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301, Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten März 2016, www.daskonstruktiv.at, Euro 9,– | GZ 12Z039152 M | bAIK, Karlsgasse 9, 1040 Wien 301, wert / haltung Was im konkreten Fall unter „wertvoll“ verstanden wird, ist eine Aushandlungssache, von der die Entwicklung der Kultur lebt. Wenn aber die Notlösung zum Standard wird, ist der Wunsch, Wertvolles zu schaffen, an sich in Gefahr.

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Inhalt 8 – 9 10 – 11 12 – 13 14 – 17 18 – 23 24 – 27 28 – 30 31 – 33 wert / haltung Editorial, Vorwort des Präsidiums Puntigams Kolumne, Dusls Schwerpunkt Standpunkte: Anne Mautner Markhof, Christoph Mayrhofer und Ursula Schneider Raffaela Lackner und Roland Winkler Plus / Minus: Billig bauen Wie viel Wert hat Ihre Haltung? | Kultur bedeutet nichts anderes als den Wunsch, Wertvolles zu schaffen. Was passiert, wenn die Notlösung zum Standard erklärt wird? Christian Kühn Architekturtage 2016 | wert / haltung Barbara Feller Worauf bauen wir eigentlich? | Kleiner Diskurs über Bauen und Material Klaus - Jürgen Bauer Die Stadt als Reserve | Handlungsspielräume abseits der Verwertungslogik Andre Krammer Wohnqualität lässt sich nicht verordnen | 20 Jahre Wiener Bauträgerwettbewerb und Grundstücksbeirat Reinhard Seiß im Gespräch mit Cornelia Schindler, Walter Koch, Nikolaos Kombotis und Robert Korab We are building bilding | Ein kraftvoller Raum und ein zivilgesellschaftliches Statement Nicola Weber Im unerbittlichen Kampf gegen die letzten Tage der Menschheit | Chronik des Hetzendorfer Vinzidorfs Wojciech Czaja Die Rolle der Architektur stärken | Elke Delugan-Meissl über das Konzept für die Architekturbiennale in Venedig Franziska Leeb im Gespräch mit Elke Delugan-Meissl 40 Aus dem Wettbewerb, Empfehlungen 41 Jüngste Entscheidung, Lektüren 42 Porträt: Franz Kiener Ingrid Holzschuh 43 Fehlanzeige, Das nächste Heft 44 Von oben Impressum Medieninhaber und Herausgeber Erscheinungsweise Auflage Einzelpreis Abopreis pro Jahr Redaktion, Anzeigen & Aboverwaltung Redaktionsteam Redaktionsbeirat Konstruktiv 301 Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (bAIK) 1040 Wien, Karlsgasse 9 T: 01-505 58 07-0, F: 01-505 32 11 www.daskonstruktiv.at vier Mal jährlich 14.500 Stück 9,00 Euro 24,00 Euro art: phalanx Kunst- und Kommunikationsagentur Clemens Kopetzky und Susanne Haider (Geschäftsleitung) Franziska Leeb und Marlies Marbler 1070 Wien, Neubaugasse 25 /1/11 T: 01-524 9803-0, F: 01-524 9803-4 redaktion@daskonstruktiv.at, anzeigen@ daskonstruktiv.at, abo@daskonstruktiv.at Christian Aulinger (Präsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten), Armin Haghirian (Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Steiermark und Kärnten), Andrea Hinterleitner-Sedlacek (Stv. Vorsitzende des Forums der Ziviltechnikerinnen), Gabriele Kaiser (Leiterin afo architekturforum oberösterreich), Rudolf Kolbe (Vizepräsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten und Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Oberösterreich und Salzburg), Anna Soucek (Journalistin), Hanno Vogl-Fernheim (Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Tirol und Vorarlberg) Lektorat Grafisches Basiskonzept Gestaltung Druck Schriften Abbildungen F. = Fotograf A. = Architekt Dorrit Korger Gassner Redolfi, Schlins Bohatsch und Partner, Wien ap media – Visuelle Kommunikation, Wien Ueberreuter Print GmbH, Korneuburg Gedruckt auf SoporSet Premium 120 g/m2 Vista Sans (Xavier Dupré), Arnhem (Fred Smeijers) S. 3: F. Johannes Zinner © baik; S. 4: F. Ingo Pertramer, Andrea Maria Dusl; S. 5: F. Johannes Zinner ©bAIK (oben und Mitte); F. Danielle Basser (unten); S. 7: F. Günter Wett; S. 9: © Studio 3; S. 13: © Klaus-Jürgen Bauer; S. 15: F. studio 3; S. 16: F. Elbe&Flut (c) Hafen City Hamburg GmbH; S. 17: F. Günter Wett; S. 18 – 22: F. Reinhard Seiß (Urban+); S. 25 und 26: F. Günter Wett; S. 27: © studio 3; S. 28 und 29: © gaupenraub +/–; S. 30: © Petra Panna-Nagy; S. 31: F. Christian Redtenbacher; S. 32 und 33: F. Günter Wett; S. 40: © Vöslauer, © Gemeindezeitung Moosburg; S. 41: © Manz Verlag, Birkhäuser; S. 42: © Franz Kiener; S. 43: Scott Dexter, Archiv HZ, Georg Petermichl Visualisierung grafisches Büro; S. 44: shutterstock.com Die Redaktion ersucht diejenigen Urheber, Rechtsnachfolger und Werknutzungsberechtigten, die nicht kontaktiert werden konnten, im Falle des fehlenden Einverständnisses zur Vervielfältigung, Veröffentlichung und Verwertung von Werkabbildungen bzw. Fotografien im Rahmen dieser Publikation um Kontaktaufnahme. Das Gestaltungskonzept dieser Zeitschrift ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist unzulässig. Die Texte, Fotos, Plandarstellungen sind urheberrechtlich geschützt. Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist auf www.daskonstruktiv.at veröffentlicht. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben ausschließlich die Meinung des Autors/der Autorin wieder, die sich nicht mit der des Herausgebers oder der Redaktion decken muss. Für unverlangte Beiträge liegt das Risiko beim Einsender. Sinngemäße textliche Überarbeitung behält sich die Redaktion vor. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Das Zitat auf dem Titel wurde dem Text von Christian Kühn entnommen. 2 | 3

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Editorial Verantwortung, Unabhängigkeit und Qualität sind Werte, denen sich Ziviltechniker/innen verpflichtet sehen. Was bedeutet das konkret? Wie werden diese Werte gelebt? Gibt es einen allgemeingültigen Konsens darüber? Die individuellen Zugänge und Interpretationen im Alltag sind wohl ebenso vielfältig wie unsere pluralistische Gesellschaft. Ziviltechniker/innen übernehmen Verantwortung, nicht nur im Dienste ihrer unmittelbaren Auftraggeber, sondern für unsere Umgebung, die sie maßgeblich – federführend – mitgestalten. Antworten auf diese Fragen und Beispiele dazu liefern von 3. bis 4. Juni die Architekturtage, die heuer zum bereits achten Mal von der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, der Architekturstiftung Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf politischen Druck der Sozialpartnerinitiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ wurde das Bundesvergabegesetz kurzfristig novelliert („kleine Novelle 2015“) und das von der bAIK lange geforderte Bestbieterprinzip hat darin Eingang gefunden. Was aber bringt das beste Vergaberecht, wenn sich Auftraggeber/innen nicht daran halten? Auf den ersten Blick hat der Gesetzgeber ein effektives Rechtsschutzsystem geschaffen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch ein Versagen des Systems vorrangig in zwei Fällen: bei rechtswidrigen Ausschreibungsunterlagen und bei unzulässigen Direktvergaben. Die Verantwortung für einen Einspruch lastet dabei nämlich auf einzelnen Personen, die aber keinen unmittelbaren Vorteil davon haben; im besten Falle erreichen sie eine Neuausschreibung. Von Fairness kann hier nicht mehr gesprochen werden, denn wer will es sich schon mit den eigenen Auftraggeber/innen verscherzen? Auch den Kammern als interessenpolitische Vertretung sind dabei die Hände gebunden. Sie kann zwar medial, nicht aber rechtlich gegen intransparente Vergaben pro- testieren. So kritisierte Ende Februar die Länderkammer für Salzburg und Oberösterreich medienwirksam die Auftragsvergabe des Baus eines Altenheims in Peuerbach. Vergaberechtlich konnte die Kammer aber nicht einschreiten. Ein schönes Beispiel für unsere Forderung nach einem Verbandsklagerecht. Und auch die Länderkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland wollte solchen Vergabepraxen nicht länger zusehen und hat aus Ermangelung an Vergaberechtsschutz kurzum eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus der Kammerspitze (Bauer, Sommer, Mayerhofer) gegründet, um gegen solche Verstöße vor Gericht ziehen zu können und um die Öffentlichkeit auf dieses Manko aufmerksam zu machen. Eine langfristige Lösung ist dies aber dennoch nicht. Die neuen EU-Vergaberichtlinien 2014 werden noch im Laufe des Jahres umgesetzt. Dort, wo Richtlinien keine oder nur grundsätzliche Vorgaben treffen, kommt den Mitgliedsstaaten ein gewisser Regelungsspielraum zu, welcher in manchen Bereichen auch strengere nationale Regelungen zulässt. Diesen Spielraum wollen wir nutzen: Eine zentrale und den Architekturhäusern in ganz Österreich abgehalten werden. wert / haltung lautet das Thema der heurigen Ausgabe. In diesem Kompositum schwingt vieles mit. Wert und Werte, Haltung und Werthaltung. Es ist ein großes Thema, umso mehr in einer Zeit der Krisen und Verunsicherung. Gleichlautend daher das Thema des vorliegenden Konstruktiv. Es kommen Positionen zu Wort, die für bestimmte Werte eintreten, und wir stellen Initiativen vor, die sich für die Verbesserung der Qualitäten unserer gestalteten Umwelt – zu der schließlich alle Ziviltechnikerprofessionen auf ihrem Gebiet beitragen – einsetzen oder dazu beitragen, diese zu vermitteln und die Sensorien dafür zu schärfen. Etliche Beiträge knüpfen an die Programme der Architekturhäuser an, die das Thema facettenreich beleuchten. Vom Billigwohnbau über die Leerstandsproblematik, vom Wert regionaler Materialien über den Unterschied zwischen Wert und Luxus bis zur Frage nach dem Einfluss von Verkehrsinfrastruktur- und Schutzbauten auf die Qualität des Lebensraums und der Werthaltigkeit öffentlicher Investitionen reicht das Spektrum der Veranstaltungen. Die Architekturtage behandeln Architektur – wie auch schon die Jahre zuvor umfassend, sind keine oberflächliche Nabelschau der Szene, sondern eine bewährte und von der interessierten Öffentlichkeit gut angenommene Informations- und Diskussionsplattform. „Das leisten wir uns“, heißt es im Untertitel. Was wir uns leisten sollen, wollen und dürfen, ist gewiss auch eine Frage, der sich Ziviltechniker/ innen Tag für Tag von Neuem zu stellen und die sie im Sinne ihrer hochgehaltenen Werte zu beantworten haben. Franziska Leeb N Christian Aulinger (links) Präsident Rudolf Kolbe (rechts) Vizepräsident Forderung unserer Kammern ist daher die „Antragslegitimation“ für gesetzliche Interessenvertretungen. Das bedeutet, ein Verbands klagerecht (wie jenes im Konsument/ innenschutz), um Direktvergaben und Ausschreibungsunterlagen anzufechten. Die Kammer wird hier nichts unversucht lassen, um auch in diesen Fällen für mehr Fairness im Bereich des Vergaberechtsschutzes zu sorgen. N

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Kosmische Raumaufteilung Martin Puntigam Kabarettist, Autor und MC der Science Busters Wenn man nach einer Weltreise bereits alles gesehen und Lust auf neue Reiseziele hat, muss man die Erde verlassen und ins All trampen. Aber wohin zuerst, wo wäre es für uns am schönsten? Es lässt sich berechnen, wie hoch unsere Überlebenschancen wären, wenn wir auf gut Glück im Universum ausgesetzt würden. Leider sieht es da schlecht aus für solche wie uns. In so gut wie allen Fällen würden wir uns im Vakuum wiederfinden, denn das Universum ist hauptsächlich leer. Würde man von der Erde aus ohne Ziel ins All fliegen, wäre die Wahrscheinlichkeit, einem einzigen Himmelskörper auch nur nahe zu kommen, extrem niedrig. Sterne, Planeten und andere kleinere Himmelskörper sind ausgesprochen selten. Würden wir im Vakuum ausgesetzt, könnten wir kurz die nicht existente Aussicht genießen und wären mangels Atemluft sehr schnell Ex- Lebewesen. Nicht besser schaut es in den Sternen für uns aus, die als zweithäufigstes Reiseziel infrage kämen. Bei Temperaturen von Tausenden bis Milliarden Grad Celsius wären wir verdampft, bevor wir uns auch nur die Ärmel aufstrecken könnten. Die Chance, dass wir uns auf oder in einem Planeten wiederfänden, liegt schon deutlich abgeschlagen auf Platz drei. Was aber nur theoretisch von Bedeutung ist, denn auch auf großen Gasplaneten herrscht eine für uns unwillkommene Willkommenskultur. Große Planeten bestehen in der Regel aus Wasserstoff- und Heliumgas, das heißt wir würden einatmen, eventuell kurz hoch kichern und dann umgehend ersticken. Und erdähnliche Planeten gibt es keine? Doch, aber die Wahrscheinlichkeit, sich auf der Oberfläche eines Gesteinsplaneten wiederzufinden, ist bereits minimal. Und dann muss eine passende Sonne in der Nähe, genug Sauerstoff zur Verfügung, ein intaktes Magnetfeld rundherum sein, und es müssen Temperaturen herrschen, die Wasser den Aggregatzustand flüssig nahelegen. Und selbst auf einem solchen erdähnlichen Planeten kann es Leben nur in der Biosphäre nahe der Oberfläche geben und nicht im Planeteninneren. Der lebenswerte Bereich im Universum ist also minimal, fast überall kann man nur hinfahren, um sofort zu sterben. Sollte sich ein solches Universum tatsächlich ein Schöpfer ausgedacht haben, war er zumindest kein besonders geschäftstüchtiger Reiseveranstalter. Oder er möchte keine Nachbarn haben. Oder er war einfach nur zu faul, um ein ordentliches Universum zu bauen. (Mehrfachnennungen sind möglich.) N Dusls Schwerpunkt 4 | 5 Puntigams Kolumne, Dusls Schwerpunkt

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Interessenvertretung par excellence und Web exportieren (Graustufen, 225px Höhe); Details via Photoshop sichtbar machen zB Augen/Mund verstärken etc. (zB Nachbelichten 20% bei Brillen) Anne Mautner Markhof Stellvertretende Vorsitzende der Bundessektion Architekten Photoshop: Köpfe in Vorlagendokument einpassen Billigschiene in Blau-Gelb und Web exportieren (Graustufen, 225px Höhe); Bei Details der in mehreren via Photoshop Medien veröffentlichten sichtbar machen zB Augen/Mund Darstellung eines verstärken „Mehrfamilien-Wohngebäu- etc. (zB Nachbelichten 20% bei des“, welches laut Begleittext den letzten Brillen) Schrei im kostengünstigen Wohnen in Niederösterreich darstellen soll, kann es sich nur um Plugin: eine Scriptographer Verwechslung handeln. (Illustrator Die unter CS5!) dem Objekt Slogan Raster„Wohn.Chance.nÖ“ veröffentlichten Bilder eines leicht adaptierten Transformatorhäuschens Punkt 5 mm gr dürften wohl irrtümlich in den Artikel 2/10% gerutscht sein, vermutlich waren sie für Gridsize alles skaliert den 1. April auf vorgesehen. 60% > Punktgröße Selbst wenn man 0,3 als mm Bewohner „junge Menschen“ und insbesondere „Asylberechtigte“ vorsieht, von deren Anspruch auf nicht mehr als das Existenzminimum man selbstverständlich ausgehen darf, ist – zumindest mit Stand heute – auch in Niederösterreich ein Baurecht einzuhalten. Da Nachhaltige Denkmuster Ursula Schneider Vorsitzende Ausschuss Nachhaltiges Bauen der Bundeskammer die gezeigten Wohnungen zwar über Löcher in der Fassade, aber über keine Fenster etwa zur Sicherstellung der Mindestbelichtung verfügen, wären sie schon aus diesem Grund nur als Stall oder Lagerfläche zu bewilligen. Und da man durch solche Öffnungen eh nicht rausund schon gar nicht reinschauen will, stellt man konsequenterweise einfach die Stiege davor. Wobei der Begriff „Billigschiene“ im geförderten Wohnbau nicht falsch verstanden werden soll: Das humorig-provokante Zitat aus der DDR der 1950er-Jahre, die künstlerische Farbgebung der Fassaden im dezenten Blau-Gelb („da bin i her, da g’hör i hin“), das alles zeigt durchaus Anspruch. Allein die vorgesehenen Mietkosten von 4,20 Euro pro Quadratmeter sind jedenfalls skandalös: Für unnutzbare Schwarzbauten kann solches Entgelt nur als Wucher bezeichnet werden. N Dass im Zusammenhang mit dem Klimaschutz und der Wertsteigerung von Objekten die Sanierung von Gebäuden eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, scheint auf den ersten Blick weitestgehend bekannt: „Nachhaltigkeit“ ist ein inflationär gebrauchtes Wort. Bei näherem Hinsehen aber wird deutlich, dass auf politischer, wirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene hier noch gravierender Aufholbedarf besteht. Denn Modernisierungsmaßnahmen können nicht nur den Energieverbrauch von Gebäuden deutlich senken. Vielmehr geht es bei Immobilien doch um den Werterhalt und eine kontinuierliche Anpassung an den veränderten gesellschaftlichen oder technologischen Rahmen. Wer hier spart, spart eindeutig an der falschen Stelle. Die meisten kalkulieren heute nur mit den Investitionskosten und stellen keine Le- Nun ist es endlich so weit: Das neue Normengesetz tritt – mit wenigen Ausnahmen – am 1. April in Kraft. Dies ist nicht nur ein großer Erfolg für Anwenderinnen und Anwender von Normen, da diese zukünftig etliche Erleichterungen vorfinden werden – es ist auch gesellschaftspolitisch ein Umdenken eingekehrt. Anstatt jeden Handgriff und jeden Beistrich normativ regeln zu wollen, geht der Gesetzgeber nun zu einem ganz anderen Motto über: „So viele Normen wie nötig, so wenig wie möglich.“ Aus meiner Sicht eine Wendung um 180 Grad und ein großer Erfolg. Viele Forderungen der Kammern finden sich im Gesetz wieder. Was war passiert? Die Bundeskammer hat sektionsübergreifend an einem Strang gezogen, wichtige Allianzen geschlossen, Forderungen formuliert und diese gezielt, strategisch öffentlich kommuniziert. Es ist uns Plugin: Scriptographer (Illustrator CS5!) dadurch gelungen, politischen Druck aufzubauen, Raster der anderenfalls nicht hätte entstehen Objekt Punkt können. 5 mm Aus grmeiner Sicht war es ein „wegweisendes“ Gridsize 2/10% Projekt, in dem jedes Zahnrädchen fein abgestimmt in ein anderes griff. Ich wün- alles skaliert auf 60% > Punktgröße 0,3 mm sche mir, dass dieses Vorgehen vorbildhaft für alle weiteren Projekte der Kammer herangezogen wird, denn es zeigt deutlich: Im Verhältnis zu der Größe unserer Berufsgruppe können wir eine hohe politische Schlagkraft entwickeln, um maßgebliche Veränderungen herbeizuführen. Bedanken möchte ich mich bei Präsident Christian Aulinger und dem Vorsitzenden des Normen-Ausschusses, Erich Kern, sowie dem Generalsekretariat der Bundeskammer für die hervorragende Zusammenarbeit. Christoph Mayrhofer Sektionsvorsitzender Architekten der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien, Niederösterreich und Burgenland benszyklusbetrachtung an: Diese offenbart, wie das Haus am besten für zukünftige Anforderungen gerüstet und wie viel es die nächsten 50 Jahre kosten wird. Denken im Lebenszyklus würde zu einer anderen Verhaltensweise führen und einem Wertverlust entgegenwirken. Eine Rücklagenbildung zu diesem Zwecke ist – aus meiner Sicht – ein „Muss“. Der Ausschuss Nachhaltiges Bauen der Bundeskammer hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, Nachhaltigkeit als Denkmuster in Österreich zu fördern, in der Öffentlichkeit zu kommunizieren und damit auch Stakeholder wie Eigentümer/innen, Immobilientreuhänder und Hausverwaltungen zu überzeugen, die Sanierungsrate hierzulande anzuheben. Ich lade Sie daher herzlich ein, sich rege an unseren regelmäßigen Veranstaltungen zu beteiligen und dieses Ziel mit uns gemeinsam zu verfolgen. N Standpunkte

