutzten Räumlichkeiten. Sie entwickelten ein Möbelprogramm, das mit einfachsten Mitteln – Holzplatten, Akkuschrauber und Kreissäge – herzustellen ist. Flucht und Krise

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Doch nicht nur in Konzentrationslagern, sondern in allen lagerähnlichen Strukturen kann eine gefährliche Tendenz zur Suspendierung geltender Rechtsnormen festgestellt werden. Es werden dort jene versammelt, die aus der üblichen Ordnung gefallen sind oder aus verschiedenen Gründen nicht in diese integriert werden sollen. Die Sonderform des Lagers ist, wie Agamben zeigt, nicht aus der Rechtsnorm abgeleitet worden, sondern entstammt Notverordnungen und den Kriegsrechten, die in einem deklarierten Ausnahmezustand verhängt wurden. Menschen innerhalb eines Lagers sind meist von den im Außenraum geltenden Normen nicht mehr geschützt und somit von der Ethik und der Willkür der Polizei, des Militärs, aber auch in speziellen Fällen von den Reglements der Hilfsorganisationen abhängig. Unrühmliche Tradition Agamben macht deutlich, dass Lager immer dann entstehen, wenn eine Nationalstaatlichkeit, die auf einer Koppelung von Geburt, Bürgerschaft und Territorium beruht, bedroht erscheint, also in Situationen wie nach dem Ersten Weltkrieg, als es in Europa Massen an Kriegsflüchtlingen und sogenannten Staatenlosen gab. Doch die Geschichte des modernen Lagers geht weiter zurück. Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Spanier in Kuba „Konzentrationslager“ errichtet, um die Aufstände gegen die Kolonialmacht einzudämmen. Und die Tradition wurde fortgesetzt. Auch die Gefangenenlager in Guantanamo reihen sich in eine unrühmliche Ahnengalerie ein. Und auch die Flüchtlingslager, die gerade im Vorhof der Europäischen Union auf Dauer eingerichtet zu werden drohen, sind keineswegs harmlose Orte. Niemand kann wirklich sagen, was sich in ihnen ereignen wird und welche sozialen, psychischen und politischen Folgen sie zeitigen werden. Ein Handbuch stellt die Bauanleitungen allen, die mit einfachen Mitteln, wenig Geld und spärlichen handwerklichen Fähigkeiten funktionale und gut gestaltete Möbel herstellen wollen, zur Verfügung. In der vor Ort eingerichteten Werkstatt wurden innerhalb weniger Wochen um die zehn Tonnen Schalungsplatten (vom Hersteller gespendet) zu Möbelmodulen auf Rollen für die individuelle Aufbewahrung von Lebensmitteln in den Doppelzimmern, zu Einrichtungen für die Gemeinschaftsräume und -küchen, zu Hockern, Bänken und Tischen verarbeitet. Hochbeete im Innenhof, Küchen, ein Frisiersalon und ein Laden schaffen Arbeits- und in Folge Tauschmöglichkeiten in Form einer hauseigenen Gemeinschaftsökonomie, für deren Transaktionen u. a. auch eine entsprechende App entwickelt wurde. Im Lichte der vorangegangenen Betrachtungen kann die Rede von der „Festung Europa“ nur als gefährliches Phantasma und als Krisensymptom jener Gesellschaft verstanden werden, die sich innerhalb ihrer Mauern versammeln soll. Es wäre nichts anderes als ein willkürlich herbeigeführter Belagerungszustand, der für beide Seiten jenseits der Mauern mehr als bedenklich wäre. Das „Lob der Grenze“, also zur Abschottung, das uns der Philosoph Peter Sloterdijk in einem aktuellen Interview wieder zu lernen empfiehlt, kann nur als Aufforderung zum Rückschritt aufgefasst werden. Eine zukünftige Integration vor Krieg Geflohener, die nach der Erfahrung des Lagers gelingen soll, steht unter keinem allzu guten Stern. Was könnten nun – um zur Ausgangsfrage zurückzukehren – Architekt/innen, Planer/innen und Techniker/innen in einer derartig schwierigen Situation leisten? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Vielleicht sollte zuallererst zur Enthaltsamkeit aufgerufen werden. Auch die architektonisch wertvollste Flüchtlingsunterkunft ergibt in Summe nur ein weiteres Lager. Wenn, wie oben dargelegt, eine räumliche Konzentration und ein paralleler Rechtsraum nach Möglichkeit vermieden werden sollten, dann kann es nur um Strategien der Dispersion und Verteilung gehen. Die Frage wäre schlicht, wie Menschen, die zu uns kommen, kurzfristig oder dauerhaft in den Alltag eingegliedert werden können. Die Integration nicht zuletzt in die Normalität des Wohnens wäre eine tatsächlich realisierbare Utopie, im Gegensatz zur zweifelhaften Forderung nach kultureller Integration, die aus Menschen nicht nur Staatsbürger/innen, sondern gleich bessere Staatsbürger/innen machen will. Denn das widerspricht doch eigentlich dem Gleichheitsgrundsatz, der unserer Demokratie zugrunde gelegt wurde. N Flucht und Krise

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Maßstab Mensch | (Wohn)Raum für Menschen auf der Flucht Die Unterbringung von Menschen auf der Flucht in Österreich ist aktueller und brennender denn je. Fast 95 Prozent der ankommenden Asylsuchenden in Österreich finden in Gastbestrieben, in meist infrastrukturschwachen Regionen, eine Erstunterkunft. Derzeit leben circa 90.000 Asylwerber/innen in Österreich. Das Asylverfahren dauert mehrere Monate bis hin zu Jahren. Der Staat kümmert sich während dieser Zeit des Wartens um die Grundversorgung – Unterbringung und Verpflegung. Sobald der positive Asylbescheid kommt, müssen anerkannte Flüchtlinge eigenständig einen Wohnraum suchen und sind meist über Nacht auf und davon. Für Betreiber und engagierte Personen, die sich angefreundet und um Integration bemüht haben, auch ein schwieriger und ungewisser Zustand. Raffaela Lackner leitet seit 2011 das Architektur Haus Kärnten und seit 2014 das DoMENIG STEIN- HAUS und setzt sich für interdisziplinäre Baukulturvermittlung ein. Räume der Flucht Schon bevor wir mit einer Flut an Flüchtlingen und den damit verbundenen Folgen konfrontiert waren, hat sich ein Projekt im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der tu Wien, Fakultät für Architektur, Abteilung für Gebäudelehre, mit den Hintergründen gegenwärtiger Asylpolitik beschäftigt. Das Projekt „Fluchtraum Österreich“ wurde im Herbst 2014 von Nina Valerie Kolowratnik und Johannes Pointl mit Studierenden erarbeitet. Es ist Teil der Echoing-Borders-Initiative, welche von Nora Akawi und Nina V. Kolowratnik an der Columbia University in New York gegründet wurde. Dabei geht es nicht um geplante Asylunterkünfte, sondern viemehr um die Untersuchung von Raumstrukturen und deren Grenzen dahinter. „Ziel des Projekts ist das Schaffen einer neuen Sichtweise auf Zustände der Flucht und des Wartens, der reglementierten Raumnutzung von Asyl suchenden sowie der Rolle, welche Architektur und gebauter politischer Raum in diesem Zusammenhang spielen. Die Thematik Asyl soll dabei als grundlegender Bestandteil heutiger Raumproduktion und als notwendiges Beschäftigungsgebiet der Architekturpraxis aufgezeigt werden“, so die beiden Initiatoren. Die Ergebnisse der Recherchen wurden in einer Wanderausstellung aufbereitet und darüber hinaus als Gastedition der Zeitschrift „asyl aktuell“ publiziert. Neben raumanalytischen Kartografien und Essays zu unterschiedlichen Hürden wie Arbeitsräumen, sozialen Grenzen und Bewegungsräumen versteht sich das Projekt als Kommunikationsraum. Asylsuchende in Tourismusbetrieben 2016 wurde das Projekt mit dem Thema der Unterbringung in ehemaligen und noch funktionierenden Tourismusinfrastrukturen in Österreich erweitert. Ein Symposium im April 2016 im Architektur Haus Kärnten legte dazu die Basis der Lehrveranstaltung mit weiterführender Exkursion durch ganz Österreich. Dazu Kolowratnik und Pointl: „Sowohl touristisch Reisende als auch Flüchtende stehen in ihren Unterkünften auf Zeit in einem engen Beziehungsgeflecht mit ihren jeweiligen Gastgebern. Nimmt ein Wirt oder eine Wirtin Asylwerber/innen auf, findet er oder sie sich zumeist in einer Doppelrolle wieder. In dieser ist er/sie als Unterkunftgeber/in für den Betrieb der Unterkunft verantwortlich und 32 | 33 302 Maßstab Mensch

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Gerhard Maurer fotografiert eine Zwischenwelt. Ein ehemaliger Gasthof mit Fremdenzimmern wurde zu einem Zuhause, das keines bleiben kann. Die Fotografien zeigen Herberge und Umgebung als Transitraum, erzählen von Fremdheit und Vertrautsein am Rande. Im Dezember 2014 hat die Journalistin Elisabeth Steiner in Weitensfeld im Gurktal das Flüchtlingsintegrationsprojekt BÄRENWIRT begründet. Sie bietet zwanzig Asylwerber/innen nicht nur eine Unterkunft, sondern führt das Gasthaus als Ort der Begegnung zwischen Einheimischen und Fremden. Gemeinsam mit dem Fotografen Gerhard Maurer arbeitet sie an einer Langzeitdokumentation. Die Publikation dazu erscheint im Spätherbst 2016 in Klagenfurt: Gerhard Maurer, Elisabeth Steiner: Fremdenzimmer, Verlag Johannes Heyn. wird gleichzeitig zur Betreuer/in von schutzbedürftigen Personen mit besonderen (Wohn)Bedürfnissen, die sich zumeist nach traumatisierenden Erlebnissen im Fluchtkontext oder in fremdem Lebensumfeld einstellen. Oft stellt der einzig denkbare Umgang mit dieser Situation eine vermehrte Reglementierung der Gastfreundschaft durch die Betreiber/innen dar, wo Möglichkeiten der Raumnutzung und Bewegungsfreiheit vorgeschrieben und klare Verhaltensregeln und Hierarchien festgelegt werden.