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Billig bauen Angesichts des rapide steigenden Bedarfs an leistbaren Wohnungen nicht nur für Zuwanderer, sondern auch für Geringverdiener wurden zahlreiche Initiativen – von Architekten und Architektinnen, Universitäten und auch von einigen Wohnbauressorts einzelner Bundesländer – gestartet. In ihren gestalterischen Ambitionen unterscheiden sie sich jedoch gravierend. Kostengünstiger Wohnbau muss nicht immer billig aussehen. Oder doch, damit er einer neuen Basisstrategie entspricht? Ein Dilemma – denn durch die „Vernormung“ ist „billig bauen“ kaum möglich, es sei denn, man speckt die Regelwerke ab und gibt der innovativen Planung den Vorzug. Vorrangiges Ziel aller am Bauen Beteiligten ist es, zu sparen. Mögen Kärntens Strukturschwäche und der aktuelle Finanzskandal noch mehr dazu beitragen, dass es hier schwieriger ist, andere Qualitäten in den Vordergrund zu bringen. Besagte Schwäche ist aber nicht nur die Ursache, sondern inzwischen vielmehr das Argument – besser die Ausrede dafür –, „billig bauen“ zu müssen. So, dass es für die Politik, auch angesichts des rapide steigenden Wohnbedarfs an leistbarem Wohnraum nicht nur in Kärnten, zur Basisstrategie wird, zu sparen – sozusagen als Ersatz für kompetente und gut durchdachte Konzepte. Besser brachial sparen als intelligent entwickeln? Eine Billigschiene im geförderten Wohnbau etablieren zu wollen, um den erforderlichen bezahlbaren Wohnraum ausreichend anzubieten, wird KEIn Lösungsansatz sein. Das gilt auch für aufgestapelte Containersiedlungen auf der grünen Wiese. Einsparungen beschädigen die Ausführungsqualität im Lebenszyklus und bringen den Wohnungssuchenden vielleicht eine minimale Reduktion im Mietpreis. Wir bräuchten eine grundsätzliche Umkehrrechnung der Wohnungswirtschaft – Innovationen in den Grundrissen, den Rahmenbedingungen und Anforderungen sowie in den Abwicklungsmodellen. In den letzten Jahren schafft es der Begriff der Nachhaltigkeit ein wenig, sich dieser strategielosen Strategie entgegenzustemmen. Im Grunde besteht die Idee einer zeitlichen Investitionsumkehr – zuerst mehr zahlen, dafür im Gesamtlebenszyklus weniger. Aber es gibt sie, die Strategien und möglichen Lösungen, meist von Architekten und Architektinnen, die über den eigenen Tellerrand hinausblicken. Wie etwa das im Jovis Verlag erschienene Buch „Refugees Welcome“, in dem Studentenarbeiten der TU Hannover präsentiert werden, zeigt: Wohnraum in Baulücken, in Messehallen, auf Fabrikdächern, in Schiffen und an weiteren für uns vielleicht heute undenkbaren Orten. Oder die Ausstellung „Fluchtraum Österreich“, die sich als Kommunikationsraum zwischen lokaler Bevölkerung und Asylwerbern versteht und andererseits das Thema Asyl als wichtigen Teil heutiger Raumplanung in den Architekturdiskurs einführt. Weg vom falsch verstandenen BILLIG BAUEn, hin zum angemessenen BILLIG BAUEn mit innovativen Konzepten, die nicht in Bücherregalen verstauben sollten – sondern viel - mehr am Puls der Zeit agieren und nicht differenzieren zwischen Flüchtlingen und einkommensschwachen Österreichern. Raffaela Lackner, Architektur Haus Kärnten N Wirklich billig? Klo am Gang, Kaltwasser, 65er Tür, 32Db, F0, kein C, kein I, schmaler Flur, für Rollstuhlfahrer, die gut rückwärtsfahren können, Einscheibenverglasung ,kalte Wand ohne VWS? Ja, das geht! Inklusive Aufenthalt in einer Strafanstalt für Planer, Entzug von Förderungen, und Lizenzen für Bauherren und Handwerker. Aber schön wär’s: Massivholzwände ohne Folien, verzogene Holzfenster, ohne Zwangsbelüftung und Klebeorgien, kühlere Raumzonen. Je nach Bedarf, man könnte … planen! Wer will das noch? Ewige Haltbarkeit und Garantie, alle Eventualitäten und alle Standards einzufordern, ist angesagt. Und zwar für alle und alles, nicht wie gerade vonnöten. Weniger wäre unzumutbar und billig. Aber was tun bei mehr Wunsch als Geld? Entweder mehr Geld oder weniger Wunsch! Die Abkürzung über schlechte Baukultur, sozusagen Einsparung der Ästhetik, wirft als Problem die Hässlichkeit auf, hilft aber nicht, da Hässlichkeit viel mit wenig Talent und wenig mit viel Kosten zu tun hat. Wichtig wäre den Dingen Wert zu schenken, sei es in der Planung, im Bau, in der Situierung. So entsteht Werthaltigkeit, anderenfalls Wertlosigkeit mit entsprechender Behandlung durch die Bewohner. Kurz: ein Wegwerfprodukt. Häuser, in denen Engagement und Empathie stecken, werden statt abgerissen adaptiert – re-used. Anfangs teuer, letztendlich billig. Das Teure versteckt sich heute in selbst geforderten Standards. So bauen wir auf höchstem Niveau die billigsten Hütten und sparen zugleich Planung ein, die im Begriff ist, durch Normung abgelöst zu werden, was nicht einmal Normenschöpfer wollen! Auf das Problem angesprochen, erläutert mir ein solcher sein oIB- Meisterwerk: ein Lichtschwert in den Händen eines Jedi-Ingenieurs. Flexibel und intelligent, präzise und offen zugleich. Eine scharf geschliffene Planungswaffe, jeden gordischen Detailknoten mit einem Schlag lösend. Dann allerdings, die Waffe aus der Hand gegeben, als Richtlinie in die Hände der Nicht-Jedis gerät das Schwert zum Besen des Zauberlehrlings, welcher Kreativität, Intelligenz und Fantasie zerstückelnd durchs Land fegt, mit der Überzeugung, im Sinne des Schöpfers zu handeln – er hat ja das Schwert … Also, zurück in die Zukunft: Weniger Norm, mehr Plan, weniger Industrie, mehr Handwerk, weniger Schichten, mehr Massivität, weniger Gewährleistung, mehr Toleranz, weniger Neubau, mehr Umbau, weniger Investition, mehr Architektur, sonst wird der billigste Wohnbau schlicht unleistbar! Roland Winkler, Architekt N 6 | 7 Plus / Minus

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wert / haltung Wenn viele etwas wollen, viele an einem Strang ziehen, Eigeninitiative und Solidarität zeigen, dann ist Großes möglich. Während anderswo Container als Wohn- und Lernräume für adäquat erachtet werden, haben in Innsbruck Studierende der Architekturfakultät, Architekt/ innen, Ingenieur/innen, Künstler/innen und Grafiker/innen eine Kunst- und Architekturschule für Kinder konzipiert und mithilfe zahlreicher Firmen, Handwerker und Freiwilliger in einem von der Stadt Innsbruck zur Verfügung gestellten Bauplatz im Rapoldipark errichtet. Das bilding eröffnet Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Zugang in Welten von Kunst und Kultur, es ist ein Kunstraum zur Erforschung von Malerei, Skulptur, Architektur und Medienkunst. Und es ist ein Stück Architektur und Ingenieurbaukunst, das beweist, dass auch bei knappen Ressourcen ausgezeichnete, positiv stimulierende Räume entstehen können. Im Juni wird das bilding zum Tiroler Architekturtage-Pavillon. Die Beiträge zum Thema wert/haltung zeigen den kollektiven Entwurfsund Bauprozess rund um das Projekt bilding. Dokumentiert wurde die Genese vom Fotografen Günter Richard Wett und dem studio 3. Mehr zum bilding ab Seite 24.

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Wie viel Wert hat Ihre Haltung? | Kultur bedeutet nichts anderes als den Wunsch, Wertvolles zu schaffen. Was passiert, wenn die Notlösung zum Standard erklärt wird? Christian Kühn ist Architekturwissenschaftler, Professor an der TU Wien und Studiendekan für die Studienrichtungen Architektur und Building Science, Vorsitzender der Architekturstiftung Österreich und Vizepräsident des Vereins Architekturtage. www.labiennale.org/ en/architecture/news/ 31-08b.html (3.2.2014) „We would like to learn from architectures that despite the scarcity of means intensify what is available instead of complaining about what is missing. We would like to understand what design tools are needed to subvert the forces that privilege the individual gain over the collective benefit, reducing We to just Me. We would like to know about cases that resist reductionism and oversimplification do not give up architecture’s mission to penetrate the mystery of the human condition. We are interested in how architecture can introduce a broader notion of gain: design as added value instead of an extra cost or architecture as a shortcut towards equality.“ www.labien nale.org/en/architec ture/news/31-08b.html (3.2.2014) „Less aesthetics, more ethics“, so betitelte Massimiliano Fuksas die von ihm im Millenniumjahr 2000 kuratierte Architekturbiennale. Wer erinnert sich noch an die lange Flucht von Projektionen in den Räumen des Arsenale, in denen Fuksas ein Weltpanorama der Architektur aufrollte? Ein Labor sollte diese Biennale werden, um die „planetare Dimension“ aktueller Probleme im Span nungsfeld von Umwelt, Gesellschaft und Technologie zu un tersuchen. Fuksas ist in der Umsetzung dieses Labors auf hohem Niveau gescheitert. Die Bilderflut überrollte die Besucher, ohne dass sich die Konturen einer Alternative zum laufenden Betrieb erkennen ließen. Ähnlich erging es wenig später Richard Burdett, der sich bei der Biennale 2006 zwar nicht auf den ganzen Planeten, aber immerhin auf dessen urbanisierten Teil konzentrierte. Heuer sucht Alejandro Aravena als Direktor der aktuellen Architekturbiennale einen anderen Zugang zum Thema. Am Planeten interessiert ihn nicht mehr die weltumspannende, gemeinsame Oberfläche, sondern die Grenzlinie in ihrer radikalsten Form, der Front. „Reporting from the Front“ klingt aus europäischer Perspektive im ersten Moment nach einem exotischen Thema, nach Frontlinien in Kriegsgebieten ferner Länder. Die Front impliziert Druck, dem standgehalten werden muss. Sie markiert die umkämpfte Grenze zwischen Eigenem und Fremden. In diesem Sinn ist die Front inzwischen auch in Europa angekommen. „Willkommenskultur“ war gestern: Diesen Begriff, Symbol für eine offene Gesellschaft, die bereit ist, etwas von ihrem Wohlstand abzugeben, um Fremde in Not aufzunehmen, wagt kaum mehr ein Politi - ker in den Mund zu nehmen. Heute wird quer über die Parteien über die Sperrung von Grenzen und die Errichtung von Zäunen nachgedacht. Diese Front ist nicht unbedingt identisch mit der von Aravena angesprochenen. In seiner Beschreibung des Themas 1 klingt die Vorstellung einer neuen Avantgarde der Architektur durch, die unter den Bedingungen des Ausnahmezustands mit frischen Ideen ans Werk geht. Der „Report from the Front“ soll – was nur auf den ersten Blick paradox erscheint – von den „Architekten ohne Grenzen“ kommen. Die Biennale möchte Ansätze präsentieren, von denen man lernen könne, „trotz knapper Ressourcen zu intensivieren, was verfügbar ist, statt über den Mangel zu klagen“. Es gehe um „die Werkzeuge, mit denen sich die Kräfte, die das ‚Ich‘ über das ‚Wir‘ stellen, subversiv umgehen lassen“, und um Fallbeispiele, die unter widrigen Umständen weiterhin „die Mission der Architektur verfolgen, das Mysterium der ‚conditio humana‘ zu durchdringen“. Ziel ist, ein Verständnis zu wecken für „Design als Mehrwert statt als zusätzlicher Kostenfaktor oder Architektur als ‚shortcut‘ zur Gleichheit“. 2 Das Ende der Stararchitekten So viel heroisches Pathos hat es seit Langem nicht mehr im Architekturdiskurs gegeben. Dass Avarena für diese Art von Engagement mit dem Pritzker- Preis ausgezeichnet wurde, beweist, dass die Zeit da für reif war, 15 Jahre, nachdem Fuksas die Formel „Less aesthetics, more ethics“ zur Diskussion gestellt hat. In diesen Jahren hat die Architekturgeschichte noch eine Hochkonjunktur des formalen Überschwangs untergebracht, zu der Fuksas selbst seinen Teil beigetragen hat, ein Jahr - zehnt der Groß- und Stararchitekten, dessen Zenit sich vor der Finanzkrise 2008 ankündigte und – bedingt durch die langen Produktionszyklen im Bauwesen – erst jetzt langsam an sein Ende kommt. Tatsächlich sind die Rahmenbedingungen für architektonische Glanzstücke nicht besonders günstig: Die staatlichen Kassen sind durch die Abfolge von Finanzkrisen seit Mitte der 1990er-Jahre ausgeplündert; private Bauherren sehen in Immobilien vor allem Betongold, was sich architektonisch in maximale Rendite bei minimalem Aufwand übersetzt; und selbst Oligarchen geben sich beschei - den und erweitern ihre Londoner Stadthäuser nach unten in Form palastartiger, aber von außen unsichtbarer Kellergeschoße. Was an Aufgaben für die Architektur übrig bleibt, ist daher wenig spektakulär, obwohl man davon ausgehen kann, dass das Volumen des Gebauten keineswegs dramatisch sinkt. In manchen Bereichen wie dem Wohnbau und in manchen Wachstumsregionen ist es sogar gestiegen, allerdings immer begleitet von einer Grundstimmung der Sparzwangs: Mehr Einheiten um weniger Geld. Ab wie viel Prozent Einsparung die architektonische Qualität verloren ist, lässt sich freilich schwer bemessen. Intelligentes Sparen, das schon bei der Aufgabenstellung ansetzt und nicht erst bei den Details, sollte zur Kernkompetenz guter Ar chitektinnen und Architekten gehören. Kosten treibende Baubestimmungen und Normen machen ihnen dennoch das Leben schwer, und der Ruf nach Standardisierung für die Massenproduktion, etwa im Wohnbau für „Arme und Asylberechtigte“, impliziert den Verzicht auf Architektenleistun gen, zumindest in der Form, wie wir sie bisher gewohnt waren. Wert in Gefahr Diese Entwicklung könnte tatsächlich zum Ende der Baukultur führen, denn Kultur bedeutet nichts anderes als den Wunsch, Wertvolles zu schaffen. Was im konkreten Fall unter „wertvoll“ verstanden 8 | 9 301 Wie viel Wert hat Ihre Haltung?

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Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Frankfurt am Main 1984, (vb) S. 481 wird, ist immer eine Aushandlungssache, von der die Entwicklung der Kultur lebt. Wenn aber die Notlösung zum Standard erklärt wird, ist der Wunsch, Wertvolles zu schaffen, an sich in Gefahr. Was übrig bleibt, ist gleichgültiges und gedanken loses Bauen, von dem es auch ohne Krise genug gegeben hat. Der Wert guter Architektur besteht aber genau darin, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Ludwig Wittgenstein hat auf diesen Zusammenhang in seinen Vermischten Bemerkungen hin ge wie sen: „Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Ge danken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“ 3 Mit dem Hinweis auf die Geste erinnert Wittgenstein daran, dass ein architektonischer Gedanke nicht vollständig in Sprache ausgedrückt wer den kann. Gesten erzeugen einen Raum und haben eine Form, und trotzdem sind sie, wie die Archi tektur, in ihrem Ausdruck immer mehr als Form und Raum. In der Liste der brauchbaren Antworten auf die Frage „Was ist Architektur?“ hat Wittgensteins Antwort einen Spitzenplatz verdient: Gute Architektur bedeutet, einen architek tonischen Gedanken über eine Art Geste mitzu teilen. Aber hat in dieser Definition nicht auch die Notlösung Platz? Warum sollte es nicht gelingen, gerade an der Front auf neue Ge danken zu kom men, auch solche, die sich importieren lassen in die Welt diesseits des Ausnahmezustands? Vielleicht geht es vor allem darum, die Übersicht über die Verhältnisse nicht zu verlieren und den Handel mit guten Gedanken zu fördern. Dann wäre der aktuelle Wechsel der Aufmerksamkeit der Architektursze ne hin zu kleinen, spontanen, partizipativen und temporären Interventionen mehr als nur eine Mode, die nach zwei Jahrzehnten Dominanz der Groß architektur kommen musste, sondern eine Erweiterung der Optionen. Voraussetzung dafür ist, dass sich die „gute Architektur“ nicht spalten lässt in eine ethische und eine ästhetische Liga, in denen sich die „Architekten ohne Grenzen“ und die Stararchitekten gegenseitig ignorieren und den Löwen anteil der Bauproduktion den Gleichgültigen überlassen. Um diese Grenze zwischen Gleichgültigkeit und dem Wunsch, Wertvolles auch unter schwie rigen Bedingungen zu schaffen, geht es den Architekturtagen 2016, wenn sie die Begriffe Wert und Haltung zum Thema machen. N Wie viel Wert hat Ihre Haltung?

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Architekturtage 2016 | wert / haltung Die Architekturtage finden seit 2002 biennal auf Initiative der Kammern der Architekten und Ingenieurkonsulenten und der Architekturstiftung Österreich statt. 3.6., ab 10:00 Der lange Weg zum neuen Zentrum: Film, Gespräch und Rundgang in Hohenems 4.6., 17:30 – 18:00 Platzvermessung: Tanz- und Musikimprovisation dem „Blauen Platz“ in Lustenau 3.6. + 4.6., ganztägig, ab 10:00 Salon Franziska: mobiles Café in der Riedenburgkaserne 3.6. + 4.6., ganztägig, ab 10:00 Happy Lab goes Architekturtage: eigene Entwürfe zeichnen und sie in die Realität umsetzen Unter dem Titel wert/haltung rückt die Rolle der Architektur in der Gesellschaft in den Mittelpunkt der diesjährigen Architekturtage. Was leistet Architektur, was leisten Architekt/innen für die Gesellschaft? Leistet sich die Gesellschaft genug Architektur? Baukultur ist ein Wert, der weit über einzelne, „schöne“ Gebäude hinausgeht. Sie ist die Grundlage einer Umwelt, die wir als lebenswert empfinden. Baukultur umfasst soziale, ökologische und ökonomische Aspekte, hat aber auch eine ästhetische und emotionale Dimension. Als gesellschaftlicher Prozess beeinflusst und prägt sie das Leben aller, erfordert aber auch das Engagement jeder/s Einzelnen. Diesen vielfältigen Aspekten spüren die Architekturtage in ganz Österreich am 3. und 4. Juni 2016 nach. www.architekturtage.at Vorarlberg Vielfach ökonomischen Interessen geschuldet, haben die Ortskerne in den letzten Jahrzehnten wichtige Funktionen und Qualitäten verloren. Gegenwärtig gibt es überall Versuche zur Wiederbelebung, teils von großem Engagement der Bevölkerung mitgetragen. Promenaden, Parks und Plätze – Orte der Betriebsamkeit und des Verweilens, für Begegnung und zur Erholung – bieten dem öffentlichen Leben eine Bühne. Die architektonische Gestaltung dieser Orte entscheidet mit, ob ein Lebensraum zur Heimat wird, indem er Kommunikation, Integration und Identifikation fördert, oder nicht. Fünf Fallbeispiele der Zentrumsbelebung im Rheintal stehen im Mittelpunkt des Programms: Hohenems, Rankweil, Lustenau, Lauterach und Wolfurt. Salzburg Ein leer stehendes Gebäude in der vom Bundesheer veräußerten Riedenburgkaserne dient als kreatives Zentrum für das Programm, welches in enger interdisziplinärer Kooperation mit Partnern aus Kunst, Kultur und Wissenschaft gestaltet wurde. Es ist Ausgangsort für Exkursionen im geistigen wie im physischen Sinn. Damit rücken die Diskussionen um Leerstand und die temporäre Nutzung von Räumen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Erkundungen des Stadtraums mittels Eye-Tracking- Systemen, kunsthistorische Wanderungen, Spaziergänge mit Flüchtlingen und Ausflüge in die Zukunft der E-Mobilität werden den Teilnehmer/ innen ganz neue Eindrücke ihrer Stadt liefern. Tirol Zentraler Treffpunkt in Innsbruck ist das bilding, die im Jahr 2015 errichtete Kunst- und Architekturschule für Kinder und Jugendliche im Rapoldipark. Die Architekturtage bieten die Möglichkeit, mehr über die Inhalte und die Entstehung dieser einzigartigen Einrichtung zu erfahren. Mit Workshops und Aktionen in und um das bilding wird es zum diesjährigen Architekturtage-Pavillon. Neben dieser Zentrale können an beiden Architekturtagen in Aldrans, Fließ, Hopfgarten, St. Johann in Tirol und Stams Ausstellungen besucht sowie an Führungen, Präsentationen und Vorträgen teilgenommen werden, die die vielfältigen Facetten von baukultureller wert/haltung behandeln. 3.6., 10 – 15:00 HoP on – HoP oFF „wert/haltung“: Geführte Bustour in Klagenfurt 4.6., 15:00 Virtual Materiality: Workshop und Videorauminstallation DoMEnIG STEInHAUS 4.6., 17 – 18:30 HERberge für Menschen auf der Flucht: Führung durch die neu adaptierte Unterkunft im Innsbrucker Saggen 4.6., 19:00 Lernen vom bilding: Vortrag von Wolfgang Pöschl und Helmut Spiehs; im Anschluss: Fest! Kärnten Das Programm macht Architektur und Baukultur zum Erlebnis zwischen den Generationen und den benachbarten Regionen. Dies geschieht bei Touren mit Bussen, Schiffen, auf dem Rad und zu Fuß, wobei unterschiedliche Aspekte des Umraums erfahr- und erlebbar gemacht werden. Zahlreiche Institutionen sind in das Programm eingebunden: Schüler und Schülerinnen, Studierende der Fachhochschule in Spittal an der Drau, das Treffen der Baukulturverantwortlichen in Velden am Wörthersee, das Volkskino in Klagenfurt mit Architekturfilmen u. a. m. Der Parkraum vor dem Architektur Haus Kärnten wird mit ressourcenschonenden Materialien transformiert und lädt zum Verweilen und Nachdenken ein. 10 | 11 301 Architekturtage 2016