“ Zwischenwelt Elisabeth Steiner, ehemalige Redakteurin beim Standard, führt seit 2014 die Flüchtlingsunterkunft „Bärenwirt“ bei Weitensfeld in Kärnten. Mit ihrem Ansatz des offenen Hauses und Ort der Begegnung für Flüchtlinge und die einheimische Bevölkerung verfolgt sie den Abbau von Ängsten und Vorurteilen zwischen den Kulturen. Flüchtlinge können nicht jahrelang in provisorischen (Massen)Unterkünften unter ständiger Aufsicht und Betreuung leben, sondern brauchen angemessenen Wohnraum. Dabei geht es um Selbstbestimmung und Rückzugsorte, die in großen Strukturen nicht möglich sind. Neuer Wohnraum muss kurzfristig errichtet werden, sollte aber langfristig nutzbar und später auch adaptierbar sein. Der Raum für Menschen auf der Flucht darf an sich nicht als letzte Sequenz bedacht werden. Architekten und Architektinnen müssen viel mehr und vor allem früher anfangen, sich zu engagieren. In Österreich gibt es mehrere Ansätze, diese unterscheiden sich jedoch gravierend in der Gestaltung und der Herangehensweise. Modelle in Österreich In Vorarlberg wurde ein Sonderwohnbauprogramm für Flüchtlinge und Ortsansässige in Gemeinden initiiert. Das Modell „Transfer Wohnraum Vorarlberg“ wurde von Andreas Postner, Hermann Kaufmann und Konrad Duelli entwickelt. Der Ansatz beinhaltet einfache, klein strukturierte Einheiten, die sich in bestehende Strukturen integrieren, sich den Bedürfnissen der Bewohner/innen anpassen und keinen Unterschied zwischen Ortsansässigen und Flüchtlingen machen. Grundstück und Bauträgerleistung könnten von gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften, Gemeinden, Pfarren oder auch Privaten kommen und sind als integrativer Bestandteil der Gemeindeentwicklung zu sehen. Eine flexible Holztafelbauweise ermöglicht Wohnungsgrößen von 35, 55, 75 und 110 Quadratmetern sowie Gemeinschaftsräume, Werkstätten, Spielflächen im Außenraum und Nutzgärten. Die Bewohner/innen können und sollen vor allem mitbauen und mitgestalten – Partizipation als Bestandteil des Integrationsprozesses und zudem als Ausbildungsmöglichkeit. Mit zwei Häusern à 15 Personen je Gemeinde in Österreich könnte zusätzlicher Wohnraum für rund 63.000 Personen geschaffen werden. Damit wären Maßstab Mensch

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34 | 35 70 Prozent der 90.000 Flüchtlinge untergebracht. Aber aufgrund der fehlenden Grundstücke und des fallweisen Widerstands der Anrainer/innen ist das Projekt noch nicht zur Umsetzung gekommen. Das Land Salzburg ermöglichte 2015 im Flüchtlingsunterkünftegesetz die Errichtung von Häusern zur Unterbringung von Flüchtlingen mit bautechnischen Erleichterungen im „tragbaren Maß“. Beim Projekt „Refugium Salzburg“ von Architektin Melanie Karbasch wurden an verschiedenen Standorten Anlagen mit bautechnischen Erleichterungen, wie z. B. die Unterschreitung der Anforderungen an den Schallschutz und den Wärmeschutz lt. oib, errichtet. Bauherr und Betreiber ist das Rote Kreuz Salzburg. Nach Schaffung der gesetzlichen Grundlage wurde eine Nachnutzung der Häuser als Startwohnungen, Studentenwohnungen und auch der Einsatz im Katastrophenschutz ermöglicht. Gesetze – Grenzen – Verantwortung Wer hätte sich vorstellen können, dass wieder Grenzen zu unseren Nachbarländern aufgebaut werden? Wir scheitern im Moment an der Menge der Hilfesuchenden, und plötzlich weiß niemand mehr, was richtig und was falsch ist und wie die Problematik zu lösen ist. Die Politik und auch die Gesellschaft sind verunsichert und scheuen sich noch immer davor, erste Schritte zu unternehmen. Beim Recht auf Asyl treffen Völkerrecht, eu-Recht und nationa- les Recht aufeinander. Beim Bauen geben