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3. + 4.6. Erkundungen in Krems aus vielfältiger Perspektive: Leerstand, Hochwasserschutz, Umgang mit historischer Bausubstanz, Gestaltungsanspruch abseits des historischen Zentrums in Gewerbe- und Handelszonen, Neugestaltung des Südtiroler Platzes, neuer Kulturbau „Galerie Niederösterreich“ u. a. m. 4.6., 11:00 Führungen durch die Ausstellungen und Installationen in und vor dem afo 4.6., 13:00 STADTSPAZIERGAnG: Wertgeschätzte Altstadt, anschließend ZIMTkränzchen und abends Präsentationen von Architekt/innen und Politiker/ innen 2.6., 18:00 Werte schaffen – Architektur-Happen aus der Steiermark: Kurzvorträge von Architekt/innen im HDA, im Anschluss: Eröffnungsfest 3.6., 18 Uhr Haltung zeigen – Baukultur leben: Gespräch mit Baukulturexpert/innen und Vertreter/innen der öffentlichen Hand im HDA Niederösterreich Erstmals sind die Veranstaltungen der Architekturtage nicht über ganz Niederösterreich verteilt, sondern auf eine Stadt konzentriert: In Krems werden aktuelle Projekte, Bauten und Diskussionspunkte zu Themen, die für das ganze Bundesland von Bedeutung sind. Die Wahl fiel auf Krems, weil hier demnächst mehrere Großbauvorhaben realisiert werden und parallel dazu die Stadt tiefgreifenden Veränderungsprozessen unterworfen ist, die zwar europaweit wirken, denen aber trotzdem vor Ort begegnet werden muss. In Krems wird ergründet, was Architektur und Gesellschaft für unseren Lebensraum zu leisten fähig und bereit sind. Oberösterreich Der Aspekt der Zusammenarbeit steht im Fokus des Programms in Oberösterreich: Unsere Umgebung – Landschaft, Architektur, Städtebau – ist nicht aus einzeln isolierbaren Elementen zusammengesetzt, sondern Themen greifen ineinander, Nutzungen und Nutzer/innengruppen überschneiden sich. Gute Gestaltung ist deshalb nur als Gemeinschaftsleistung zu haben. Weniger Egoismus und Konkurrenzdenken, mehr offene Gespräche und Kooperationen sind gefragt! Es wird der Frage nachgegangen, welche Wertsteigerung sich erzielen lässt, wenn persönliche Haltung und gemeinschaftliche Entwicklung beim Planen und Bauen einander stärken und ergänzen. 2.6., 19:00 The Real Good Stuff – Bau- und Wohnmaterialien aus Nordwestpannonien: Ausstellungseröffnung 4.6, 9 – 17:00 Busexkursion / Neue Architektur in historischen Bauten im Nordburgenland Burgenland Der Fokus liegt auf traditionellen und auch innovativen Baumaterialien aus Westpannonien, die nicht zuletzt das Bild der gebauten Umwelt mitprägen. Diese werden in der zentralen Ausstellung „The Real Good Stuff“ in der Galerie „RaumBurgenland contemporary“ in Eisenstadt vorgestellt. Sie lenken den Blick auf die lokalen Materialien in ihrer Reinheit und geografisch nahen Habhaftigkeit. Ebenso bekommen auch Designmöbel und Beleuchtungen aus dem burgenländischen Umfeld ihre Plattform und zeigen den Interessierten ein Spektrum abseits der industriellen Normen auf. Exkursionen zu ausgewählten Firmen und Projekten ergänzen das Programm thematisch ebenso wie Filme und Vorträge. 3.6., ab 13:30 Tour Unternehmenskultur Wiener Gäste Zimmer, Gegenbauer, Architektur: heri&salli 4.6., 14:15 Fokus Aspern: Holzwohnbau, Architektur: querkraft/Berger + Parkkinen Wien In Wien bieten Bus- und Fußtouren zu den Themen Wohnbau, soziale Verantwortung, Bildung, gebautes Erbe, politische Verantwortung, Architektur und Energie sowie Unternehmenskultur Einblicke in Voraussetzungen, Planung und Umsetzung nachhaltiger Projekte – jeweils mit Ausklang in einem Architekturbüro. Fokusprogramme konzentrieren sich auf die Planungsgebiete Viertel Zwei, Sonnwendviertel und Seestadt Aspern. Das Programm wird ergänzt durch Grätzeltouren sowie Kinder- und Jugendworkshops. In bewährter Kooperation mit der Slowakei sind in Bratislava und Umgebung beispielhafte neue Wohn- und Bildungsbauten zu sehen. Steiermark Aus mannigfachen Perspektiven nähert sich das Programm den zentralen Fragen der diesjährigen Architekturtage: Was leisten Architekt/innen? Wie wird die Balance zwischen kulturellem und monetärem, zwischen individuellem und gemeinschaftlichem Wert gefunden? Wie kann in einer neoliberalen Effizienz- und Optimierungsgesellschaft architektonische Haltung bewahrt werden? Was wollen, sollen und können wir uns als Gesellschaft leisten? Was wird gebaut und was nicht? Wie wird Qualität gesichert und wer bestimmt, was Qualität ist? Diesen Aspekten wird bei Präsentationen und Diskussionen sowie zu Besuch bei Architekt/innen, auf Baustellen und fertiggestellten Projekten in der ganzen Steiermark nachgespürt. Architekturtage 2016

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Worauf bauen wir eigentlich? | Kleiner Diskurs über Bauen und Material „In Städtebau, Architektur, Kunst und Design (Tätigkeitsbereiche, die sich partiell überschneiden) basiert das Spiel mit Formen oder fernen Objekten auf einer bewussten Wahl und erhält seinen Sinn innerhalb privilegierter Milieus, die sich der unermesslichen Möglichkeiten bewusst sind, welche die allumfassende Öffnung des Planeten in theoretischer und idealer Hinsicht bietet.“ Marc Augé, Nicht-Orte, 1992 Klaus - Jürgen Bauer ist Architekt in Eisenstadt, Kurator der Architekturgalerie contemporary des Architektur Raumbur - genland und Autor der 2015 erschienenen Streitschrift „Entdämmt Euch!“ Was ist heute das mit Abstand wichtigste Material auf einer Baustelle? Richtig: der Kleber. Bauen heißt heute Kleben, und alles, was sich kleben lässt, lässt sich auch bauen, und da sich heute alles – wirklich alles – kleben lässt, lässt sich auch alles bauen. Wenn wir heutzutage bauen, dann sind wir völlig frei. Wir kennen keine Limits. Was uns als Architekten einzig einschränkt – eventuell einschränkt –, ist die Angst vor dem Diskurs. Es ist die Frage, ob unser Bauen innerhalb des von uns angestrebten Diskurses liegt. Dieser Diskurs könnte zum Beispiel lauten: Diskurs über diejenige Architektur, welche heute in Magazinen stattfindet. Gäbe es in diesem Diskurs doch noch relevante Li - mits durch Budgets oder Bauvorschriften, so gibt es keine Limits mehr in Fragen der Materialität. No limits anymore Früher war das anders. Damals, also vor der Zeit des Klebens, hieß Bauen Fügen. Fügen – also das sinnvolle, dauerhafte, ökonomische und inner - halb der Grenzen des Diskurses richtige, vielleicht sogar schöne (sic!) Zusammenbringen von Baustoffen – Materialien – zu einem sinnvollen Ganzen setzte bei allen Beteiligten – warum nicht auch beim Architekten – eine gehörige Portion Erfahrungswissen voraus. Es gab zwar nur eine Handvoll Baustoffe – Materialien –, aber die hatten es in sich. Baumaterialien waren ein teurer Faktor des Bauens, wenn auch nicht der teuerste. Am teuersten kam einem Bauherrn der Transport seiner gewünschten Baumaterialien von ihrem Abbauort – einem Steinbruch, einem Ziegelringofen, einem Wald – zur Baustelle. Alle anderen Faktoren spielten eine kleinere Rolle. Haustechnik gab es fast keine, die Arbeit erledigten Taglöhner, davon konnte man bekommen, so viele man wollte, zu billigen, wohlfeilen Preisen. Das ist übrigens auch der Grund, warum große Bauvorhaben zu allen Zeiten politisch relevante Konjunkturbeleber waren. Einige Spezialisten kosteten ihr Geld – Zimmerleute, Tischler, Schlosser –, deren Arbeit machte daher die limitierenden Attribute der Architektur aus, die Differentia. Mit dem mehr oder weniger kunstvollen Einsatz genau dieser Gewerke konnte man als Bauherr seinen Status festschreiben. Das Anwendungs- und Erfahrungswissen der am Bau beteiligten Planer, Maurer, Poliere etc. war daher entscheidend. Diese Anwender konnten inner - halb der architektonischen Ordnungen Varianten entwickeln, die wiederum der Differentia – also dem Alleinstellungsmerkmal des Auftraggebers – dienten. Im teuren Sektor der Materialität waren Experimente jedoch nicht erwünscht, denn diese hätten fatale Folgen für die Bauherren gehabt. Es war also neben der Zuverlässigkeit und dem Anwendungswissen der Be teiligten äußerst wichtig, geeignetes Material möglichst in der Nähe der Baustelle zu fin - den, um zumindest den großen Kostenfaktor Transport zu minimieren. Was die Architektur in ihrer etwa 14.000-jährigen Daseinsgeschichte bis vor Kurzem fast ausschließlich bestimmte, waren also eine Handvoll Materialien wie Holz, Ei - sen, Stein oder Kalk und vor allem deren Verfügbarkeit auf einem Bauplatz. Das richtige, dauerhafte und sinnvolle Fügen dieser kostbaren, weil teuren Materialien schuf in seiner Summe den Wert ei nes Bauwerks, das Erfahrungs- und Anwendungswissen aller Beteiligten war dazu unbedingt notwendig. Seitdem wir das Fügen durch das Kleben ersetzt haben, ist das anders. Formale Experimente sind heute sinnvoll und ausdrücklich erwünscht, denn sie erst bringen die notwendige Differentia im Architekturdiskurs. Die Kosten des Materials haben sich gegenüber den Lohnkosten marginalisiert. Transportkosten spielen eigentlich gar keine Rolle mehr. Der Entwurf – die formale Attitüde – ver - langt nach einem ganz bestimmten, blauen, grün geäderten Marmor? Kein Problem! Der Stein wird per E-Mail in Brasilien oder in China bestellt, verschifft, und dann per Lkw auf die Baustelle transportiert. Viele offene Hände – Zwischenhändler, Distributoren, Tankstellenpächter, Zöllner etc. – begleiten den Weg dieses blauen Steins. Die Kosten seines Transports sind vernachlässigbar. Das Wissen um seine Gewinnung am Abbauort ist vernachlässigbar. Das altmodische Anwendungswissen – also die Frage, wie mit genau diesem Stein richtig umzugehen ist – ist aus zwei weiteren Gründen vernachlässigbar. Erstens sind die etwa 30.000 Normen, die heute das Bauwesen alleine in Österreich regeln, sowieso von niemandem mehr in ihrer Gänze überschaubar, zweitens lässt sich ja sowie - so alles kleben! Das Produkt – und zwar jedes Produkt weltweit – kann daher aus einer rein formalen Überlegung heraus bei jedem Bauvorhaben auf diesem Planeten zur Anwendung gebracht werden. Die Industrien rüsten jedes Material mit Normen aus und liefern den passenden Kleber dazu. Mehr braucht der Anwender – warum nicht auch der Architekt – heute auf einer Baustelle nicht mehr zu wissen. Man kann dank des Klebers – vielleicht erstmals in der Menschheitsgeschichte – frei und unbeschwert seinen formalen Gefühlen folgen. 12 | 13 301 Worauf bauen wir eigentlich?

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Hochwertiges Material vor der eigenen Haustür: Blaudruckstoff und Natursteinmauerwerk aus dem Burgenland. No limits anyway – Distinktionen Thorstein Veblen, der diesen Begriff um das Jahr 1900 in unseren Diskurs einbrachte – hineinklebte –, stattete uns mit der Erkenntnis aus, dass wir in Dingen der Kultur und des guten Geschmacks – also auch in der Architektur – immer etwas Neues bräuchten, den Moden voraus sein müssten, vielleicht sogar selbst neue Moden schaffen sollten. Wir müssen uns unterscheiden, um zu sein. Das ist der Grund, warum wir Architekten heute formal auffällig bauen müssen. Der Kleber gibt uns ein wirkmächtiges Zaubermittel in die Hand und über Materialien muss man nicht mehr nachzudenken: Man wünscht sie sich und sie sind da. Das ist nicht nur bei den oben angeführten exotischen, blauen Steinen so, sondern auch bei scheinbar ganz ba - na len Baustoffen. Heute wird ein Großteil der Ziegel, die wir in Österreich bestellen und verbauen, nicht mehr irgendwo um die Ecke, sondern in Indien hergestellt. Man wünscht sich Ziegel, und sie sind da. Punktum. Das Unbehagen, das die Menschen in einem solch hochindustrialisierten Leben fühlen, erreicht viele Bereiche. Die letzten Jahre waren etwa durch In diesem Sektor ähnliche Diskurse im Bereich der Ernährung hat bereits ein und Lebensmittel bestimmt. Bewusstseinswandel eingesetzt. Lokale Produktionen, lokale Verteiler und eine Kon - trolle beziehungsweise eine Vermeidung von fragwür digen Zusatzstoffen in Lebens- und Genussmitteln sind mittlerweile fast schon in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Wie sieht das am Bau aus? Fragen wir uns auch dort ausführlich genug, woher unsere Materialien eigentlich kommen, welche Wirkungen und Nebenwirkungen ein kleberbasiertes Bauen haben könnte? Die Diskussion über Schimmelbildungen oder über voc, also über flüchtige, organische Verbindungen, die vor allem als Klebeverbindungen diffundieren und die Wohnumgebung des Menschen belasten können, steht eigentlich erst an ihrem Be ginn. Dieser Diskurs ist sicher noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das Bauwesen hinkt diesbezüglich hinterher. The real good stuff Mit dieser Problematik möchte sich nun eine Ausstellung des Architektur Raumburgenland anlässlich der Architekturtage 2016 auseinandersetzen. Die Frage lautet: Welche Baustoffe und Wohnmaterialien werden eigentlich in unserer eigenen Region hergestellt? Diese Frage ist durchaus berechtigt, denn – Hand aufs Herz – wir wissen das angesichts der weltweiten Verfügbarkeit von Baumaterialien einfach nicht (mehr). Wir bestellen, was wir möchten, alles ist verfügbar und kann geklebt werden. Wir haben keine Ahnung mehr, woher die Dinge kommen. Die Ausstellung mit dem programmatischen Titel the real good stuff soll anlässlich der Architekturtage sichtbar machen, welche Bauund Wohnmaterialien rund um uns produziert und hergestellt werden. Im Zuge der Recherchen für diese Ausstellung kommen wir drauf, dass vor unserer Haustüre relevante Bau- und Schmucksteine abgebaut werden (St. Margarethener Sandstein, Mannersdorfer Kalksandstein, Serpentinit aus Bernstein, Basalt vom Pauliberg etc.), wir lernen die Eigenschaften lo - kaler Sande kennen (St. Margarethener, Lackenbacher, Neustädter etc.) und vieles mehr. Kalk wird gebrannt, Schilfmatten vom See werden zu Dämmplatten gepresst, in Rothenturm befindet sich die einzige österreichische Klinkerproduktion eines Weltmarktführers. Holz wird gewonnen und verarbeitet, muss aber zum Schneiden außer Landes gebracht werden, weil es hierzulande oft keine passenden Sägen mehr gibt, Blaudruckstoffe werden in feinster 1a-Qualität hergestellt, währenddessen wir in Textilkatalogen blättern, Möbeldesign entsteht in Lockenhaus in höchster Qualität, mit Entwürfen heimischer Designer, die aber in London mehr Reputation haben als beispielsweise in Wien. In der geplanten Ausstellung werden daher die lokalen Materialien in ihrer Reinheit und geografisch nahen Habhaftigkeit gezeigt. Diese Materialien sollten eigentlich keine Mitbewerber unter vielen, sie sollten unser tägliches Baubrot sein. Sind sie aber nicht. Oft sind sie uns unbekannt geworden. Das ist schade, das sollten wir ändern. Bei Baumaterialien sollte uns durchaus recht sein, was uns mittlerweile bei Lebensmitteln billig geworden ist. N Worauf bauen wir eigentlich?

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Die Stadt als Reserve | Handlungsspielräume abseits der Verwertungslogik „ (…) Die Wünsche werden die Wohnung verlassen und dem Reich der Langeweile, der Verwaltung des Elends, ein Ende bereiten.“ Zitat aus Margrit Czenkis Film Park Fiction. Andre Krammer ist Architekt und Urbanist in Wien. „Was brauchen wir?“ oder „Was wünschen wir uns?“ Bereichernde Urbanität – verstanden als gesellschaftlicher Wert – ist abhängig von der Gleich zeitigkeit, der Nachbarschaft und der Durchlässigkeit unterschiedlicher Lebensentwürfe. Der Grad der Offenheit einer Stadtgesellschaft hängt von zwei Ebenen ab: Die Existenzsicherung ist nicht zuletzt auch mit der Verfügbarkeit von (leistbarem) Wohnraum für alle und einem breiten Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, insbesondere zu jenen der Bildung, verbunden. Die Entfaltungsmöglichkeiten des kulturellen Lebens sind nicht zuletzt vom Vorhandensein ausreichender Frei- und Handlungsräume außerhalb der Markt- und Wettbewerbslogik, denen sich Städte heute ausgesetzt sehen, abhängig. Doch sowohl Pflicht als auch Kür sind in der Die Verbetriebswirtschaftlichung gegenwärtigen Stadt keine Selbstverständlichkeit mehr. der Stadtverwaltungen, die Verschiebung von „welfare“ zur „workfare“ hat zur Reduktion urbaner Sozialpolitik und zur Dominanz privater Investition als Motor der Stadtentwicklung geführt. Kompetenzverschiebung Die Elbphilharmonie in Hamburg ist zum Symbol dieser Entwicklung geworden. Die Stadt Hamburg hat im Rahmen der öffentlich-privaten Partnerschaft, kurz öpp, hohe Risiken übernommen und musste, als die Baufirmen nach einer Kostenexplosion in Konkurs gingen, finanziell einspringen, um das Prestigeprojekt zu retten. Die Elbphilharmonie ist heute schon, bevor der erste Orchesterklang erklungen ist, ein Mausoleum öffentlicher Gelder, auch wenn das in einigen Jahren in Vergessenheit geraten sein mag. Die Zunahme von „Private Public Partnership“-Projekten ist eine Folge einer Kompetenzverschiebung von der nationalen zur supranationalen (eu) und zur subnationalen Ebene. Obwohl ppp-Projekte den Staat oder eine Gemeinde, uns alle, letztlich um 20 bis 30 Prozent mehr kos ten, werden diese in Kauf genommen, da sie im Rahmen der Maastrichtkriterien nicht als Mehr verschuldung gerechnet werden. Wachsende Kritik an der unternehmerisch orientierten Stadt hat zu Diskussionen geführt, wie künftig eine wieder verstärkt gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung aussehen könnte. Zunehmend unüberhörbar sind die Forderungen und Aktionen diverser zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich zu einer losen und vielstimmigen „Recht auf Stadt“-Bewegung versammelt haben. Aus diesen „Bottom-up-Bewegungen“ sind nicht nur neue Prak- 14 | 15 tiken der Raumaneignung hervorgegangen, sondern es wurden auch konkrete politische Forderungen, die sich an die Verwaltung richten, formuliert. Unter anderem wurde die Forderung nach einer transparenten und ausgleichend wirkenden Liegenschaftspolitik erhoben. „Stadt neu denken“ heißt eine politisch mittlerweile einflussreiche Berliner Initiative, die sich diesem Thema widmet. Auch Überlegungen zur Abschöpfung von Widmungsgewinnen werden – ebenso wie hierzulande – wieder diskutiert. Im Eigentum der Stadt – Liegenschaftspolitik Die Berliner Initiative „Stadt neu denken“ hat konkrete Konzepte für einen neuen Umgang mit kommunalen Raumreserven erarbeitet, die später weitgehend von der Berliner Senatsverwaltung übernommen wurden. Zentral war die Forderung eines transparenten, öffentlich einsehbaren Grundstückskatasters und eine Abkehr des bisherigen Primats der Veräußerung von Liegenschaften der Stadt an den Bestbieter. In einem Clusterverfahren sollen die Potenziale der einzelnen Grundstücke evaluiert werden, um festzustellen, welche sich für eine Eigennutzung – etwa durch landeseigene Wohnbaugesellschaften – eignen oder etwa für eine Direktvergabe unter der Berücksichtigung eines langfristigen, vertraglich abgesicherten Nutzungsund Bebauungskonzepts. Nur in begründeten Ausnahmefällen darf ein Verkauf über ein bedingungsloses Bieterverfahren erfolgen. Zielvorstellung dieser neuen Liegenschaftspolitik ist die langfristige Sicherstellung leistbaren Wohnraums, die Erhaltung sozialer Mischung und die Zurverfügungstellung geeigneter Immobilien für nicht kommerziell ausgerichtete Kulturinitiativen und Künstlergemeinschaften. Dem Portfolioausschuss des Senats wird dabei ein beratendes Gremium beigestellt, das sich aus Vertretern der Zivilgesellschaft zusammensetzt und demokratische Kontrolle sicherstellen soll. Auch der verstärkte Gebrauch des Erbbaurechts wurde gefordert. Damit ist ein Thema berührt, das auch in Österreich wieder diskutiert wird. Grundprinzip dieses juristischen Modells ist die Vergabe eines Baurechts auf einem Grundstück. Der Bau berechtigte erhält für einen bestimmten Zeitraum – meist zwischen zehn und 99 Jahren – Eigentums- und Nutzungsrechte über das von ihm errichtete Gebäude und zahlt der Stadt einen Bauzins. Der Baugrund bleibt dauerhaft der Spekulation entzogen, was wiederum zur Beruhigung des Immobilienmarktes beiträgt. Die Kommune behält ihre Baulandreserven in ihrer Hand und erhöht ihren Handlungsspielraum in der Bodenpolitik. Die Stadt als Reserve

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Der Mehrwert der Planung Doch auch andere Ausgleichsmaßnahmen werden wieder diskutiert. Die Stadtplanung wertet im Rahmen der Flächenwidmung und Errichtung neuer Infrastruktur laufend Grundstücke auf. Der dabei generierte Mehrwert fällt meist – auch hierzulande – dem jeweiligen Eigentümer zu. In Basel wird seit 1977 eine Mehrwertabgabe eingehoben. Die Hälfte des gutachterlich bestimmten Widmungsgewinns durch Planung wird abgeschöpft und fließt in ei nen Fonds, mit dem Investitionen im öffentlichen Raum, insbesondere Grünanlagen, finanziert werden. Auch diese Regulierung trägt zur Dämpfung der Im - mobilienspekulation bei, die heute ein zentrales Problem darstellt. Eine weitere Maßnahme stellt die Vergabe von zeitlich begrenzten Widmungen dar, eine Praxis, die auch gerade in Wien erprobt wird, da Widmungen aus strategischen Gründen oft nicht konsumiert werden, wodurch die in Zeiten prognostizierten Bevölkerungswachstums notwendige Baulandmobilisierung erschwert wird. Eine weitere Möglichkeit der Absicherung einer gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung stellen sogenannte „städtebauliche Verträge“ dar. Dabei handelt es sich um privatrechtliche Verträge, die von der Stadt im Zuge von Großprojekten mit den Projektbetreibern abgeschlossen werden, welche sich verpflichten, zusätzlich zum verwertbaren Volumen auch öffentliche Infrastruktur wie Verkehrsanlagen, soziale Infrastruktur, wie z. B. Kindergärten, oder auch einen festgelegten Anteil leistbaren Wohnraums für sozial Schwächere zu finanzieren und zu errichten. Vorteil dieser Verein- Auf einem von der Stadt Innsbruck zur Verfügung gestellten Bauplatz im Rapoldipark wurde eine Vision zur Realität. barungen wäre die unmittelbare räumliche wie ökonomische Bindung eines konkreten Projekts an gesellschaftliche und städtebauliche Mehrwerte. Wunschproduktion – was wollen wir? Ein weiteres Beispiel aus Hamburg ist zur Ikone einer alternativen Art der Stadtproduktion geworden. „Park Fiction“ ist der Name einer Mitte der 1990er-Jahre in St. Pauli/Altona ins Leben gerufenen Nachbarschaftsinitiative. Künstler, Musiker und Vertreter sozialer Einrichtungen schlossen sich zu - sammen, um die Bebauung einer letzten Freifläche am Hafenrand zu verhindern – was auch gelungen ist. In einem kollektiven Entwurfsprozess wurde ein Park konzipiert und umgesetzt. Begleitend wurde vor Ort ein „Infotainment“ organisiert, mit Vorträgen, Aktionen, Filmvorführungen und Ausstellungen, die sich mit der sozialhistorischen Bedeutung von öffentlichen Räumen befassten. Die In - itiatoren beriefen sich dabei auf die Theorien des Soziologen Henri Lefebvre, der in den 1960er-Jahren Kritik an technokratischen, am Fordismus orientierten Stadtmodellen mit der Forderung nach neuen Formen der Aneignung städtischer Räume durch Strategien einer kollektiven Wunschproduktion verband. Diesen Ansätzen folgend wurde in Hamburg ein Planungscontainer aufgestellt. Anwohner/ innen brachten ihre Ideen und Entwürfe ein. Es folgte ein langer und intensiver Entwicklungsprozess. 2004 wurde der sogenannte Antonipark schließlich realisiert. 2013 wurde der Park in „Gezi- Park Hamburg“ umbenannt, aus Solidarität mit Protestierenden in Istanbul. Die Stadt als Reserve

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Die fortlaufende Geschichte dieser Form Handelt es sich auf kollektiver Stadtproduktion ist aus doppelter der einen Seite Sicht interessant. um eine Erfolgsgeschichte, so wurde gleichzeitig spürbar, wie schnell alternative Praktiken vereinnahmt werden können, wenn eine auf Marketing ausgerich -tete „Imagecity“ – wie der Künstler und Mitinitiator Christoph Schäfer diese polemisch genannt hat – diese für sich nutzbar zu machen sucht. Das Problematische daran ist, dass Projekte dieser Art so auch ein Stück weit ihres Potenzials beraubt werden, den Status quo infrage zu stellen. Anders wohnen Dass auch das Wohnen abseits der Verwertungslogik und einer sozial orientierten kommunalen Wohnbaupolitik realisierbar ist, hat das 1999 in Deutschland gegründete „Mietshäuser Syndikat“ bewiesen. Die Vereinigung – eine nicht kommerzi - ell ausgerichtete Beteiligungsgesellschaft ohne eigenes Kapital – hat eine rechtliche Konstruktion entwickelt, deren Ziel es ist, Gebäude dem Immobilienmarkt dauerhaft zu entziehen und somit leistbaren Wohnraum mit einem gleichbleibend niedrigen Mietniveau zu schaffen. Eigentümer der Elbphilharmonie: Die Stadt Hamburg musste, als die Baufirmen in Konkurs gingen, finanziell einspringen, um das Prestigeprojekt zu retten. jeweiligen Immobilie ist die eigens gegründete Haus GmbH, als deren Gesellschafter sowohl der Verein, der sich aus der Hausbewohnerschaft zusammensetzt, fungiert als auch als zweiter Gesellschafter das Syndikat. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben einen Mietvertrag mit der Haus GmbH, bestimmen aber gleichzeitig als Vereinsmitglieder selbst, welche Mieter zukünftig aufgenommen werden, die Höhe der Miete und entscheiden kollektiv über alle Gestaltungsfragen und Baumaßnahmen. Mit Auszug enden alle Rechte. Das Syndikat wiederum garantiert durch sein Vetorecht die Unveräußerlichkeit des Gebäudes, unabhängig vom etwaigen Verwertungsinteresse künftiger Nutzer. Was von der Gemeinschaft errichtet wurde, soll im Besitz der Gemeinschaft bleiben. Die Finanzierung des Projekts wird über Darlehen gewährleistet, die sich zu 20 Prozent aus Mikrokrediten zusammensetzen, die von Freunden, Bekannten und Fami-lienmitgliedern der Bewohner/innen aufgenommen wurden, sowie zu 80 Prozent über einen Grundschuldkredit einer Bank. Die Hürde, ausreichend Eigenkapital aufzubringen, wird nicht von Einzelpersonen getragen, sondern von der Gruppe als Ganzes und einem Solidarfonds, der sich, nach Rückzahlung der Kredite, aus Mietüberschüssen speist und auch für Anschubfinanzierungen neuer Projekte verwendet wird. Das Syndikat hält heute 103 Häuser, 16 davon in Berlin, in denen mehr als 2300 Menschen wohnen. Jenseits alter Antagonismen „Bottum up is not enough“ lautete jüngst der Titel eines Vortrags der Architekturhistorikerin Michelle Provoost. Die oben angeführten Beispiele verdeutlichen, dass die Frage, was Städte künftig für die Ge - sellschaft leisten können, sowohl die Verwaltungsebene als auch die zivilgesellschaftliche Sphäre berührt. Neue Formen einer urbanen Praxis, die auf Selbstermächtigung und Aneignungsstrategien setzen, und konkrete politische Forderungen gehörten demnach dialektisch und in ihren Zusammenhängen betrachtet, um emanzipatorische Prozesse dauerhaft zu stützen. Ein Beispiel wäre der Umgang mit Leerstand, insbesondere wenn sich die Gebäude im öffentlichen Eigentum befinden. Nicht kommerziell orientierte Zwischennutzungen sind aus Sicht der Verwaltung heute oft Übergangslösungen, Ausnahmefälle, die möglichst rasch wieder in die Normalität zu integrieren sind. Nach dem Motto: Die Künstler, die durch ihre Anwesenheit und Arbeit die Immo bilie gerade noch aufgewertet haben, ziehen aus, und die Firma zieht ein. Eine konkrete Forderung wäre die Ermöglichung einer dauerhaften urbanen Wunschproduktion jenseits der Verwertungslogik auch durch die Stadtverwaltung. Der alte Antagonismus zwischen Politik und Planung auf der einen und zivilgesellschaftlicher Raumaneignung auf der anderen Seite wäre zu überwinden. Voraussetzung wäre allerdings eine Begegnung der Akteure auf Augenhöhe. N Der Holzbau im weißen Folienmantel wurde vom Kollektiv der Studierenden und Dank der unentgeltlichen Leistung von Statikern, Architekten und Fachplanern zur Baureife gebracht. 16 | 17 Die Stadt als Reserve

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Die Stadt als Reserve

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Wohnqualität lässt sich nicht verordnen | 20 Jahre Wiener Bauträgerwettbewerb und Grundstücksbeirat Reinhard Seiß ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist; er präsentierte in seinem jüngsten Film „Häuser für Menschen“ vorbildliche Modelle des sozialen Wohnbaus (DVD, 125 min, www. muerysalzmann.at). Cornelia Schindler, Studium der Architektur an der TU Wien, führt seit 2000 mit Rudolf Szedenik das Büro S & S Architekten, seit 2015 die ss | plus ZT GmbH in Wien; Arbeitsschwerpunkt im sozialen Wohnbau, insbesondere Passivenergie- und Mitbestimmungsprojekte, u. a. Autofreie Mustersiedlung (2000) und „so. vie.so. mitbestimmt“ (2013 ); seit 2009 Mitglied des Wiener Grundstücksbeirats, seit 2012 stv. Vorsitzende. Walter Koch, Studium des Bauingenieurwesens an der TU Wien, Ziviltechniker; seit 1994 bei der Gemeinnützigen Bau- u. Wohnungsgenossenschaft „Wien-Süd“, seit 2005 Mitglied des Vorstands und stv. Obmann. Nikolaos Kombotis, Studium der Architektur an der TU Wien; seit 1971 Mitarbeiter im Büro Harry Glück, Projektleiter bei zahlreichen sozialen Wohnbauten, insbes. im großvolumigen Wohnbau, u. a. Terrassenhäuser Engerthstraße. Robert Korab, Studium der Physik und Wissenschaftstheorie an der Universität Wien; Mit begründer und Vorstandsmitglied des Wohn- und Kulturprojekts Sargfabrik; seit 2001 selbstständiger Wohnbauentwickler und -berater, Büro raum & kommunikation; 1995 – 2002 und 2009 – 2015 Mitglied des Wiener Grundstücksbeirats. Um im sozialen Wohnbau Qualität und Innovation zu fördern, aber auch Kosten zu senken, setzt die Stadt Wien auf die Instrumente Grundstücksbeirat und Bauträgerwettbewerb. Nach 20 Jahren ziehen vier Akteure des Wiener Wohnbaus Bilanz – und diskutieren über künftige Herausforderungen ihres Metiers sowie die Rolle der Architektenschaft. Vorbemerkung der Redaktion: Diese Diskussion basiert großteils auf einem längeren Gespräch, das Reinhard Seiß 2014 für das von ihm herausgegebene Buch „Harry Glück. Wohnbauten“ führte. Um es anlässlich des 20-jährigen Be stehens des Wiener Grundstücksbeirats sowie der Bauträgerwettbewerbe einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, entschlossen sich der Autor und die Redaktion des konstruktiv zu einer aktu alisierten Neuveröffentlichung. Wir meinen, dass diese kritische Auseinandersetzung von intimen Kenner/innen des geförderten Wohnbaus in Zeiten eines angespannten Wohnungsmarkts und den damit verbundenen Diskussionen über leistbares und qualitätvolles Wohnen ein Anstoß für weitergehende sachliche Debatten sein kann. Wie sehr der Wohnbau derzeit weniger Gegenstand konstruktiver Sachlichkeit als Spielball po - li tischer Interessen ist, zeigte sich, als vor Redaktionsschluss zwei Presseaussendungen einer der beiden Wiener Oppositionsparteien eintrafen. Als Reaktion auf eine Pressekonferenz der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien, Niederösterreich und Burgenland zum Thema „Konstruktion von Bauskandalen auf Kosten der Steuerzahler und Planer“ gingen die Aussender keineswegs auf die tatsächlich von den Kammervertretern angeführten Fakten ein, sondern stellten Verbindungen zum eingangs erwähnten Buch und dem darin abgedruckten Gespräch her, aus dem Walter Koch, Cornelia Schindler, Nikolaos Kombotis, Robert Korab (v. l. n. r.) sie völlig zusammenhanglos und sinnentstellend „zitierten“, um daraus politisches Kleingeld zu machen. Die Wiener Kammer hat sich in der Zwischenzeit gegen jede parteipolitische Vereinnahmung verwehrt. Und die Redaktion des konstruktiv möchte ins Bewusstsein rufen, dass der politische Missbrauch der Kritik von Expert/innen dazu führen kann, dass manche ihre Kritik künftig nicht mehr öffentlich äußern – was ein demokratiepolitischer Schaden wäre. Links zu den betreffenden Presseaussendungen finden Sie unter www.daskonstruktiv.at in der Onlineversion dieser Ausgabe. Seit 1995 entscheidet der Wiener Grundstücksbeirat bei allen Wohnbauvorhaben mit bis zu 300 Wohnungen (ausgen. Einfamilien- und Kleingartenhäuser sowie Dachgeschoßausbauten) nach architektonischen, ökonomischen, ökologischen und seit 2010 auch nach sozialen Qualitätskriterien über die Gewährung von Wohnbauförderung. Das Gremium besteht aus Architekten, Bauträgern, Freiraumplanern, Ökologen, Bautechnikern und Fachbeamten. Bisherige Vorsitzende: Kunibert Wachten, Wolf D. Prix, Elsa Prochazka, Elke Delugan-Meissl, Dietmar Steiner, Kurt Puchinger. Seit 1995 schreibt Wien Bauträgerwettbewerbe für Wohnbauvorhaben mit mehr als 300 geförderten Wohnungen zwingend vor. Dabei konkurrieren Bauträger in Projektpartnerschaft mit Architekturbüros um die einzelnen Bauplätze eines meist größeren Entwicklungsgebiets. Auslober ist der Wohnfonds Wien, z. T. in Kooperation mit dem Grundeigentümer. Der Kern der Wettbewerbsjury besteht aus Mitgliedern des Grundstücksbeirats sowie einem Vertreter des jeweiligen Bezirks. 18 | 19 301 Wohnqualität lässt sich nicht verordnen

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Reinhard Seiß: Grundstücksbeirat und Bauträgerwettbewerbe bewerten Wohnbauprojekte nach bestimmten Kriterien, die allerdings viel Interpretationsspielraum lassen. Wie darf man sich die Beurteilungspraxis vorstellen? Cornelia Schindler: Es sind zwangsläufig oft Trends und Moden, die über die Projekte entscheiden, und manchmal auch persönliche Vorlieben von Juryund Beiratsmitgliedern – oder eben deren persönliche Aversionen. Ich weiß noch, wie auch wir in unserem Büro in den 1990er-Jahren den lange Zeit verpönten Mittelgang zu neuem Leben erweckt haben, weil er einfach eine sehr ökonomische Erschließungsform ist. Die muss nicht zwingend eng und finster sein – wir verschafften ihr mehr Belichtung, Durchblicke und räumliche Qualitäten. Trotzdem sind wir damals damit bei den Bauträgerwettbewerben komplett abgeblitzt. Erst um 2000 herum hat man gespürt, dass man mit einem Mittelgang auch wieder einen Wettbewerb gewinnen kann. Bis dahin wäre das undenkbar gewesen. Nikolaos Kombotis: Die jeweiligen Moden nicht mitzumachen und sich aus dem architekturfeuilletonistischen Diskurs auszuklinken wird von den Gremien, Beiräten und Wettbewerbsjurys, die über den geförderten Wohnbau entscheiden, oft als Verweigerung von Architektur empfunden. Mit einem Entwurf, der sich als Dienst an künftigen Bewohnern versteht, können sie nichts anfangen. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf dem Äußeren eines Hauses. Wie oft haben wir im Grundstücksbeirat gehört: „Die Grundrisse und die Freiräume sind in Ordnung, aber der Bau hat nicht die formalen Qualitäten, die wir uns für die Stadt erwarten.“ rs: Es geht im Grunde also um Geschmacksfragen? Robert Korab: Es ist besser geworden. Aber in den 1990er- und 2000er-Jahren lag der Fokus schon sehr auf den formalen Qualitäten von Architektur. Architekten wie Wolf D. Prix, Architektinnen wie Elsa Prochazka oder Elke Delugan-Meissl haben mit ihrem Verständnis von Architektur schon sehr klar den Ton im geförderten Wohnbau angegeben – und vieles davon Abweichende war völlig verpönt. Das war ein regelrechter Glaubenskrieg. Autofreie Mustersiedlung, s+s architekten, 1999 Walter Koch: Wenn damals über Wohnbau gesprochen wurde, ging es viel zu oft nur um Architektur und ganz am Schluss vielleicht noch darum, wo-zu wir das eigentlich machen, nämlich, dass in diesen Häusern dann Menschen wohnen, die zufrieden sein wollen. Ich kann nur sagen, dass jene unserer Wohnbauten, die am schnellsten verwertet waren und bis heute am besten funktionieren, architektonisch nicht die spektakulärsten sind – aber die höchste Wohnzufriedenheit zeigen. rs: Inwieweit reichen die Beurteilungskriterien aus? Die soziale Komponente kam im Grundstücksbeirat vor sechs Jahren hinzu, die städtebauliche Dimension kommt in den neuen Wohnvierteln für meine Begriffe aber nach wie vor viel zu kurz. cs: Also Gemeinschaft und Soziales haben aktuell wieder einen hohen Stellenwert, im Vergleich zu vor ein paar Jahren sogar einen sehr hohen. Beim Städtebau war es bisher halt so, dass wir den erst diskutiert haben, wenn er im Prinzip schon entstanden ist, nämlich nach der Flächenwidmung und der Objektplanung. In den Bauträgerwettbewerben wurden Gebiete mit 1.000 oder noch mehr Wohn ungen auf sechs, sieben, acht Bauplätze aufgeteilt und dafür dann fixfertige Projekte gemacht – und am Schluss hieß es: „Könnt ihr euch untereinander abstimmen?“ Ich meine, da brauchen wir gar nicht weiter darüber reden, warum so keine Stadt entsteht. Beim Viertel am Nordbahnhof z. B. kann ich die einzelnen Objekte schön oder nicht schön finden, aber es ist in keinem Fall ein Quartier, es ist in städtebaulicher Hinsicht ein etwas chaotisches Irgendwas. rk: Wobei man schon sagen muss, dass die städtebauliche Dimension im Wohnbau nun wieder zunimmt, vor allem mit den neuen zweistufigen Wettbewerbsverfahren. cs: Wollte ich gerade sagen. Natürlich haben wir auch im Grundstücksbeirat diese unbefriedigende Situation immer wieder diskutiert. Darum gibt es jetzt die zweistufigen, dialogorientierten Bauträgerwettbewerbe, die auch ein übergeordnetes – wenn man so will – städtebauliches Konzept umfassen. Dabei werden schon in der ersten Stufe quartiersrelevante Themen abgefragt, die dann in der zweiten Stufe im Dialog weiterentwickelt werden. Die städtebaulichen Rahmenpläne für neue Entwicklungsgebiete sollen mit ihren urbanistischen Anforderungen künftig auch vertraglich abgesichert werden. Ich hoffe nur, dass man das in den neu entwickelten Gebieten irgendwann auch einmal ablesen kann. Wohnqualität lässt sich nicht verordnen