Bauordnungen, Normen, die Raumordnung und Wohnbauförderungen ein enges rechtliches Korsett vor, das die Herausforderungen beim Bauen noch schwieriger gestaltet. Die derzeitige Situation könnte eine Chance für die Redimensionierung der Vernormung bewirken. Zudem sollten Leerstände nicht in den Überlegungen und Planungen vergessen werden. Im Grunde geht es um das Leben, um Arbeit und um zumutbares und nachhaltiges Wohnen. Es geht auch darum, jenen Menschen, die schon hier sind, und jenen Menschen, die gekommen sind, möglichst zukunftsfähige Perspektiven zu aufzuzeigen. Die notwendige gesellschaftspolitische Balance funktioniert in überschaubaren, kleineren Einheiten mit behutsamer Durchmischung und starker Einbindung in die lokalen Versorgungs- und Bildungsstrukturen. Neue Konzepte für sozialen Wohnbau müssen imstande sein, das Miteinander zu fördern. Bei allen Problemen, Ängsten und Vorurteilen, die jeder in sich trägt, sollte der Mensch, seien es Einheimische oder Zugewanderte, im Mittelpunkt stehen. Baukultur, mit all ihren Disziplinen, kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. Aber am Ende ist jede/r Einzelne von uns verantwortlich dafür, wie unsere gebaute Umwelt, ja unser aller (Zusammen)Leben aussieht! N Maßstab Mensch

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Helfen zu können, macht uns zu Menschen. © Nathan Benn/Ottochrome/Corbis www.caritas.at Hungerkatastrophe in Äthiopien. Helfen Sie mit einem Nothilfepaket um 35 Euro. Empfehlung Survival nennt man heute das gut ausgestattete Überleben einer Katastrophe hollywoodesker Größenordnung. Die Ursprünge des Kults liegen im Militärischen. Wichtige Fertigkeiten für das Überleben in der Wildnis steuerten die Indianer den Trappern bei. Um außerhalb der Zivilisation alleine im Wald überleben zu können, braucht man zahlreiche spezielle Fertigkeiten. Dies kann man in Kursen erlernen, wo auch physisches und psychisches Durchhaltevermögen trainiert werden. Feuermachen ohne Zündholz, Orientierung ohne Kom pass und Fischen ohne Angel erfreuen sich, wie in allen Krisenzeiten der letzten 200 Jahre, großer Beliebtheit. Daneben hat sich eine Industrie entwickelt, die gleichsam Mer chandisingartikel zu Katastrophenfilmen anbietet. Freizeitparanoiker sind ein wachsender Markt. Man nennt sie auch „Preppers“, die Vorbereiteten. Ihr Name leitet sich ab vom Pfadfindergruß „Allzeit bereit!“. Längst ha- ben sie ihr traditionelles Biotop, den Wald, verlassen und die moderne Großstadt als imaginäre Kampfzone für Überlebenshungrige erobert. Da mehr und mehr Menschen in Städten leben, werde auch der postkatastrophische Überlebenskampf dort geführt, argumentieren die „Urban Survivers“. Egal ob Kriege, Verbrechen, Klimawandel, Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen drohen, stellen sich dem Städter im Vergleich zum Outdoorsportler andere Herausforderungen. Was tun, wenn die Versorgung mit Strom, Wasser, Wärme, Lebensmittel und Internet mitten im Ballungszentrum aussetzt? Um seinem Prepper-Hobby zu frönen, muss der moderne Städter sich gar nicht mehr in die Wildnis begeben, er muss nur Dinge konsumieren, von denen er hofft, sie niemals gebrauchen zu müssen. Die Firma Semptec Urban Survival Technology hat das Bedürfnis erkannt und die Frage nach dem kleinstmöglichen Wohnen mit einem Produkt beantwortet. Das Feldbett mit integriertem Zelt, Luftmatratze und Schlafsack samt Tragetasche ist schon ab 149,90 Euro im gut sortierten Überlebensfachhandel erhältlich. Wolfgang Pauser N Medienempfehlung Seit 2000 erscheint das Fußballmagazin ballesterer, die Auflage beträgt 20.000 Stück, das ist übrigens weit mehr als jede österreichische Architekturzeitschrift. Weit über den üblichen massenmedialen Fußballtratsch hinaus ist es mit kritischen, gut recherchierten Beiträgen eine der lesenswertesten Zeitschriften auf dem österreichischen Markt – nicht nur für Fußballfans. Das Cover der Mai-Ausgabe stach mit einem Plan des Weststadions, überlagert von einem Foto seines Architekten und späteren Namensgebers Gerhard Hanappi ins Auge. Im Inneren begeben sich Jakob Rosenberg und Clemens Zavarsky auch auf die architektonischen Spuren des legendären Kapitäns der Grün-Weißen, dem der Fußball das Architekturstudium finanzierte. Auch wenn Hanappi als seinen Beruf stets jenen des Architekten betrachtete, als Fußballer war er besser. Er baute mehrere Wohnhäuser in Wien, die Anlage für den FC Stadlau in der Erzherzog-Karl-Straße und das 1977 eröffnete Stadion in Hütteldorf. Vom Sportzentrum sei nur ein Sparstadion übrig geblieben, klagte Hanappi seinerzeit in einem Zeitungsinterview über den von Skandalen begleiteten Bau. Hätten damals die Verantwortlichen im Magistrat Hanappis Pläne nicht beschnitten – wer weiß, man hätte sich vielleicht den mit 20 Millionen Euro öffentlichem Geld bezuschussten Neubau erspart. „Die grüne Hölle“ – übertitelte der Architekt des neuen Stadions seine Skizzen und benennt damit – in unfreiwilliger Komik – selbst die architektonischen Unzulänglichkeiten des vor hinkenden Metaphern strotzenden grünen Monsters, das Mitte Juli eröffnet wird. Mal abwarten, was die Kollegen vom Ballesterer dazu sagen. Das Jahresabo kostet übrigens leistbare 39 Euro. Franziska Leeb N 40 | 41 Empfehlungen

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EuGH konkretisiert seine Rechtsprechung zu Fastweb und zu essenziellen Fragen der Antragslegitimation Bis zur EuGH-Entscheidung Fastweb vom 4.7.2013, C-100/12 war aufgrund der Rechtsprechung des VwGH unstrittig, dass Bietern, die aus einem Vergabeverfahren ausgeschieden wurden oder auszuscheiden sind, die Antragslegitimation zur Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens fehlt. Begründet wurde dies damit, dass solchen Bietern kein Schaden entstehen könne, da sie für die Zuschlagsentscheidung ohnehin nicht mehr in Betracht kommen. Die EUGH-Entscheidung Fastweb brachte eine Wende in der Rechtsprechung zur Antragslegitimation im Nachprüfungsverfahren und ein erhebliches Maß an Rechtsunsicherheit in grundsätzlichen Fragen. Konkret entschied der EuGH in Fastweb, dass die Antragslegitimation eines auszuscheidenden Bieters dann zu bejahen ist, wenn die Ordnungsmäßigkeit des Angebots jedes Bieters im Rahmen desselben Verfahrens aus „gleichartigen Gründen“ infrage gestellt wird. In einem solchen Fall kann sich nämlich jeder Wettbewerber auf ein berechtigtes Interesse am Ausschluss des Angebots des jeweils anderen berufen, was zu der Feststellung führen kann, dass es dem öffentlichen Auftraggeber unmöglich ist, ein ordnungsgemäßes Angebot auszuwählen. Im Detail lässt die genannte Judikatur jedoch entscheidende Fragen unbeantwortet, welche seither in der Praxis für erhebliche Rechtsunsicherheiten sorgen. So wird etwa in der nationalen Folgejudikatur nicht einheitlich beantwortet, wann von „gleichartigen Ausscheidensgründen“ auszugehen ist. Teilweise wird in der Judikatur diesbezüglich sogar verlangt, dass dieselben Ausscheidensgründe vorliegen müssen, während andere Entscheidungen den Begriff der „gleichartigen Ausscheidensgründe“ großzügiger auslegen. Weitere Unklarheit schaffte bisher der Umstand, dass in dem der Rechtssache Fastweb zugrunde liegenden Sachverhalt lediglich zwei Unternehmen am Vergabeverfahren teilgenommen hatten, was bisher die Frage aufwarf, ob die Antragslegitimation eines auszuscheidenden Bieters auch dann vorliegen kann, wenn sich mehr als zwei Bieter am Vergabeverfahren beteiligt haben. Mit seiner aktuellen Entscheidung Puligienica Facility Esco Spa (PFE) vom 5.4.2016, C-689/13, hat der EuGH seine Rechtsprechung zu Fastweb in dieser essenziellen Frage nun weiter konkretisiert. Der EuGH bejahte die Anwendbarkeit seiner Auslegung im Urteil Fastweb auch für den Fall, dass mehr als zwei Unternehmen sich am Vergabeverfahren beteiligt hatten und stellte unmissverständlich wie folgt klar: „Die Zahl der Teilnehmer am Verfahren zur Vergabe des betreffenden öffentlichen Auftrages ist ebenso wie die Zahl der Teilnehmer, die Klagen erhoben haben, und die Unterschiedlichkeit der von ihnen geltend gemachten Gründe für die Anwendung des sich aus dem Urteil Fastweb (C-100/12, EU:C:2013:448) ergebenden Rechtsgrundsatzes unerheblich.“ Im Ergebnis kann die aktuelle Entscheidung des EuGH ein wenig mehr Klarheit zur Rechtssache Fastweb und zu den daraus entstandenen Fragen zur Antragslegitimation bringen. Nichtsdestotrotz bleiben weitere grundsätzliche Fragen offen, zu deren Beantwortung weitere klare Aussagen des EuGH erforderlich sein werden. Christian Gruber/Christian Graf Schramm Öhler Rechtsanwälte www.schramm-oehler.at N Plottegg – Architecture Beyond Inclusion and Identity is Exclusion and Difference from Art The Work of Manfred Wolff-Plottegg Manfred Wolff-Plottegg (Hrsg.) Birkhäuser Verlag 2015 „Ich entwerfe nicht. Ich denke nicht. Ich handle.