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rs: Hat das schon irgendwo Anwendung gefunden? cs: Es kommt bei drei aktuellen Projekten zum Tragen: beim „Wohnen am Marchfeldkanal“, bei „In der Wiesen Süd“ sowie derzeit bei „Neu Leopoldau“. Und wir erkennen schon jetzt, dass es zum Teil noch Nachjustierungsbedarf gibt. Aber ich hoffe doch, dass man es künftig in diesen Gebieten auch einmal ablesen kann. rk: Die Lösung städtebaulicher Aufgaben wird immer mehr auf den Wohnbau abgewälzt, auch weil die Finanzierbarkeit des öffentlichen Raums und der sozialen Infrastruktur durch die öffentliche Hand immer weniger gegeben ist. Da bewegen wir uns auf eine Situation zu, in der nicht mehr die Stadt allein zuständig ist für die Qualität des Ganzen, sondern zunehmend mehr Akteure. Der städtebauliche Anspruch ist im sozialen Wohnbau auch nichts Neues. Vor allem im Roten Wien, mitunter aber bis in die frühen 1980er-Jahre gab es bei den großen Wohnbauten Geschäfte, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen – und entsprechende Freiräume. Da entstanden Strukturen, die mehr waren als nur Wohnbau. Aber diese städtebauliche Dimension ist in Wien abhandengekommen. Ab den 1990er-Jahren ist es nur noch um das Haus gegangen und nicht mehr um das Umfeld, um das Ganze. Als ob man gedacht hat: „Ich stelle eine Wohnsiedlung neben die andere und dann wird daraus schon eine Stadt.“ Dabei ist es gerade in den Stadtrandgebieten umso wichtiger, sich zu überlegen, wie man ein urbanes Gebilde überhaupt formen kann. cs: Wir reden immer von Urbanität und von Stadt, dabei ist uns doch vieles abhandengekommen, was das ausmacht. Wir sollten einmal eine Analyse wagen, was denn in unseren Neubaugebieten überhaupt möglich ist beziehungsweise welche Voraussetzungen es bräuchte: günstige Erdgeschoßlokale oder Flächen, die nicht fix vergeben werden und so leichter umnutzbar bleiben, et cetera et cetera. Ständig diese hehren Begriffe vor uns herzutragen, denen wir nie gerecht werden, sobald wir versuchen, sie mit Inhalten zu füllen, bringt uns nicht weiter. Wienerberg City, div. Architekten, 2004 – 2005 rs: Der Begriff Urbanität wird in Wien tatsächlich höchst inflationär und beliebig verwendet – und das in allen Lagern. cs: Wir haben in einem kooperativen Planungsverfahren in der Scherbangasse versucht, im 23. Bezirk, wo 1.400 Wohnungen entstehen, ansatzweise Stadträume zu schaffen – natürlich nicht nur gestalterisch, sondern vor allem funktional. Üblicherweise baut jeder auf seinem Grundstück seine eigenen Gemeinschaftseinrichtungen. Wir und die anderen drei Büros bemühen uns aber, so viel an gemeinschaftlichen Flächen wie nur möglich aus den einzelnen Projekten herauszulösen und in der Scherbangasse – das ist eine verkehrsberuhigte Gasse, die wirklich noch etwas mit einer klassischen Straße zu tun hat – gebündelt anzusiedeln, sodass etwas Größeres, quartierübergreifend Wirksames entsteht, statt dem üblichen Nebeneinander von separierten Einrichtungen. nk: So beschränken sich die nachbarschaftlichen Kontakte nicht nur auf eine Stiege, sondern können über ein ganzes Viertel verteilt entstehen. wk: Für mich ist momentan überhaupt die wichtigste Frage in der Architektur, wie Menschen in einem Haus und darüber hinaus in einer Nachbarschaft zusammenleben, wie sie miteinander kommunizieren und was man tun kann, dass sie sich kennenlernen. Als ein Schlüssel zu einer Gemeinschaft unter den Bewohnern hat sich z. B. das Schwimmbad erwiesen – als ein Ort der zwanglosen Begegnung und Kommunikation. Da gibt es bestimmt auch noch andere Zugänge – und immer mehr Architekten versuchen in ihren Wohnbauten so eine Schlüsselfunktion zu integrieren. Andere Planer geben darauf wieder überhaupt nichts. Denen geht es nur um die Fassade oder um ein Architekturdenkmal. Und das zweite aktuelle Thema ist für mich, wie wir leistbaren Wohnraum schaffen können, ohne die Qualität herunterzufahren. Und da, Swim & Bike, Vorgartenstraße Günter Lautner, Nicolaj Kirisits, 2012 muss ich sagen, überrascht es mich immer wieder, wie wenig Bedeutung die meisten Architekten diesem Thema schenken. Kaum einer will und kann seine Konstruktion, seinen Entwurf Punkt für Punkt durchrechnen, was es an Flächen, an Lauf- 20 | 21 301 Wohnqualität lässt sich nicht verordnen

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metern, an Baustoffen braucht und was diese kosten, um Wohnungen zu errichten, die auch wirklich funktionieren. rs: Und? Was macht ein kosteneffizientes Gebäude aus? wk: Die Antwort klingt komplett banal. Zum einen geht es darum, mit möglichst wenig Baumaterial möglichst viel Nutzfläche zu erzeugen. Und zum anderen gibt es die statische Komponente: Die Schwerkraft wirkt nun einmal zum Erdmittelpunkt. Das heißt, man muss die Lasten von oben nach unten so ablenken, dass sie möglichst geradlinig verlaufen, denn jede Umlenkung bedeutet wiederum mehr Bewehrungseisen, größere Baukörper dicken und so weiter. rs: Also tunlichst keine schiefen oder aufgeständerten Bauten, keine effektvollen Verbindungsbrücken und keine übertrieben auskragenden Gebäudeteile? Wohnzimmer Sonnwendviertel, Klaus Kada, Riepl Kaufmann Bammer, Studio Vlay, 2013 wk: Da gibt es tausend Möglichkeiten, verbissen gegen die Schwerkraft anzukämpfen. Es ist nur kostenmäßig fatal. Darum sollte man sich das im sozialen Wohnbau sparen. Und das Dritte sind die Installationen, sprich: Wie bekomme ich alle Zuwässer und Abwässer möglichst effizient rauf und runter? Am besten natürlich mit geradlinigen Strängen bis in die Tiefgarage. Da ist es also wenig hilfreich, wenn Architekten ihr Hauptaugenmerk darauf richten, dass in ihrem Wohnbau kein Grundriss dem anderen gleicht. Ich kenne nur ganz wenige Architekten, die sich mit diesen wirtschaftlichen Fragen analytisch und strukturiert auseinandersetzen. Viele glauben, sie wissen, wie man billig baut, aber so richtig kann das fast niemand. Und ich befürchte, dass das auf der Prioritätenliste der meisten Planer auch nicht ganz oben steht. nk: Es genießt auch wenig Stellenwert in der Architektenschaft, sich damit zu beschäftigen. Weder in der Lehre, noch in der Forschung und schon gar nicht in der Praxis. cs: Seitdem Rudi Szedenik und ich Wohnbau machen, sehen wir uns vor allem als Dienstleister. Das darfst du vor manchen Architekten aber nicht laut sagen, denn das heißt ja automatisch, dass du ein schlechter Architekt bist. Wenn du Mitbestimmungsprojekte machst, musst du dich allerdings als Dienstleister sehen – was bei einigen Kollegen bis heute verpönt ist. Deren Selbstbild ist noch immer: „Wir machen schon sehr geile Häuser!“ rs: Ist das ein Spezifikum der Wiener Szene? Friedrich Kurrent bezeichnet den Zwang zum Äußerlichen in der Architektur, zur Produktion von Oberflächen, hinter denen nicht viel steckt, ja sogar als „Wiener Krankheit“. cs: Da mag schon etwas dran sein. Es gilt bei vielen ja auch als verpönt, sich zu wiederholen. Früher war es ganz normal, dass ein Büro gewisse Standards hatte, die von Projekt zu Projekt weiterentwickelt wurden. Ich persönlich habe jedes Mal, wenn ich ein Projekt zeichne, das Problem, dass im Endeffekt immer wieder dasselbe dabei herauskommt – adaptiert für einen anderen Ort, mit anderen städtebaulichen Lösungen, mit unterschiedlichen Elementen, aber schlussendlich doch inhaltlich sehr ähnlich dem, was ich schon die letzten zwei, drei Male gemacht habe. Und ich denke mir immer öfter: In welcher Welt leben wir eigentlich, dass man Dinge, die einem wichtig sind, weil sie fürs Wohnen wichtig sind – und nicht für die Attitüde oder die große Geste –, nicht mehr in Ruhe und im eigenen Rhythmus weiterentwickeln kann? Dass man nicht jedes Mal alles spektakulär verändert, sondern im Detail feinjustiert, damit es noch besser funktioniert. Etwas zu wiederholen traust du dich heute ja gar nicht mehr. Denn dann heißt es sofort: „Fällt dir denn nichts mehr ein?!“ Aber es kann ja nicht jeder ein jedes Mal das Rad neu erfinden. nk: Wenn ich weiß, dass aufgrund dieser und jener Voraussetzungen, die ich schaffe, optimale Wohnverhältnisse entstehen, wenn ich weiß, dass ich die Menschen damit zufriedenstelle, warum soll ich es nicht wiederholen? Erst wenn ich über einen längeren Zeitraum ein System entwickle und mehrfach anwende, kann ich es auch evaluieren, kann ich aus meinen Fehlern lernen und es verbessern. Wenn ich jedes Mal ein Unikat, einen Prototyp schaffe, kann nichts Ausgereiftes entstehen. Man gewinnt erst im Laufe der Zeit Erfahrungen. Und wenn sich ein Konzept als richtig erwiesen hat und man damit Erfolg hat, nicht als Architekt, sondern in dem Sinn, dass die Bewohner zufrieden sind, warum soll man es dann umschmeißen? Man muss sich ohnehin permanent anpassen – an die technologischen Entwicklungen, an die Bauordnung oder an die Auflagen aus den oib-Richtlinien. Also ein gewisser Entwicklungsprozess ist allein schon von daher ohnedies gegeben. Doch man darf speziell im Wohnbau das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Kollegen sagen oft, dass das, was die Wohnqualität lässt sich nicht verordnen

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22 | 23 Leute wollen, was die Leute zufriedenstellt, nicht innovativ ist. Aber was heißt innovativ? Soll ich die Bewohner unglücklich machen, damit meine Architektur innovativ ist? Und da gibt es noch ganz andere Aussagen, z. B.: „Man muss die Menschen zum Wohnen erziehen.“ Was bitte soll das? rk: Ich glaube, dass die deutlich gestiegene Vielfalt an Wohnbauten und Wohnformen schon auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu tun hat. In den 1980er- und 1990er- Jahren haben sich die Gesellschaft und das Konsumverhalten sehr stark ausdifferenziert. Das hat auch auf die Wohnvorstellungen durchgeschlagen. Und die Architektur hat auf diese stärkere Individualisierung reagiert. Beinahe jede Wohnanlage galt plötzlich als ein neues Experiment – und die Architekten sind gern darauf aufgesprungen, haben Grundrisse gemacht, die sehr herausfordernd waren, ganz schmale Grundrisse zum Beispiel. Ich kann mich erinnern, das waren zum Teil schon sehr extreme Entwürfe, nach dem Motto: Man kann auch anders leben. Die Frage ist aber, ob denn der Wohnungsmarkt heute tatsächlich mehr Individualität bietet. Wenn ich mir allein das Einfamilienhaus anschaue, das ja die maximale Erfüllung persönlicher Wohnvorstellungen ermöglicht, dann wird da oft nur eine scheinbare Individualität geboten. In Wirklichkeit gibt es da auch nur drei, vier Typen: das Energiesparhaus, das mit dem Pultdach, das mit dem Flachdach, und, ich weiß nicht – der eine macht es grün, der andere gelb und der dritte hängt irgendeinen Erker dran. Aber trotzdem gibt es diese Sehnsucht in den Köpfen, dass der persönliche Habitus auch im Wohnen erkennbar sein muss. Die Schwierigkeit ist, wie aus der Vielzahl solcher Ansprüche Stadt entstehen kann, denn Stadt ist ja mehr als nur die Summe aus lauter speziell designten Einzelhäusern. Dazu kommt, dass der Anspruch auf Individualität zunehmend an ökonomische Grenzen stößt. nk: Diese Individualität wurde ja faktisch auch politisch verordnet. Projekte mit mehr als 300 Wohnungen von ein und demselben Architekten kommen seit Jahren bei keinem der Gremien mehr durch. Wobei Unterschiedlichkeit für sich genommen noch kein Qualitätskriterium ist. Städtebau- Seestadt Aspern, 1. Bauetappe 2009 – 2016 liche Ensembles leben von einer gewissen Gleichartigkeit. Aber auch davon abgesehen ist es oft reine Glückssache, ob ein Projekt als förderwürdig eingestuft wird oder nicht. Es kommt ganz auf die Zusammensetzung der Jury an, darauf, welche Mitglieder dabei die Oberhand gewinnen und ihre Meinungen gegenüber den anderen durchsetzen. Und da gibt es seit den späten 1980er-Jahren eben diesen Anspruch: Die Stadt muss sich präsentieren – und zwar architektonisch. rk: Ich finde schon, dass sich eine Stadt auch präsentieren soll. Wir können nicht mehr zu dieser, sagen wir, einheitlichen Gestaltung von Stadt und Lebensstil zurückkehren, wie sie früher bestanden hat. Dass es Repräsentation in der Architektur geben muss, dazu stehe ich. Aber das schließt eine hohe Wohnqualität überhaupt nicht aus. nk: Gerade von den „repräsentativen“ Wohnbauten sind aber etliche genehmigt und gefördert worden, die sich nachträglich als nicht besonders brauchbar erwiesen haben. rs: Wie frei sind in diesem System eigentlich die Bauträger in ihren Entscheidungen, nach welcher „Philosophie“ sie bauen? wk: Wenn man im geförderten Wohnbau tätig ist, sprich, darauf angewiesen ist, dass das Land Förderungen zugesteht, steckt man in einem Prozess, der keine völlig freie Entscheidung erlaubt. Und ich sage nicht, dass viele Dinge nicht gut sind, die wir durch diesen „unfreien“ Prozess machen müssen. Klar, soll der Fördergeber seine Vorstellungen mit der Vergabe der Gelder verbinden. Wichtig ist dabei nur, dass diese Vorgaben auch immer wieder angepasst und verbessert werden. So wie eben die ursprüngliche Architekturlastigkeit zunächst um die soziale Nachhaltigkeit erweitert wurde und jetzt die Leistbarkeit des Wohnens von großer Bedeutung ist. Früher hätte, wie schon erwähnt, ein Wohnhaus mit kosteneffizienter Mittelgangerschließung kaum Chancen auf eine positive Bewertung gehabt, obwohl aus meiner Sicht die Vorteile immer schon größer waren als die Nachteile. Heute geht die Entwicklung wieder in Richtung kompak terer Baukörper – mit der Möglichkeit, einen Teil des so eingesparten Geldes in andere Qualitäten zu investieren. Und die Mittelgangerschließung ist wieder „salonfähig“. So gab es in diesem Prozess immer wieder sachliche und weniger sachliche Vorgaben. rs: Im schon angesprochenen Roten Wien, aber durchaus auch noch bis in die 1970er-Jahre verknüpften Architekten mit dem sozialen Wohnbau explizit auch gesellschaftspolitische Ziele. Spätere Generationen postulierten dann ganz andere Forderungen, die viel mehr ins Künstlerische oder Aktionistische gingen. Ist die Zeit vorbei, da die Architektenschaft gesellschaftliche Veränderungen anstoßen will? Wohnqualität lässt sich nicht verordnen

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cs: Die Zeit war lange nicht da, aber ich glaube, sie kommt wieder. Der soziale Aspekt hat unter dem Beiratsvorsitz von Wolf D. Prix oder Elsa Prochazka nicht viele interessiert, und Rudi Szedenik und ich haben dann irgendwann gesagt: Jetzt können wir damit aufhören, Bauträgerwettbewerbe zu machen. Als dann vor ein paar Jahren die vierte Säule bei den Wohnbauförderkriterien dazukam, nämlich die soziale Nachhaltigkeit, die etwas anderes will, als nur „Architektur muss brennen“ oder „ein Haus muss pfeifen“, war das für uns natürlich die „Rettung“. Denn damit wurden ganz neue Themen angesprochen – und zwar auch in den Gremien, also dem Grundstücksbeirat und den Wettbewerbsjurys. Davor war die Haltung der Kollegen dort schon sehr speziell und zum Teil frei von gesellschaftspolitischen Zielen. Heute ginge es gar nicht mehr anders, weil der Wohnbau sozialpolitisch extrem gefordert ist. Die ökonomische Schere geht rasant aus einander und auch ganz neue Bevölkerungsgruppen, die Asylberechtigten, brauchen dringend leistbare Wohnungen. Es sollte nun doch bald jeder Akteur im Wohnbau die gesellschaftspolitische Relevanz erkennen. rs: Was nach wie vor ein Stiefkind im Wiener Wohnbau ist, das sind die Grünräume im Wohnumfeld. Bei manchen Projekten kann man rein quantitativ gar nicht mehr von einem Freiraum reden, weil die Bebauungsdichte viel zu hoch ist. Und dort, wo es ihn noch gibt, wird er oft von Tiefgaragenentlüftungen und -belichtungen regelrecht verhunzt. Die gartenarchitektonischen Nachbesserungen schließlich machen das Gesamtbild mitunter noch absurder. wk: Das muss man ganz ehrlich sagen, da sind Fehler passiert. Wir versuchen aber seit ein paar Jahren massiv gegenzusteuern. Der Grünraum bleibt auch deswegen gern auf der Strecke, weil am Ende manchmal das Geld ausgeht und dann das, was erst am Schluss drankommt, eingespart wird. cs: Wobei das oft schon mehr System als Sinn hat. Wir reden bei diesen Kosten ja über Peanuts. wk: Stimmt. Noch dazu, da ich mit jedem Euro, den ich in den Grünraum investiere, viel mehr Lebensqualität schaffe, als wenn ich dieses Geld in eine Glasfassade oder in überzogene Brandschutzmaßnahmen stecke. Und noch ein anderer Aspekt scheint mir wichtig: Ich glaube, man muss künftig wieder klarer in private und halböffentliche Grünflächen unterscheiden. Viele Projekte definieren sich als offen und durchlässig, nehmen den Bewohnern damit aber jede Privatheit. Wenn man will, dass die Menschen im halb öffentlichen Raum miteinander kommunizieren, muss man gleichzeitig noch stärker daran arbeiten, dass jeder seinen eigenen kleinen Freiraum hat. Man kann nicht alles öffnen und hoffen, dass sich alle gut verstehen. Man muss private Rückzugsmöglichkeiten schaffen, damit sich die Bewohner dann be- wusst dafür entscheiden können: „Jetzt geh ich ins Schwimmbad, jetzt geh ich auf die Gemeinschaftsterrasse oder jetzt mach ich ein Fest mit meinen Nachbarn.“ rs: Meine letzte Frage lautet: Was sollten die Ziele im sozialen Wohnbau für die nächsten Jahre sein? wk: Das Wichtigste ist, dass wir an der sozialen Durchmischung im Wiener Wohnbau festhalten. Und dass wir in hohem Maß eine wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit im Massenwohnbau schaffen – und die Stadtflucht oder auch der Wochenendverkehr ins Grüne unter seinen Bewohnern deutlich geringer werden, weil sie ihre Freizeit viel lieber daheim verbringen. Zufriedene Bewohner ziehen kaum in den Speckgürtel und fahren weniger Auto. cs: Ich wünsche dem Wiener Wohnbau Architekten, die nicht nur eitle Künstler sind, aber auch Bauträger und Gremien, die das „nicht Normale“ in gewissem Ausmaß zulassen. Und das Wichtigste: Weg von Dogmen! nk: Dem Appell an den eigenen Berufsstand schließe ich mich an. Der Architekt sollte nicht sich selbst als Mittelpunkt der Planung sehen, sondern den Nutzer, den Menschen, der später darin wohnt. Dieses Umdenken, nämlich die Bedürfnisse der Menschen in den Vordergrund zu stellen und danach zu planen, sollten wir uns bemühen, den jungen Kollegen zu vermitteln. Nein, wir müssen es ihnen vorleben: „Seht her, wir haben eine soziale Aufgabe, wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung, und die müssen wir erfüllen! Der Mensch ist der Ausgangspunkt unserer Tätigkeit!“ rk: Das kann ich unterstreichen. Der Anspruch, für andere zu arbeiten, und auch immer wieder nachzufragen, ob denn die Menschen in den Wohnbauten zufrieden sind, sollte viel mehr im Vordergrund stehen. Es gibt wenige Architekten, die keinen Wert darauf legen, in der Fachpresse publiziert zu werden, sondern lieber sagen: „Ich habe lauter glückliche Bewohner.“ Und was ich mir noch wünsche, ist: Wir sollten sozialen Wohnbau machen, in dem niemand das Gefühl haben muss, ein Hilfsbedürftiger zu sein, sondern in dem sich auch ärmere Menschen vom Selbstwertgefühl her jenseits ihrer Klassenzugehörigkeit bewegen können. Das hätte eine große emanzipatorische Kraft, würde ich sagen – und das ist den Gemeindebauten im Roten Wien gelungen. Nämlich, dass der soziale Wohnbau ein Ort des sozialen Aufstiegs ist, und nicht des Abstiegs. N Wohnqualität lässt sich nicht verordnen