“ So lautet das Motto des steirischen Architekten Manfred Wolff-Plottegg, der kürzlich eine (englischsprachige) Monografie über sich und sein Werk herausgegeben hat. Der 1946 geborene Querkopf ist einer der profiliertesten Avantgardearchitekten Österreichs und bewegt sich im Schnittfeld von Architektur, Design, bildender Kunst und Medienkunst. Als Stu- dent wurde er vom Geist der 1968er-Bewegung und vom Aktionismus geprägt, als weiter zurückliegender Einfluss ist Marcel Duchamps zu nennen. Einer seiner ersten realisierten Entwürfe war ein Bett, das geplanterweise in sich zusammenkrachte. Badezimmer und Toiletten hatten es ihm während seiner gesamten Karriere angetan: Dabei löste er mittels Spiegeln das herkömmliche Raumgefüge scheinbar auf. Sein vielleicht prominentestes Projekt ist der Umbau des barocken Schlosses Trautenfels zu einem Museum, dem er mit zahlreichen Installationen einen ganz eigenen Charakter verlieh. Wolff- Plottegg war auch einer der Ersten, die in den 1980er-Jahren Computer einsetzten – allerdings nicht als Arbeitsinstrument, sondern als Generator randomisierter Entwürfe, die sich nicht um Perspektive oder Physik scherten. Mit dieser Publikation lässt sich das Werk eines humorvollen Provokateurs entdecken. Michael Krassnitzer N Vom Nutzen der Architekturfotografie Angelika Fritz, Gabriele Lenz (Hrsg.) Birkhäuser Verlag 2015 Was soll Architekturfotografie? Soll sie, Gott bewahre, im Dienste der Architektur stehen und diese möglichst effektvoll in Szene setzen oder soll sie als bildgewordene Architekturtheorie ihre Objekte dekonstruieren und in di - verse zeitgenössische Kontexte setzen? Die im opulenten Band „Vom Nutzen der Architekturfotografie“ gegebene Antwort fällt wohl eindeutig aus: Demnach – so Elke Krasny in ihrem Essay – „enthalten Architekturfotografien die entscheidenden Hinweise auf die hegemonialen Diskurse, an deren Formation, Offenlegung, Kritik und Tradierung sie Anteil haben“. Das Buch glänzt dort, wo es die gut ausgewählten, erstklassigen Bilder von insgesamt 20 Fotografen/innen – darunter Pez Hejduk, Bruno Klomfar, Paul Ott und Margherita Spiluttini – sprechen lässt. Es stellt sich die Frage, warum werden manche Architekturfotografien zu Blockbustern? Welche Geschichte(n) erzählen Architekturfotografien? Prägen die Bilder bereits den architektonischen Entwurfsvorgang oder prägen architektonische Konzepte die fotografische Arbeit? Darauf geben die präsentierten Architekturfotografien durchaus erhellende und mitunter erheiternde Antworten. Es ist ein Buch, dem es nicht an Selbstbewusstsein fehlt: Aufgemacht wie „Form“ von Max Bill, das über sechs Jahrzehnte alte Standardwerk zur Designgeschichte, ist es selbst ein Ausdruck eines hegemonialen Diskurses. Michael Krassnitzer N Jüngste Entscheidung, Krassnitzers Lektüren

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Die Raumerfinderin | Patricia Zacek-Stadler im Porträt Claudia Rinne arbeitet als Kulturmanagerin und Journalistin. Von 2008 bis 2016 war sie leitende Redakteurin der Zeitschrift „architektur. aktuell“. 42 | 43 Patricia Zacek führt seit dem Jahr 2000 ihr Architekturbüro in Wien, zurzeit arbeitet sie mit vier Angestellten. 24 Reihenhäuser der von ihr geplanten Wohnhausanlage Otterweg in der Donaustadt stehen unmittelbar vor der Übergabe, die acht geschwungenen Punkthäuser am selben Standort sollen im Herbst 2016 so weit sein. Dann werden dort 120 Wohnungen, Freiraumgestaltung, Verkehrslösung und Verzahnung des unmittelbaren Wohnumfelds mit der durch kleinere Einfamilienhäuser und Grünraum bestimmten weiteren Umgebung fertig sein. Das nächste umfassende Projekt am Mühlweg, ihre siebte Wohnhausanlage, ist schon im Bau. Parallel dazu arbeitet sie in Jurys und den Gestaltungsbeiräten in Graz und Wels sowie dem Architekturbeirat der BIG mit. Es liegt nahe, Patricia Zacek als Wohnbauexpertin zu charakterisieren. Trifft das? Mit sechzehn steht für sie fest: Sie wird Architektin. Dabei gibt es in ihrem familiären Umfeld kein Vorbild, es ist eine autonome Entscheidung. Zu ihren ersten starken und bewusst wahrgenommenen Eindrücken zählen die hohen und sehr pragmatischen Räume landwirtschaftlicher Bauten, einer Scheune etwa, oder die Weitläufigkeit von Museen. Während sie das Studium an der Technischen Universität Wien absolviert, gerät ihr dieses Motiv fast in Vergessenheit. Anlässlich einer Japanexkursion fragt sie Justus Dahinden, bis 1996 Vorstand des Instituts für Raumgestaltung an der TU, nach einer Stelle in seinem Zürcher Atelier. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie zwei Jahre dort und findet sich endlich wieder bei der zentralen Frage: „Was kann Raum?“ Zurück in Wien wird sie 1991 bei Reinhard Gieselmann mit einer Dissertation zum Wiener Wohnbau der 1980er-Jahre promoviert. Sie untersucht dessen ästhetische Komponente, daher wirft der Text bestenfalls indirekt ein Licht auf ihre späteren Bauten. Im Rückblick wertet Patricia Zacek diese Arbeit als Übung im genauen Denken und als Weichenstellung für ihre doppelte Tätigkeit als Architekturtheoretikerin und Architektin: Seit 1991 veröffentlicht sie regelmäßig in Architekturkatalogen, -büchern, -zeitschriften und hält Vorträge über Architektur. Später kommen berufspolitische Arbeit und akademische Lehre dazu. Erst Mitte der 1990er-Jahre tritt sie, inzwischen Ziviltechnikerin, mit den üblichen kleineren Bauaufgaben an die Öffentlichkeit: neben Wohnungsumbauten inklusive Möbelbau eine wunderbar schnörkellose Garderobe für die Dependance des Wiener Kunsthistorischen Museums im Palais Harrach, für b18-architekten. Hier, und mehr noch beim späteren eigenen Auftrag im ehemaligen Eingangsfoyer des Gesundheitsamts am Wiener Schottenring mit seinen kraftvollen Farben und klaren Orientierungsangeboten, konnte man schon charakteristische Merkmale ihrer Arbeit erleben. Es scheint, als habe sie die spannungsreich in die hohen Räume gesetzten horizontalen Gestaltungselemente und den in beide Richtungen wirksamen Außenbezug weiterentwickelt zu den aufgebrochenen Fassaden ihrer breit gelagerten Bauten und deren differenzierten Beziehungsgeflechten zwischen Innen- und Außenräumen verschiedener Intimitätsgrade. Als freie Mitarbeiterin bei Otto Häuselmayer zeichnet sie 1999 gerade an Plänen für das Musiktheater Linz, als sie den Auftrag zu einer Studie, in Folge zur Bebauung eines Eckgrundstücks mit 32 geförderten Eigentumswohnungen erhält und ihr Büro gründet. Ganz ohne Zwischenstopp beim Einfamilienhaus beginnt sie eine Serie präzise ausgearbeiteter mehrgeschoßiger Wohnbauten. „Dort treffen Architektur und Leben so unumwunden aufeinander wie bei keiner anderen Bauaufgabe“, sagt sie und entwickelt Grundrisse aus Bewegungsstrukturen. Die Sorgfalt, mit der sie Details löst, motiviert die Bewohner/innen zum sorgsamen Umgang mit ihrem Haus. Zaceks Thema aber ist der Zwischenraum, die Pause. Wie macht sie eine Erschließung so interessant, dass sie immer wieder etwas hergibt? Hier sind sie wieder, die verschieden hohen Räume und ihr Überraschungsmoment. Dazu eine Frontverglasung, die das Wetter ins Foyer holt. Eine gelbe Wand, der Sonnenstrahl, der da einfällt, der Blick in den Garten – all das bewirkt, dass man das Gebäude gerne betritt und den ganzen vertrauten Weg bis zur eigenen Wohnung lang Zeit hat, auch innerlich zu Hause anzukommen. Es ermöglicht die funktionale und emotionale Aneignung, nicht Privatisierung, öffentlicher Räume. Dieses Konzept adaptiert Patricia Zacek an die größeren Maßstäbe von Siedlungs- und Städtebau. Auch dem Schulbau täte es gut, denn der reine Frontalunterricht im engen Klassenverband ist von gestern, die meisten Gebäude sind es leider auch. Selbst wenn zurzeit der Personalschlüssel ein noch größeres Problem als der Quadratmeterschlüssel sein mag, Zacek versteht es meisterhaft, aus knapp bemessenen Vorgaben räumlichen und gesellschaftlichen Mehrwert herauszumeißeln, und zwar für eine Gesellschaft im Wandel. Eine Schule mit echter Aufenthaltsqualität, das wäre für sie eine (weitere) Bauaufgabe der Leidenschaft. N Porträt Patricia Zacek-Stadler