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We are building bilding | Ein kraftvoller Raum und ein zivilgesellschaftliches Statement Dass bilding, die Kunst- und Architekturschule für Kinder und Jugendliche, heute als eindrucksvolles Gebäude im Innsbrucker Rapoldipark steht und jungen Menschen eine ideale Umgebung für das Experimentieren in allen künstlerischen Disziplinen bietet, ist allein schon ungemein wertvoll. Womöglich noch höher ist der Wert des Projekts als ein Statement für zivilgesellschaftliches Engagement und als Beweis dafür, was die Kraft eines motivierten Kollektivs zustande bringen kann, das Position bezieht und sich für eine Idee stark macht. Nicola Weber studierte Architektur in Innsbruck, Wien und den USA. Lebt und arbeitet in Innsbruck als freie Kulturjournalistin, an verschiedenen Architektur- und Kultur - projekten, sporadisch als Lehrbeauftragte an der Architekturfakultät Innsbruck und bei WEI SRAUM Designforum Tirol. Engagement vieler Zuerst war es das Kinder- und Jugendangebot des aut. architektur und tirol mit dessen Leiter Arno Ritter, dann kam die von Monika Abendstein 2009 gegründete kunschtschule dazu und dann wurde daraus „bilding“ – eine Fusion dieser Einrichtungen und die eigentlich logische, aber dennoch österreichweit einzigartige Folge aus jahrelanger engagierter Vermittlungsarbeit in Sachen Gestaltungskompetenz. Dockte die Einrichtung anfangs noch nomadisch an bestehende Kulturinstitutionen an, wurde es bald zum erklärten Ziel, sich auch räumlich zu verorten. Auf einem von der Stadt Innsbruck zur temporären Bebauung freigegebenen Grundstück im zentrumsnahen Rapoldipark konnte das Projekt schließlich konkret werden. Der Weg zum heutigen Ergebnis war kein geradliniger und von einigen Hochs und Tiefs begleitet. Eine Gruppe aus dem Umfeld des aut machte sich in einem offenen Entwurfsprozess auf den Weg, präzisierte das Konzept, lotete das Raumprogramm aus, entwickelte und verwarf mehrere Gestaltungsvarianten – vom recycelten Gewächshaus bis zur wandelbaren Holzbox – und fand schließlich in der Innsbrucker Architekturfakultät und dem dortig en Institut für experimentelle Architektur/studio3 den passenden Kooperationspartner. 30 Studierende, betreut von Verena Rauch, Walter Prenner und Wolfgang Pöschl, entwickelten im Rahmen ihrer Bachelorarbeit zuerst individuelle Entwürfe und dann gemeinsam das von einer Jury ausgewählte Projekt von Niklas Nalbach bis zur Detailplanung weiter. In drei intensiven Monaten im Frühjahr 2015 errichteten sie unter der Leitung von professionellen Handwerkern dieses ganz besondere Werkstättengebäude. Finanziert wurde es fast ausschließlich über Firmen- und Privatsponsorings, durch eine Bausteinaktion und unzählbare ehrenamtliche Arbeitsstunden. Die Freude über das kollektive Ergebnis ist allen Beteiligten ins Gesicht geschrieben: den Architekten, Studierenden, Mentorinnen, den Handwerkern, Fachplanerinnen und Sponsorfirmen, den vielen privaten Unterstützern, den öffentlichen Sponsoren und der Stadtregierung, die alle zu einem Engagement weit über die Komfortzone hinaus bereit waren. Verbesserung durch Reduktion Der selbstbewusste weiße Flieger ist ein fließendes Raumkontinuum über 240 m² Innen- und ebenso viel Außenfläche, bestehend aus drei Arbeitsbereichen für Malerei/Grafik, Bildhauerei/Architektur und Film/neue Medien und einem verbindenden Foyer im Zentrum. Der Baukörper schafft durch seine Gabelung Außenräume mit unterschiedlichem Charakter – wohnlich, roh, lauschig – und öffnet sich großzügig Richtung Naturraum, baut bewusst Kontakt mit dem als „sozial schwierig“ geltenden Park auf. Materialisiert wurde das Gebäude komplett aus roh belassenem Brettsperrholz (bbs) in Fichte, eingesetzt als schlanke, ungedämmte 10 cm starke Wandkonstruktion, mit doppellagigen Deckenplatten und in reduzierten Dimensionen für alle Einbauten und Möbel. Geheizt wird mit einer simplen Luftventilationsheizung, Warmwasser und Strom holt man sich idealerweise vom benachbarten Hallenbad. Als Fassade wurde eine weiße epdm-Membrane rundum von der Decke zum Boden gespannt und verschweißt. Provisorisch und roh, warm und wohnlich zugleich fühlt es sich hier an. „Dieser Raum lässt ganz unterschiedli che Haltungen zu, in jedem Sinn des Wortes“, beschreibt es bilding-Initiatorin und -Leiterin Monika Abendstein, „er macht Lust, sofort Hand anzulegen, zu verändern und mitzugestalten. Er regt die Fan tasie der Kinder an und sprengt die gewohnten Bilder eines Gebäudes.“ Viele Material- und Formentscheidungen dieses Bauwerks sind den verfügbaren Produkten der Sponsorfirmen geschuldet, die Konstruktion ist einfach genug, um sie mit Laien zu bauen, die Schraubund Steckverbindungen sind simpel – und alle diese Einschränkungen machen das Gebäude besser. Es demonstriert, wie wenig es im Grunde beim Bauen braucht, wie überzogen unsere Ansprüche, Normen und Standards heute sind und wie spannend die Architektur gerade dadurch wird, dass man reduziert und sich auf den räumlichen Ausdruck konzentriert. Ein Unort am Rand eines Parks ist zu einem unverwechselbaren und charismatischen Ort gewor - den. „Dieses Gebäude macht uns greifbar und sichtbar“, sagt Abendstein. „Die Kinder und Künstler identifizieren sich mit diesem Ort, hier fühlen wir uns zugehörig, hier kann etwas entstehen.“ Dass das bilding gebaute Realität geworden ist, verdankt sich einer Gruppe von Menschen, die bereit waren, gesellschaftspolitische Verantwortung wahrzunehmen und ein Statement zu setzen – dafür, dass unsere Gesellschaft Kinder und Jugendliche dringend wie nie braucht, die an ihr schöpferisches Potenzial und an die Gestaltbarkeit unserer Welt glauben und dies wohlwollend begleitet und abseits von Leistungsdruck lernen sollen dürfen. 24 | 25 301 We are building bilding

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Ein starkes Kollektiv hat sich zur Bauherrin gemacht, hat diesen Ort eingefordert und aus eigenen Kräften realisiert. Das Ergebnis macht Freude, besonders inmitten allgegenwärtiger Effizienzfixiertheit, Kosten- Nutzen-Rechnungen und verschulter Zwei-Wochenstunden-Kunstunterrichts-Häppchen. Es ist außerdem – deutlich wie selten – die authentische Übersetzung einer Idee in Architektur: Was die Einrichtung „bilding“ ihren Kindern und Jugendlichen vermitteln möchte, davon erzählt das Gebäude selbst: von der Kraft des Kollektivs, der Lust zum Experiment, der Wertschätzung des freien Denkens, der Flexibilität, Umwege zu gehen, dem Potenzial der Selbstorganisation, dem Erkennen der eigenen Fähigkeiten und dem Vertrauen in eine starke Idee. Dieser Kraftakt vieler hat eine enorme Energie erzeugt, die spürbar durch dieses Bauwerk fließt. N Eingang Ansicht West Ansicht Ost Ansicht Süd Ansicht Nord We are building bilding

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Im unerbittlichen Kampf gegen die letzten Tage der Menschheit | Chronik des Hetzendorfer Vinzidorfs Im April rücken die ersten Bagger an. Dann soll auf dem Grundstück des Marianneum in Wien-Hetzendorf eine kleine, einfache Wohnstatt für 24 obdachlose Männer und Frauen entstehen. Inmitten der medialen Flut aus Furcht und Angst der Anrainer werfen wir einen Blick auf das Projekt sowie auf die Beweggründe des Auftraggebers Pfarrer Wolfgang Pucher und der zuständigen Architekten gaupenraub +/–. Wojciech Czaja ist freischaffender Architekturjournalist arbeitet hauptsächlich für die Tageszeitung Der Standard. Besorgte Bürger „Ich habe ja nichts gegen Obdachlose“, sagt eine Anrainerin in einem angrenzenden Wohnhaus, „und auch nichts gegen ein Obdachlosenheim für diese Menschen.“ Die Wohnungstür ist nur einen Spalt geöffnet, der Riegel vorgeschoben, die Angst vor Fremden sichtlich groß. „Aber das ist einfach nicht die passende Gegend dafür. Es gibt hier einen Kindergarten, eine Schule und ein Seniorenwohnheim, und dann sitzen die da auf der Parkbank direkt neben dem Spielplatz und trinken Bier aus der Flasche. Ich finde diese Kombination nicht gut.“ Auch ein paar Hausnummern weiter öffnet eine besorgte Dame die Türe. „Obdachlose? Ausgerechnet hier in Hetzendorf? Also nein, das wollen wir nicht! Und das werden Ihnen alle bestätigen, die Sie hier fragen. Wir sind alle dagegen. Außerdem ist es eh schon viel zu spät. Es ist alles entschieden, beschlossene Sache, nächsten Monat solls angeblich schon losgehen. Vor einem Jahr hätten Sie darüber schreiben müssen!“ Proteste und Schikanen verzögerten das Projekt jahrelang. Jahrelange Schikane Spätestens im April, so der Plan, soll das Gelände an der Ecke Boërgasse und Karl-Kraus-Gasse entrümpelt werden und Platz machen für Bagger, Kräne, Bauarbeiter. Selten hat ein Bauprojekt in Hetzendorf in Wien-Meidling so hohe Wellen geschlagen wie das sogenannte Vinzidorf, eine Initiative des umtriebigen und nicht unterzukriegenden Grazer Pfarrers Wolfang Pucher. „Schon vor 14 Jahren haben wir beschlossen, nach dem Grazer Vorbild auch in Wien eine Obdachloseneinrichtung für diejenigen ins Leben zu rufen, die nirgends mehr hingehen, weil sie überall sozial verstoßen werden“, erklärt Pucher im Exklusivinterview mit KONstruktiv. „Aber die Wiener ma- chen es einem nicht einfach. Sie haben große Ängste, und so sind schon viele potenzielle Standorte am Veto der Anrainerinnen und Anrainer gescheitert.“ Auch im beschaulichen Hetzendorf drohte das Projekt schon einige Male zu scheitern. Viermal bereits mussten Alexander Hagner und Ulrike Schartner, die gemeinsam das Architekturbüro gaupenraub +/– betreiben, die Einreichpläne umzeichnen. Zwei Verfahren wurden negativ beschieden, einmal gab es einen Einspruch mit Auflagen, nun liegt endlich das Okay auf dem Tisch. „Die ganze Einreichprozedur war eine einzige Schikane der ma 64 (Rechtliche Bau-, Energie-, Eisenbahnund Luftfahrtangelegenheiten, Anm.), die in jeder einzelnen Planvariante so kreativ war, dass sie immer irgendein Detail als rechtliches Planungsdefizit deutete und uns wieder zurück an den Start schickte“, erinnert sich Schartner. „Mit der jahrelangen Unterstützung der ma 19, ma 21 und ma 37 scheint jetzt endlich alles in Ordnung zu sein. Unglaublich!“ Das Grundstück gehört dem Marianneum, einem Exerzitien- und Bildungshaus der Lazaristen mit angeschlossener römisch-katholischer Kirche. Die Anlage steht unter Denkmalschutz und verfügt über einen großen, verwunschenen, in weiten Teilen brachliegenden Garten. Die Ziegelmauer zur Boërgasse sieht baufällig aus, wird alle paar Meter, so scheint es, nur noch von den Bäumen gestützt, deren wildes Wachstum die Regelmäßigkeit der Mörtelfugen längst zunichtegemacht hat. Im letzten Eck des Gartens stehen zwei einfache, ebenerdige Stallungsgebäude, die in den Siebzigerjahren ausgebaut wurden und schon einmal als Notquartier für Obdachlose dienten. Der Rest ist Dickicht und Gestrüpp, das hinter einem löchrigen Maschendrahtzaun vor sich hin wuchert. Ästhetik und Notwendigkeit Das Vinzidorf umfasst die Revitalisierung der beiden länglichen Bestandsbauten sowie einen angrenzenden Neubau entlang der Karl-Kraus-Gasse. Gemeinsam sollen diese beiden Bauteile ein etwas aufgelockertes, gepixeltes L bilden. Im Altbau werden Büros, Speisesaal, Küche, Lagerflächen, Gemeinschaftsduschen und sanitäre Einrichtungen untergebracht. Im ausgebauten Dachgeschoß sollen zudem acht Wohneinheiten eingerichtet werden. Die Bausubstanz scheint in Ordnung, die baulichen Eingriffe, Umbauten und Erweiterungen an dieser Stelle hielten sich nach Aussage der Architekten in Grenzen. „Das ist alles machbar.“ Weitaus spannender ist der Neubautrakt, in dem weitere 16 Wohneinheiten – aufgeteilt auf sieben, scheinbar lose zusammengewürfelte Boxen – entstehen sollen. Lediglich das gemeinsame Dach sowie die weiterführenden Mauern entlang der Kontur werden der Flächenwidmungsauflage der geschlossenen Bauweise gerecht. Die konkrete 28 | 29 301 Im unerbittlichen Kampf gegen die letzten Tage der Menschheit

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Ein „gepixeltes L“ nimmt 16 Wohneinheiten auf. Ausgestaltung der Pavillons ist Auslegungssache und schöne architektonische Interpretation. „Das war ein langes Hin und Her“, erklärt Alexander Hagner. „Mit lupenreiner geschlossener Bauweise oder reihenhausartigen Strukturen wäre der Planungsprozess leichter gewesen und schneller über die Bühne gegangen, aber das wäre absolut am Thema vorbei geplant gewesen.“ Die 24 Männer und Frauen, die hier Anfang 2017 einziehen werden, sind Freiheit, Unabhängigkeit und ein Leben in Autarkie gewohnt. Eine allzu große Verdichtung oder Gruppierung würde die zum Teil alkohol- und psychisch kranken Obdachlosen stressen und womöglich aggressiv machen. Die Auflockerung ist keine Sache der Ästhetik, sondern der Notwendigkeit für ein friedliches Miteinander. Klokonflikte „Die Diskussion rund um das Vinzidorf grenzt bisweilen an Absurdität“, meint Ulrike Schartner. „Es gibt 23 Jahre Erfahrung aus dem Vinzidorf Graz und auf diesem wertvollen Know-how wollten wir das Wiener Vinzidorf aufbauen. Aber dann kommen Behörden, Anrainer und Wiener Bauordnung daher und glauben, es besser zu wissen als Pfarrer Pucher, der sich tagein, tagaus damit beschäftigt.“ Die Erfahrung zeige beispielsweise, dass individuelle WC-Einrichtungen in den einzelnen Zimmern kaum angenommen würden – und wenn, dann werde die Toilette als Mistkübel verwendet, was zu Ausfällen und kostspieligen Reparaturen führe. Im Vinzidorf Graz, so Schartner, habe man die Toiletten nach einigen Jahren wieder ausgebaut. Nun verwenden die Menschen die Gemeinschaftseinrichtungen. Der regelmäßige Weg dahin dient als wichtige soziale Ader im Lebensalltag. „Ja, kann man sich das denn überhaupt vorstellen? Das ist doch unglaublich“, sagt ein Herrchen mit Hund, das am künftigen Vinzidorf vorbeispaziert. Der 40-Jährige bevorzugt es, anonym zu bleiben. So wie übrigens alle hier, sobald sie das Mikrofon erblicken. „Da will man ein Dorf für Obdachlose bauen, und dann weigern sich die Architekten sogar, eine Toilette einzubauen? Was ist denn das für eine Planung? Wissen Sie, ich kenne die Einreichpläne, und wenn man so etwas sieht, dann fragt man sich schon, was das eigentlich werden soll. Wenn das so weitergeht, dann ist das Konfliktpotenzial in diesem Projekt vorprogrammiert.“ Alexander Hagner und Ulrike Schartner bleiben cool. „Dieses Projekt wurde mit so viel Bedacht geplant, dass wir wirklich behaupten können, an jedes einzelne Detail gedacht zu haben.“ Die genaue Bauweise, erklären die beiden, richte sich übrigens nach dem Aufgebot der Sachspenden aus der Baubranche. Viele unterschiedliche Firmen und Konzerne hätten sich gefunden, die froh waren, ihre übrig gebliebenen Produktionschargen aus dem letztjährigen Programm loszuwerden: Holz, Ziegel, Faserzement und jede Menge Fenster in unterschiedlichen Formaten. „Die Vielfalt ist schon okay. Schließlich ist das ja kein Haus, sondern ein Dorf, in dem jedes kleine Häuschen ein bisschen anders ausschauen darf“, sagt Hagner. Der Großteil der Neubaumasse wird in Holzriegelbauweise errichtet. Pro Bauteil gibt es – ein Beitrag zur bauphysikalisch notwendigen, speicherfähigen Masse – eine massive Wand aus Porotherm-Ziegelsteinen. Verkleidet wird die Fassade mit Eternit-Platten in ausgemusterten 2015er- Farben , Internorm stellte aus seinem Schauraum Fenster zur Verfügung. Auch in der technischen Ausstattung findet sich so manche Sachspende aus österreichischem Hause. Keine Angst Das Gesamtbudget beläuft sich nach Auskunft von Pfarrer Wolfgang Pucher auf rund 1,5 Millionen Euro. Ein gutes Drittel ist bereits finanziert. Über die restliche Million führe man bereits intensive Verhandlungen mit der Erzdiözese Wien und diversen Banken. „Ich werde mich auch in der Privatwirtschaft umschauen und bin ziemlich guter Dinge“, so Pucher. „Für mich ist dieses Projekt immens wichtig. Es ist ein Startschuss und ein Best-Practice- Beispiel für Wien, mit dem wir beweisen wollen, dass auch in der Bundeshauptstadt so eine Einrichtung realisierbar ist und durchaus Sinn macht.“ Im unerbittlichen Kampf gegen die letzten Tage der Menschheit

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Die Auflockerung ist keine Sache der Ästhetik, sondern notwendig für ein friedliches Miteinander. In Graz sei es auf diese Weise bereits gelungen, die Obdachlosigkeit aus dem Straßenbild verschwinden zu lassen und den Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben. „Das sollte doch auch in einer so reichen Stadt wie Wien möglich sein, oder? Auch wenn die meisten wohlhabenden Menschen die Armut immer noch in eine schöne und in eine hässliche und die bedürftigen Menschen in Hilfswürdige und weniger Hilfswürdige unterteilen, weil sie im Angesichte des Elends mit der Realität konfrontiert werden und erkennen, dass es theoretisch jeden von uns treffen kann. Dieser Blick macht Angst. Das Vinzidorf soll dazu beitragen, den Menschen ihre Angst zu nehmen – und zwar, indem wir die Versagensängste anhand ganz konkreter Personenschicksale sichtbar machen und diesen mit einem Minimum an Menschenwürde begegnen. Das ist meine Kernbotschaft. Schreiben Sie das ruhig so!“ Architektur im Ehrenamt Von 2002 bis 2015 hat gaupenraub +/– am Vinzidorf zur Gänze ehrenamtlich gearbeitet – hat sich alle Planungsschikanen, alle Anrainerdiskussionen, alle Kommunikationsprozesse, alle Möglichmachungen des Unmöglichen angetan. Der Applaus, der diesen beiden Architekten gebührt, müsste ein frenetischer, ein ohrenbetäubender sein. Und das nicht zum ersten Mal, denn schon mit der Vinzirast mittendrin für Cecily Corti und diversen anderen Projekten für die Vinzenzgemeinschaft St. Stephan bewiesen sie schon mehrere Male mehr als menschliches Engagement. „Warum wir das tun? Na, ganz einfach: Manche Architekten buttern Tausende Stunden unbezahlter Arbeit in offene Wettbewerbe. Wir investieren unsere Gratisarbeit in Sozialprojekte. Das ist wirtschaftlich genauso unattraktiv, aber weitaus sinnvoller und erfüllender.“ Mit seinem Opus magnum Die letzten Tage der Menschheit hat Karl Kraus Einblick in eine erschreckende Kälte und Oberflächlichkeit menschlichen Schaffens gegeben. Leider wird der Tenor in den Wohnbauten entlang der Karl-Kraus-Gasse, nur wenige Schritte vom Vinzidorf entfernt, so manchem humanem Abgrund gerecht. Dank der unermüdlichen Arbeit von Pfarrer Wolfgang Pucher und gaupenraub +/– rückt wieder jene Inschrift etwas freudiger ins Blickfeld, die über dem Eingang des Marianneum in der Hetzendorfer Straße 117 zu lesen ist: „Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf.“ N 30 | 31 301 Im unerbittlichen Kampf gegen die letzten Tage der Menschheit

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Die Rolle der Architektur stärken | Elke Delugan-Meissl über das Konzept für die Architekturbiennale in Venedig Die Kommissärin für den österreichischen Beitrag zur diesjährigen Architekturbiennale in Venedig will anhand von konkreten Projekten in Wien aufzeigen, was Architektur leisten kann. Drei Immobilien werden von den Caramel Architekten, dem Designbüro eoos und the next enterprise – architects in Zusammenarbeit mit ngos für Menschen in laufenden Asylverfahren adaptiert. Damit sollen menschenwürdige Lebensräume für die Betroffenen gestaltet und die Zuständigkeit der Architektur für soziale Belange einem Reality-Check unterzogen werden. Franziska Leeb arbeitet als freie Architektur publizistin und ist seit 2015 Chefredakteurin von Konstruktiv. Elke Delugan-Meissl ist Architektin (DMAA- Delugan Meissl Associated Architects) in Wien. 2015 wurden sie und Roman Delugan mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für ihr künstlerisches Lebenswerk ausgezeichnet. 2016 ist Elke Delugan- Meissl Kommissärin des Österreichischen Pavillons bei der 15. Architektur - biennale von Venedig. www.ortefuermenschen.at Franziska Leeb: Die Architekturbiennale ist traditionell ein Wetteifern um den besten Pavillon. Das allein ist mit viel Aufwand und hohen Kosten verbunden. Warum tun Sie es sich an, zusätzlich noch reale Architekturen in Wien umzusetzen? Elke Delugan-Meissl: Wir tun uns das an, weil es uns absolut notwendig erscheint. Angesichts der bedrückenden Nachrichten aus Traiskirchen haben wir uns im letzten Sommer aufgefordert gefühlt, das Format der Architekturbiennale zu nutzen, um einen möglichst konkreten Beitrag zur Verbesserung der krisenhaften Situation zu leisten. Dieser Schritt basiert auf unserer Überzeugung, dass Architektur besondere Kompetenzen besitzt, die allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht oder kaum in Anspruch genommen wurden. Drei Teams werden beauftragt, Ideen und Lösungen für die menschenwürdige Unterbringung und Betreuung von nach Österreich geflüchteten Personen zu entwickeln. Insofern handelt das Projekt sehr stark von der gesellschaftlichen Relevanz von Architektur, die wir aber nicht nur behaupten, sondern auch einlösen möchten. Das erscheint mir auch gerade deshalb wichtig, weil die Wahrnehmung der Bedeutung von Architektur für die Gesellschaft in den letzten Jahren spürbar zurückgegangen ist. Ich bin aber überzeugt, dass Architektur einen wichtigen Einfluss auf das gesellschaftliche Zusammenleben ausübt und dieser Stellenwert in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird. Mit „Orte für Menschen“ möchten wir auch Argumente für diese Elke Delugan-Meissl inmitten ihres Teams für die Architekturbiennale 2016. Einschätzung liefern. Ein weiterer wichtiger Aspekt besteht darin, dass es nicht nur um die „Unterbringung“ von Flüchtlingen, sondern auch um ihre Integration geht. Dadurch kommt das Umfeld – die Stadt und der öffentliche Raum – ins Spiel. Diese Strukturen, ihr Potenzial sowie die komplexen Zusammenhänge beschäftigen mich seit Langem. Die Flüchtlings-und Zuwanderungsbewegung sorgt für eine neue Dynamik, die wir als Architekten nutzen und mitgestalten möchten. Wir beschäftigen uns deshalb auch mit Themen wie Leerstand, Zwischennutzung und Verdichtung, allerdings nicht nur in Form von Konzepten, sondern in Form konkreter Interventionen im urbanen Kontext von Wien. „Orte für Menschen“ handelt also auch vom Abenteuer „Stadt“. Wir wollen nicht nur aktuell schwierige Umstände ver bessern, sondern auch die längerfristigen Chancen dieser Entwicklungen sichtbar machen. fl: Wie sind Sie zu den Immobilien, die Sie mit den drei Teams nun adaptieren, gekommen? edm: Sie zu finden war eine Herausforderung. Uns wurden einige Objekte angeboten, aber bei genauerer Betrachtung waren die nötigen Rahmenbedingungen dann oft nicht gegeben. Hier ging es nicht zuletzt um wirtschaftliche Aspekte wie notwendige Investitionen, die Kosten für den Betrieb sowie Betreuung und rechtliche Vereinbarungen, die alle im Vorfeld geregelt werden mussten. fl: Nach welchen Kriterien haben Sie die Räumlichkeiten ausgesucht? edm: Es war uns wichtig, dass es sich um jeweils unterschiedliche Situationen handelt, damit wir prototypische Lösungen für unterschiedliche Szenarien entwickeln konnten. Die Objekte unterscheiden sich ganz bewusst in ihrer Größe, Position in der Stadt, bisherigen Nutzung und im Zeitraum, in dem sie zur Verfügung stehen. Die Rolle der Architektur stärken

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fl: Das heißt, die Leute müssen nicht mit Ende der Biennale wieder ausziehen? edm: Wie gesagt, die Nutzungszeiträume sind unterschiedlich und reichen von wenigen Wochen bis zu zehn Jahren, wobei sich die zeitlichen Vorgaben mitunter immer noch ändern. Diese verschiedenen Laufzeiten sind auch für die Teams sehr spannend, denn sie müssen zum Teil extrem schnell reagieren und mit ihren Interventionen unmittelbar unter Beweis stellen, wie sich in kürzester Zeit Atmosphäre und Lebensqualität schaffen lassen. fl: Kennen Sie die zukünftige Bewohnerschaft bereits? edm: Ja, denn zwei der drei Orte waren schon bewohnt, wobei sich die Bewohnerstruktur immer wieder ändert. Einige Mitarbeiter der Teams sind selbst in die Objekte eingezogen und arbeiten mit den Bewohner/innen zusammen. Das ist extrem wichtig, um gute Lösungen zu entwickeln. Ein Projekt wird in einem Objekt der Bundesimmobiliengesellschaft in Erdberg umgesetzt – logistisch sehr herausfordernd, weil dieses Gebäude von ganz unterschiedlichen Nutzern (wie Polizei, Schule usw.) bespielt wird. Dort wie in den anderen Immobilien versuchen wir die Flüchtlinge am Prozess zu beteiligen, indem sie zum Beispiel in Werkstätten mitarbeiten können. Bei einem weiteren Projekt wird der Fokus auch auf die Vernetzung mit dem öffentlichen Raum gelegt. Das Team, das dort arbeitet, beschäftigt sich in weiterer Folge mit der Umsetzung des Konzepts in Teilen des geförderten Wohnbaus. fl: Wie kann es gelingen, dass die Projekte längerfristig Wirkung zeigen? edm: Das ist klarerweise unser Ziel, aber auch jenes der Caritas, mit der wir eng zusammenarbeiten und die großes Interesse hat, diese prototypischen Konzepte möglichst auch an anderen Orten einzusetzen. Idealerweise gelingt es uns, Standards zu setzen, die in Zukunft nicht mehr unterschritten werden. Wir sind nicht die Ersten oder Einzigen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, es gibt schon zahlreiche vorbildliche Initiativen, wie etwa die Vinzi- Rast_Mittendrin, das Magdas Hotel in Wien und innovative Ansätze in den Bundesländern. fl: Sie sagten, es sei Ihnen ein Anliegen, den Stellenwert der Architektur zu heben. Warum ist das notwendig? edm: Nicht zuletzt durch die zunehmende Spezialisierung sind rund um die Architektur neue Professionen entstanden, die starken Einfluss darauf haben, wie Architektur heute praktiziert wird. Die gesamtheitliche, gesellschaftliche Sicht, die Architektur als Disziplin auszeichnet, ist dadurch ins Hintertreffen geraten. Einem Phänomen wie der Stadt, mit dem wir uns als dmaa schon lange beschäftigen, kann man aber nur gerecht werden, wenn man es gesamtheitlich betrachtet. fl: Architektur wird nur als Zutat gesehen und nicht als das Wesentliche? edm: Diese verzerrte Wahrnehmung muss korrigiert werden, denn sie führt zu völlig verfehlten Entwicklungen. Architektur besitzt grundsätzlich einen enormen gesellschaftlichen Nutzen und natürlich längst nicht nur dort, wo es ausdrücklich um soziale Projekte geht. 32 | 33 301 Engagement ist gefragt

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Das bilding ist ein experimentelles Gebäude, ein Ort, der Bildung als „Im-Prozess- Sein“ versteht und dafür geeignete Räume und Programme bietet. fl: Architekten werden seit einiger Zeit ja gern kategorisiert in diejenigen, die Architektur machen, jene, die ökologisch agieren, und solche, die sich sozial engagieren. Also Spezialisten für die jeweiligen Felder, was ich grundsätzlich für problematisch halte. edm: Wir wurden im Zusammenhang mit der Biennale auch öfters gefragt, warum wir uns ausgerechnet für diese drei Teams entschieden haben, wo es doch mittlerweile „Spezialisten“ für soziale Themen gibt. Für mich allerdings existiert weder „Schubladendenken“ noch „Spezialistentum“. Die soziale Dimension von Architektur an „Spezialisten für soziale Aufgaben“ zu delegieren wäre falsch. Ich stehe total zu dieser Auswahl, wobei wir sicher noch weitere Teams eingeladen hätten, um möglichst viel an konkreten Verbesserungen zu bewirken, hier aber organisatorisch an unsere Grenzen gestoßen sind. fl: Wenn nun viel Geld in die Projekte in Wien fließt, bleibt dann noch Budget für den Pavillon in Venedig? edm: Grundsätzlich arbeiten alle engeren Projektbeteiligten zu einem „sozialen Tarif“, was die eigenen Kosten reduziert und die Mittel für die Realisierungen erhöht. Wir haben uns entschieden, die Installation von Heimo Zobernig von der Kunstbiennale 2015 zu belassen, weil hier ein Raum geschaffen wurde, der sich hervorragend als Präsentationsplattform eignet. Der Pavillon und die Gartengestaltung von Auböck & Kárász bieten eine an- genehme Atmosphäre, die wir gerne nutzen möchten, um den Besuchern in Venedig unsere Konzepte für „Orte für Menschen“ zu vermitteln. Durch die Zusammenarbeit mit der Caritas und anderen ngos ist die Zahl der Beteiligten am Biennaleprojekt wahrscheinlich größer denn je. Die Herausforderung ist erheblich, denn wir haben drei Projekte in Wien zu realisieren und einen Pavillon in Venedig zu bespielen. fl: Angesichts der aktuellen Billigbauschienen verschiedener Bundesländer meint man ja, kostengünstiges Wohnen muss auch billig ausschauen, damit kein Neid aufkommt. edm: Das wäre der falsche Weg. Auch losgelöst von der aktuellen Zuzugsdynamik stagniert im Wiener Wohnbau auch unter dem Überbegriff „smart“ schon seit längerer Zeit die erforderliche Weiterentwicklung. Statt neue Ansätze zu ermöglichen, werden leider die bekannten Schemata beibehalten und in immer rigidere Vorgaben gegossen. Reduktion allein kann kein Konzept sein. Ich denke, es ist an der Zeit, unterschiedlichste Konzepte zu entwickeln und zu testen. Das Biennaleprojekt ist mir auch deshalb so wichtig, weil wir Ideen ausprobieren können, die sich über den aktuellen Anlass hinaus allgemein – im Wohnbau, im Städtebau – etablieren lassen. N Die Rolle der Architektur stärken

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8. Internationale Konferenz Tunnel Safety and Ventilation Sicherheit und Belüftung von Tunnenanlagen 25. – 26. April 2016, Messezentrum Graz Neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Tunnelsicherheit Die Schwerpunkte der Tagung umfassen: − Tunnellüftung: Auslegung, Brandlasten − Risikoanalyse, Grenzen, Bewertung von sicherheitstechnischen Ausrüstungen − Tests des Gesamtsystems (Tunnel – Sicherheit – Lüftung) − Sanierungen von Tunnelanlagen unter Betrieb Diese Tagung ist der größte Fachkongress mit einer Fachausstellung zum Thema Ausrüstung, Betrieb und Sicherheit von Tunnelanlagen. Fachausstellung Technische Besichtigung am 27. April 2016 Das genaue Programm finden Sie unter: www.tunnel-graz.at Vortragssprachen: Deutsch, Englisch Information und Anmeldung: Technische Universität Graz , Institut für Verbrennungskraftmaschinen und Thermodynamik Inffeldgasse 21 a , 8010 Graz T: +43/316-873 7596 E: minarik@tugraz.at Arch+Ing*Tour 30 Hamburg – Lübeck 19. –22. Mai 2016 Die siebente „Architektour“ der Arch+Ing Akademie mit Stadtplaner Reinhard Seiß führt vom 19. bis 22. Mai 2016 nach Hamburg und Lübeck, wobei die Handelsmetropole an der Elbe den Schwerpunkt bildet. Mit städtebaulichen Projekten wie der HafenCity und architektonischen Leuchttürmen wie der Elbphilharmonie gelang es Hamburg, europaweit Aufsehen zu erregen. Gleichzeitig sorgen ein Immobilienboom sowie die soziale Differenzierung in der reichsten Stadt Deutschlands für heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu urbanistischen Themen. Insofern traf die Internationale Bauausstellung IBA 2006 – 2013 den Nerv der Stadt, zumal dabei nicht nur zukunftsweisende ökologische, sondern auch modellhafte soziale Ansätze in Stadtplanung und Wohnbau exemplarisch erprobt wurden. Die Weltkulturerbestadt Lübeck dagegen steht vor der Herausforderung, trotz Stagnation ihr einzigartiges bauliches Erbe wirtschaftlich tragfähig zu erhalten und zeit gemäß zu nutzen. Sollte die Olympiabewerbung Hamburgs Erfolg haben, würde dies die gesamte Metropolenregion noch einmal verändern. Die Planer rüsten sich jedenfalls schon dafür. Anmeldeschluss 21. März 2016 Kosten € 920,– zzgl. 20 % USt Anmeldung unter www.archingakademie.at Kontakt Arch+Ing Akademie Mag. Esther Bischof T +43 1/505 17 81-19 Foto: Reinhard Seiß /URBAN+ JOUR FIXE VERGABERECHT Schramm Öhler Rechtsanwälte veranstalten einbis zwei Mal monatlich einen Vortragsabend zu den Themen des Vergabe- und Baurechts mit den Top-Vergabeexperten Österreichs jeweils Donnerstag ab 17 Uhr Ort: 1010 Wien, Bartensteingasse 2 (3. Stock), Vortragssaal Auswahl Veranstaltungen: 28.04.2016, 17.00 Uhr Vergaberecht und Rechnungshöfe OR DI (FH) Mag. Hermann Primig, MBA, Rechnungshof 4B2, Bauangelegenheiten, Mag. Gregor Stickler, Schramm Öhler Rechtsanwälte 19.05.2016, 17.00 Uhr Vergabetalk – die aktuellsten Entscheidungen Mag. Hubert Reisner, Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Matthias Öhler, Schramm Öhler Rechtsanwälte Die Termine und Themen entnehmen Sie bitte unserer Homepage www.schramm-oehler.at/unternehmen/ veranstaltungen/ Keine Teilnahmegebühr Weitere Informationen und Programm: Schramm Öhler Rechtsanwälte OG 1010 Wien, Bartensteingasse 2 Tel +43 (0)14097609 www.schramm-oehler.at kanzlei@schramm-oehler.at 38 | 39 301 Anzeigen