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Fehlanzeige Die Materialisierung und Festschreibung des Elends Diverse Formen temporärer Architektur sind ein fixer Bestandteil der Moderne. Gleichgültig welchem Nutzen sie dienen, haben sie die Tendenz, ihrer ursprünglichen Bestimmung zum Trotz, dauerhaft zu bestehen. Das mag einerseits an der Trägheit liegen, die allem Materiellen innewohnt, kann aber oft höchst unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen geschuldet sein. Meist ist es ja auch völlig unproblematisch. Die Schönheit einer provisorisch gedachten Ausstellungshalle wird erkannt, für die Zukunft bewahrt und zum Museum erklärt. Wer kann da auch schon etwas dagegen haben? Doch bei temporären Behausungen, die in der Notlage der Flucht entstanden sind, sieht es schon völlig anders aus. Man stelle sich – so weit das überhaupt möglich ist – die Fluchtsituation vor. Die Flüchtenden haben alles Gewohnte hinter sich gelassen. Sie sind von ihrer Vergangenheit abgeschnitten, aber auch die Zukunft ist ungewiss. Der gemeinsame Aufenthalt mit anderen Notleidenden in Zelten, Containern, Baracken und Gebäuden auf engstem Raum kann in dieser Situation nur als große Last empfunden werden. Umso länger der quälende Ausnahmezustand andauert, umso aussichtsloser erscheint die Lage. Eine Lebenssituation, die schon als Provisorium ein Albtraum war, verfestigt sich. Dabei spielt es keine Rolle, wie ein Container oder eine Flüchtlingsunterkunft designt und optimiert wurde. Es handelt sich so oder so um ein Wohnen der dritten Klasse. Minimalismus im Rahmen der Flucht und der damit verbundenen Not ist eine soziale, eine politische, aber keinesfalls eine ästhetische Kategorie. Schon in der „Normalität“ wird längst die Konzeption eines wie auch immer gearteten Existenzminimums hinterfragt, auch wenn dieses gegenwärtig im „smarten Wohnen“ eine umstrittene Renaissance feiern mag. Ein intelligentes Zeitmanagement, die Organisation von Austausch zwischen Ankommenden und der Zivilbevölkerung wäre gefragt. In der Frage der Unterbringung Geflüchteter sind neue Techniken der „Verteilung und Einschreibung“ gefragt, mit dem Ziel der Integration in den Alltag des Wohnens und damit auch der Aufrüstung existierender Fördersysteme. Die räumlich-konzentrierte Materialisierung der Not auf Dauer wäre hingegen abzulehnen. Andre Krammer N

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Von oben betrachtet ist die Wüste kein locus amoenus, kein lieblicher Ort, wie die Kunsthistoriker sagen. Technisch betrachtet kann dieser Unort trotzdem einiges leisten. Jesus Christus zum Beispiel ging in die Wüste, um dort Trugbilder der Versuchung zu erschauen. Er nutzte die Indifferenz wie eine Kinoleinwand als Projektionsfläche, die Sandkörner als Pixel und brachte damit die moderne Medientheorie bedeutende Schritte nach vorn. Auch aus psychotherapeutischer Perspektive ist die Wüste funktionstüchtig. Kürzlich erzählte mir eine Psychiaterin, sie empfehle ihren Depressionspatienten als Urlaubsdestination nur Antarktis oder Sahara. Je lieblicher die Umgebung, umso stärker empfinden viele Depressive den Kontrast zur grauen Wüste ihres Innenlebens. Die Angleichung der äußeren an die innere Landschaft sei eine erfolgreiche Technik zur Entlastung vom Leidensdruck. Auch für das Begreifen technologischer Entwicklungen hat sich die Wüste als Testgelände und Modellfall bewährt. Die Frage, wie sich ein Trampelpfad bildet und warum er beibehalten wird, auch wenn kürzere Wege gefunden werden, wird von der Pfadforschung untersucht und mathematisch modelliert. Es handelt sich bei der Pfadbildung um Phänomene der Rückkopplung und Selbstverstärkung, um einen speziellen Fall von Strukturbildung durch Selbstorganisation. Dabei zeigt sich, dass zufällige Entscheidungen für eine technische Lösung sich oftmals verstetigen und auf Jahrzehnte jede Möglichkeit zur Innovation blockieren. So schreiben wir immer noch auf der dysfunktionalen qwertz-Tastatur, die erfunden wurde, damit sich die Hebel der Schreibmaschine möglichst wenig verhaken. Die Daimler-Stiftung fördert Pfadforschung recht großzügig. Dahinter steht die Frage, ob es sich beim Automobil an sich um einen technologischen Irrweg, um eine verfestigte Fehlentscheidung, um eine verhakte Sache handelt. Immerhin kann man mit einem Auto in der Wüste die Trampelpfade verlassen – auch dann, wenn sich das Automobil insgesamt als technologischer Trampelpfad erweist. Wolfgang Pauser N