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Das Lob des Schattens Die Schattenwirtschaft umfasst legale oder illegale ökonomische Aktivitäten, die keine statistisch erfassbare oder gar steuerlich relevante Wertschöpfung nach sich ziehen. Dazu gehört auch die Subsistenz, die durch Selbsterhalt ohne nennenswerten Geldfluss charakterisiert ist. Die Subsistenzwirtschaft, ein Gegenbegriff zur Marktwirtschaft, gehört zum informellen Sektor einer Volkswirtschaft. Dort ist der offene Architekturwettbewerb nun häufiger als früher hineingeraten – er dient zu oft der Gespensterproduktion. Dass Architekten mit dem Handel hochfliegender architektonischer Absichtserklärungen nicht mehr und nicht weniger als ihre Subsistenz erwerben, überrascht nicht unbedingt. Der offene Architekturwettbewerb war seit jeher eine Doppelnatur aus Erwerbs- und Symbolgeschäft. An den EU-Dienstleistungsrichtlinien war es, das Schattenreich zurückzudrängen. In Helsinki wurde für das Guggenheim- Museum am Hafen zwar aus 1.715 Teilnehmern ein Gewinner gekürt, aber es gibt kein Realisierungsbekenntnis des Auslobers und kein Geld der Stadt. In Dessau wurde für das Bauhaus-Museum weder der angemessene Standort gefunden und noch hat das Preisgericht die Schneid besessen, aus 831 Einreichungen eine als Gewinner herauszuheben; erst in einer Verhandlung mit zwei Gewinnern konnte ein Entwurf zur Realisierung festgemacht werden. In Wien hatte man für das Wien-Museum trotz aller städtebaulichen Ambitionen nur die Kraft, nach Beurteilung von 274 Entwürfen dem PPP-Gespenst ein Aufstockungsgespenst entgegenzusetzen. In Berlin erwuchsen für das Museum des 20. Jahrhunderts am Kulturforum aus 460 Einreichungen zehn Preisträger, ohne eine weiterführende Idee für den bevorstehenden Realisierungswettbewerb zu propagieren. Die aus Architekturwettbewerben entsprungenen Gespenster sind binnen eines Jahres am großen Parkett zu zahlreich geworden. Das aus dem Ruder laufende globale Wettbewerbsgeschäft wird nun die EU und die Mitgliedsländer zwingen, sich dem Parallelsystem kritisch zuzuwenden. Es geht nicht um einen restriktiven Eingriff in den Planungsmarkt, sondern um die notwendige Regulierung der Auslobungsverfahren zum Schutz der Teilnehmer und der Verfahrensart. Der Schriftsteller Tanizaki Jun’ichirō hat 1933 „Das Lob des Schattens“, einen „Entwurf einer japanischen Ästhetik“ verfasst. Dabei setzt er sich mit der Sehweise der Ostasiaten auseinander, das Schöne als dunkles Gespenst im Schatten zu erwarten. Der Westen hingegen hatte nie den Hang, sich am Schatten zu ergötzen, Westgespenster waren immer von gläserner Helligkeit. Ob Jun’ichirō die Entwicklung des Architekturwettbewerbs vorausgesehen hat? Das Phänomen der frustrierten Wettbewerbsgewinner im EU-Vergaberegime trifft er mit dem Westgespenst genau: prächtig-transparente Unfairness. Walter M. Chramosta N Stilempfehlung Die PET-Flasche ist in aller Munde, wenn auch in verschiedener Weise. Physisch hat sie mit dem Babyschnuller-Mundstück der Fahrradsportler dem Trinken aus der Flasche zu öffentlicher Anerkennung verholfen. Thematisch ist sie ein Zankapfel, auf dem die Gesellschaft schon seit den 1980er-Jahren herumkaut. Ein giftiger, wie manche meinen, obwohl der Werkstoff PET keine Weichmacher enthält. Ein schädlicher, wie viele Umweltschützer glauben, wenn sie Fotos von im Meer strudelnden Plastikinseln sehen. Im Kontrast zu solchen Bildern will einem die gute alte Glasflasche wie eine Heilige erscheinen. Glas gilt als Symbol der Reinheit. Mit seiner lichten Transparenz beweist es dem Augenschein, dass ihm nichts beigefügt ist, dass ihm nichts Böses innewohnen kann. Es ist so hart und glatt, dass aus ihm keine Moleküle ins Getränk einsickern. Seine stoffliche Integrität ist dauerhaft und verlässlich. Dem Glas glauben wir auch, dass es hundertprozentig eingeschmolzen und neu geformt werden kann. Zwar ist die PET-Flasche bequem und leicht, widerspricht jedoch intuitiv unserem Wunsch nach Natürlichkeit. In den Anfängen der Ökobewegung stand „Plastik“ als Feindbild für alles Künstliche, Amerikanische und Kapitalistische. Mittlerweile hat sich jedoch der Umweltdiskurs verwissenschaftlicht. Nicht einzelne Objekte, sondern Systemzusammenhänge, Energiebilanzen und Fußabdrücke werden nun kritisiert. So kommt es, dass in der aktuellen Wertung des Kopf-an- Kopf-Rennens zwischen Glas- und PET-Flasche das Plastikzeug laut Greenpeace an erster Stelle steht. Wenn auch nur im Rahmen eines Mehrwegsystems, wie es in Deutschland verwirklicht ist. Bei rationalen Pattstellungen darf die Entscheidung stilistisch getroffen werden. Im Gourmetrestaurant passt eine Glasflasche besser zum edlen Gedeck. Für diese komplexe Situation hat die Marke Vöslauer die perfekte Designlösung entwickelt. Eine leichte Mineralwasserflasche, die wie eine PET-Flasche geformt ist und dennoch aus Glas besteht. Wolfgang Pauser N Medienempfehlung 2.100 Gemeinden gibt es in Österreich und so gut wie jede hat ihre Gemeindezeitung. Die Optik ist meistens wenig prickelnd, wofür man einerseits Verständnis hat, weil die Blätter zumeist von den Mitarbeitern in der Verwaltung selbst gebastelt sind. Andererseits sind all diese Blätter längst auch Visitenkarten der Kommunen geworden, werden sie doch nicht nur an die örtlichen Haushalte verteilt, sondern sind auch in digitalen Versionen auf den Gemeinde-Webseiten abrufbar und erreichen damit eine weit über die Gemeindegrenzen hinausreichende Interessentenschaft. Ziviltechniker/innen zum Beispiel, die sich über die örtlichen Bau- vor haben informieren, zudem potenzielle Zuzügler oder Urlaubsgäste. Die zehn im Verein Zukunftsorte zusammengeschlossenen Gemeinden, die sich nebst der Förderung der Baukultur und allerhand anderer löblicher Ziele auch die Stärkung der Kreativwirtschaft auf die Fahnen geheftet haben, ließen sich auch zum Thema Gemeindezeitung und Websites coachen. Das kärntnerische Moosburg erkannte gleich Handlungsbedarf und beauftragte den Architekturjournalisten Wojciech Czaja und die Grafikerin Helga Innerhofer mit einem Relaunch des altvaterischen Moosburger Mitteilungsblattes. Der neue „muntermacher“ kommt dennoch nicht daher wie ein Intellektuellenblatt, sondern ist optisch mehrheitsfähig – aber eben aufgeräumt. Neben der Optik wurde am Inhalt gefeilt, der nach wie vor im Gemeindeamt selbst redigiert wird, aber nach der Beratung durch den Profi gehaltvoller wurde und z. B. mit Berichten von Weggezogenen aus deren neuer Heimat den Blick über den Kirchturmhorizont hinaus lenkt. Kann man ungefähr 2.000 anderen Gemeinden als Inspiration nahelegen! Franziska Leeb N 40 | 41 Aus dem Wettbewerb, Empfehlungen

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EuGH zur sechsmonatigen Anfechtungsfrist ab Zuschlagserteilung Beim – gegenwärtig nicht mehr existenten – Bundesvergabeamt (BVA) brachte eine beschwerte Partei einen Antrag auf Feststellung ein, wonach das (verfahrensgegenständliche) Vergabeverfahren aufgrund fehlender vorheriger Bekanntmachung rechtswidrig war. Das BVA wies den Feststellungsantrag als unzulässig zurück, weil dieser nicht gemäß § 332 Abs 3 BVergG innerhalb der sechsmonatigen Ausschlussfrist ab Zuschlagserteilung gestellt wurde. Der Antragsteller bekämpfte diese Entscheidung beim VwGH, wobei dieser sich mittels Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH wandte. Der EuGH (26.11.2015, C-166/14, MedEval) zog in seine Bewertung der Sachlage einerseits das Interesse des Auftraggebers an der Erlangung von Rechtssicherheit und andererseits das Rechtsschutzbedürfnis übergangener Bieter ein. Des Weiteren unterschied der EuGH zwischen Schadenersatzklagen und Rechtsbehelfen, die die Unwirksamkeit eines Vertrags bezwecken. In einer Abwägung dieser Eckpunkte stellte der EuGH fest, dass „der Unionsgesetzgeber [in den Erwägungsgründen 25 und 27 der Richtlinie 2007/66] dem Erfordernis der Rechtssicherheit bei Nachprüfungen mit dem Ziel, einem Vertrag die Wirksamkeit zu entziehen, größere Bedeutung“ beimisst als bei Schadenersatzklagen. Vor einem solchen Hintergrund ist die absolute Ausschlussfrist von sechs Monaten bei Rechtsbehelfen, mit denen die Unwirksamkeit eines Vertrags geltend gemacht wird, gerechtfertigt. Zu Rechtsbehelfen für die Geltendmachung von Schadenersatz führt der EuGH in Rz 41 wie folgt aus: „Das Recht auf Erhebung einer Schadenersatzklage kann praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden, falls die Zulässigkeit von Schadenersatzklagen von der vorherigen Feststellung abhängig gemacht wird, dass das Vergabeverfahren mangels vorheriger Bekanntgabe rechtswidrig war, und dieser Feststellungsantrag binnen einer sechsmonatigen Anschlussfrist gestellt werden muss, ohne dass berücksichtigt wird, ob die geschädigte Person vom Vorliegen eines Rechtsverstoßes Kenntnis hatte.“ Eine solche Sechsmonatsfrist birgt die Gefahr, dass eine geschädigte Person bei Fehlen einer vorherigen Bekanntmachung keine Möglichkeit hat, die für eine etwaige Klage notwendigen Informationen zu sammeln, und bildet somit ein Hindernis für die Erhebung der Schadenersatzklage, so der Gerichtshof weiter. Im Ergebnis bedeutet dies wie folgt: Nach Ansicht des EuGH steht die national für die Geltendmachung von Schadenersatz vorgesehene Ausschlussfrist von sechs Monaten dem Grundsatz der Effektivität entgegen. Im Gegensatz dazu ist die sechsmonatige Frist für Rechtsbehelfe, mit denen die Unwirksamkeit eines Vertrags geltend gemacht wird, gerechtfertigt. Dem AG soll somit – ausgehend von der Rechtsansicht des EuGH – künftig nach Ablauf von sechs Monaten ab Zuschlagserteilung nur noch Rechtssicherheit betreffend der Wirksamkeit des Vertrags zustehen, nicht jedoch in Bezug auf mögliche Schadenersatzansprüche. Christian Gruber/Christian Graf Schramm Öhler Rechtsanwälte www.schramm-oehler.at N Josef Plečnik – Zacherlhaus Geschichte und Architektur eines Wiener Stadthauses Nikolaus Zacherl, Peter Zacherl, Ulrich Zacherl (Hrsg.) Birkhäuser, Basel 2016 Eine mit dunklen Granitplatten verkleidete Fassade, eine Eckrundung, die einen in den Mantel des Gebäude gestellten Zylinder andeutet, eine riesige Figur des Erzengels Michael mit flammendem Schwert, Atlanten, die das mit Lorbeer bekränzte Dachgesims zu halten scheinen und fantastische, an Insekten gemahnende Kandelaber im holzverkleideten Treppenhaus: Das von Josef Plečnik geplante „Zacherlhaus“ zählt zu den wichtigsten Bauten der Sezessionszeit in Wien, ob- wohl – oder vielleicht gerade: weil – es erstaunlich wenig von den großen architektonischen Strömungen seiner Zeit reflektiert. Ein von drei Nachfahren des Bauherrn – des Insektizidfabrikanten Johann Evangelist Zacherl – herausgegebener Band widmet sich nun umfassend dem markanten Gebäude im Herzen Wiens. In dem großzügig bebilderten Buch geht es nicht nur um das Haus allein, sondern auch darum, Charakteristika der facettenreichen Architektur des Otto-Wagner- Schülers Plečnik am Beispiel eines Hauses aufzuzeigen. Auch wird vom Wettbewerb über die Errichtung (1903 – 1905) bis zur Nachnutzung die gesamte Historie des Gebäudes beleuchtet, das aufgrund seiner robusten, funktionsneutralen architektonischen Grundstruktur mehr als hundert Jahre weitgehend unverändert blieb. Anlass für die Publikation waren die jüngsten Umbauten im Inneren, in deren Zuge das ursprüngliche Raumkonzept wieder zur Geltung gebracht und viel Originalsubstanz (Türen, Fenster, Beschläge) freigelegt wurde. Michael Krassnitzer N Sachverständige und ihre Gutachten. Handbuch für die Praxis. Krammer/Schiller/Schmidt/ Tanczos Manz Verlag 2015, 2. Auflage Das Standardwerk für den Sachverständigen wurde überarbeitet und in der 2. Auflage im März 2015 neu herausgegeben. Das Handbuch „Sachverständige und ihre Gutachten“ ist die derzeit empfehlenswerteste Literatur für allgemein beeidete und zertifizierte Sachverständige, für ihre Tätigkeit bei Gericht, Staatsanwaltschaft und Behörde. Im ersten Kapitel werden der Sachverständigenbeweis und die Organisation der Gerichte dargestellt. Auch das Zertifizierungs- und das Rezertifizierungsverfahren werden ausführlich erläutert. In einem weiteren Kapitel werden die Auswahl des Sachverständigen durch das Gericht, die Erstellung von Befund und Gutachten angesprochen. Die Haftung des Sachverständigen für Gerichts- und Privatgutachten und der Schadenersatz werden in einem eigenen Kapitel dargestellt. Im umfassendsten Abschnitt I des Handbuchs wird das Honorarrecht auf Grundlagen des geltenden Gebührenanspruchsgesetzes von den führenden Juristen des Honorarrechts in Österreich, Dr. Krammer und Dr. Schmidt, praxisnah und umfassend erläutert. Neu eingearbeitet in die 2. Auflage wurden das Strafprozessänderungsgesetz 2014 sowie Änderungen im GebAG, im Zertifizierungsverfahren, den Standesregeln und der neuen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Bernhard Felder N Jüngste Entscheidung, Lektüren

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Ein „Handwerker“ der Baukunst | Architekt Franz Kiener im Porträt Ingrid Holzschuh ist freie Kunsthistorikerin und selbstständige Ausstellungskuratorin sowie Museumsberaterin, Lehrtätigkeit an der Universität Wien und der TU Wien mit Forschungsschwerpunkt Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts. 42 | 43 Bereits 70 Jahre arbeitet Franz Kiener im Berufsfeld der Architektur und seit 1959 als selbstständiger Architekt. Sein jüngstes Projekt ist eine Dachaufstockung aus dem Jahr 2015. Nach wie vor geht er täglich in sein Büro im Dachgeschoß des Hauses Lindengasse 39, das er seit 1995 gemeinsam mit seinem Sohn Martin führt. Das Dach atelier bezog er 1959, bis 1966 folgten die Erweiterung und der Ausbau der danebenliegenden Dachräume zu einer Wohnung – der erste Dachausbau im 7. Wiener Gemeindebezirk. Hier konnte er für seine Familie seine gestalterischen Vorstellungen eines Eigenheims umsetzen. Bis heute sind die Räumlichkeiten unverändert, die durch Offenheit und gezielte Lichtführung bestechen. Der kurze Arbeitsweg – über das Stiegenhaus – ermöglicht den „schnellen Sprung“ ins Büro zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sein Arbeitsplatz ist der Tisch eines „Handwerkers“, der mit Reißschiene und Zeichendreiecken arbeitet und seine Entwürfe auf Transparentpapier visualisiert. Die Aquafixrolle ist stets zur Hand, um etwaige Details oder Ent wurfsideen skizzenhaft festzuhalten. Kein Computer, sondern Druckbleistifte, Tuschstift, Zirkelset und Lineale sind auf Kieners „Werkbank“ zu finden. Er ist ein Architekt, der Details noch im Maßstab 1 : 1 auf Papier bringt und damit vollends seiner Ausbildung, dem „Handwerk“ der Baukunst, gerecht wird. Die Übersetzung in die heute notwendige digitale Form übernehmen die Mitarbeiter, die oftmals angesichts der Plangröße am Computer arbeitsplatz an Platzgrenzen stoßen. Seine bautechnische Ausbildung erhielt Kiener in der Staatsgewerbeschule in Salzburg, seine baukünstlerische an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Er ist Absolvent der Holzmeister-Schule der Nachkriegszeit und fühlte sich zeitlebens mit seinem Lehrer Clemens Holzmeister verbunden, der ihm auch ein persönlicher Freund war. Ab 1966 gestaltete Kiener die Geburtstagsfeste und Ausstellungen für Holzmeister mit. Auch nach dessen Tod wurden von ihm bis 2013 regelmäßig Absolvententreffen mitorganisiert, die das Gemeinschaftsgefühl der Holzmeister-Schüler und das Andenken an ihren Lehrer lebendig hielten. Neben Holzmeister war es vor allem dessen Assistent Eugen Wachberger, der Kieners architektonische Ausbildung prägte und ihm nicht nur beruflich, sondern auch privat ein wichtiger Mentor wurde. Wachberger war ein Vertreter der gemäßigten Moderne der Zwischenkriegszeit, eine Architektursprache, die er auch nach 1945 beibehielt und die eine gute Basis für Studenten wie Kiener bildete, die in der Architektur der Nachkriegsmoderne ihre neue Ausdrucksweise fanden. Die Teilnahme am Wachsmann-Seminar 1956 intensivierte die Auseinandersetzung mit Themen wie Planen im Raster, modulare Ordnungssysteme und Vorfertigung. 1959 entwickelte er gemeinsam mit Gustav Peichl und Wilhelm Hubatsch den Masterplan der Südstadt, dem ersten städtebaulichen Projekt einer realisierten Gartenstadt der Nachkriegszeit. Der Neubau des Verwaltungszentrums (1963) für die Fir men nEWAG und nIoGAS (heute EVn) wurde von dem Architektentrio entworfen. Es entstand ein Bau, umgesetzt in der Bildsprache der Nachkriegsmoderne, der noch heute, nach über 50 Jahren, in seinen ursprünglich gewählten Materialien besteht und damit der heutigen Definition einer „nachhaltigen“ Architektur mehr als gerecht wird. 1965 gehörte Franz Kiener u. a. der Studiengemeinschaft „Vorfertigung im Schulbau“ an, deren Ergebnisse beim Bau von drei Modellschulen umgesetzt wurden. Franz Kiener und Ferdinand Kitt wurden in Tirol mit dem Neubau des Bundesrealgymnasiums in Imst (1970) betraut. Mit der Modellsanierung des Karl-Marx-Hofes (1989), die zum Prototyp der folgenden Sanierungen der Zwischenkriegszeit-Gemeindebauten wurde, begann Kieners langjährige Tätigkeit in der Wiener Stadterneuerung. Neue, veränderte Herausforderungen gab es zu bestreiten, die sich mit dem Aufbringen eines Wärmedämmverbundsystems oder dem Einbau von neuen Fenstern ergaben. Gemeinsam mit dem Bundesdenkmalamt, den Behörden und den Professionisten wurden neue Systeme entwickelt und erprobt. Eine ungeliebte Planungsaufgabe, da sie von dem Architekten einfordert, seine Gestaltung der bestehenden Architektur unter zuordnen. Kieners erfolgreicher Dialog mit den Bauherren, den er seit Jahrzehnten unter dem Aspekt des sich Ein lassens auf die jeweilige Persönlichkeit führt, spiegelt sich in der Vielzahl an gebauten Einfamilienhäusern in ganz Österreich. Kiener ist kein Theoretiker, sondern ein Praktiker, dem das Bauen und die Suche nach „fachgerechten“ Lösungen ein großes Anliegen ist. Als ein seit 1952 registriertes Mitglied in der Zen tralvereinigung der ArchitektInnen Österreichs zählt er heute zu deren ältesten Mitgliedern. Über 40 Jahre engagierte er sich als ZV-Vorstandsmitglied für die Interessen des Architektenstandes. Franz Kiener feiert im April 2016 seinen 90. Geburtstag. Anlass genug für eine Publikation, die Leben und Werk des Wiener Architekten dokumentiert und mit dem Titel „Eine Ordnung als Anfang“ im Frühjahr im Verlag Park Books erscheint. N Porträt Franz Kiener

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Fehlanzeige Das Diktat der Verwertungslogik Bevor sich heute eine Theorie formiert hat, sich ihrer selbst vergewissern konnte und ihr Gebäude auf sichere Fundamente gestellt hat, wird schon nach ihrem Nutzen gefragt – und sie hat sich schon wieder aufgelöst. Das Operative, das Instrumentelle hat längst die altmodische Wahrheitsliebe ersetzt. Die Forschung hat – noch bevor sie ihren Gegenstand benennen kann – bereits ihre Anwendbarkeit nachzuweisen und letztlich ihren Mehrwert für die alles umfassende Ökonomie zu beziffern. Die Kunst muss „kreativ sein“, also etwas Ordentliches hervorbringen, das in den Kreislauf der Umwegrentabilität eintreten und sich in Gewinn übersetzen lässt – wenn schon nicht direkt in Geld, dann zumindest in Imagesteigerung. Auch das Temporäre, das Ephemere hat das Verwertbare von morgen vorzubereiten, ist immer auch Interludium, denn auch in den Atempausen der Verwertungslogik wird Verwertung vorbereitet. Wer heute zu lange nachdenkt, steht still und droht den Anschluss zu verlieren. Die Zeit rast und die Gedanken sind träge. Wer up to date sein will, ist geschmeidiger Surfer, kein Strandverweigerer und Stubenhocker und schon gar keine Leseratte! Die Kritik darf streng sein, solange sie gleichzeitig operativ wirkt, für eine Alternative eintritt, etwas propagiert. Um ihre Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen, muss sie es im Vorhinein schon besser wissen, ja – es selbst besser machen können. Dem italienischen Architekturkritiker Manfredo Tafuri, der Ende der 1960er-Jahre sinngemäß behauptet hatte, es könne in der falschen Gesellschaft keine wahrhaft kritische Architektur geben, sondern nur eine radikale Kritik derselben Gesellschaft, hatte man gar vorschnell die „Ermordung der Architektur“ in die Schuhe geschoben. Doch der Venezianer hat dieses Urteil dreißig Jahre überlebt. Er spazierte täglich durch sein geliebtes Venedig, um in seinem Lieblingsrestaurant sein Lieblingsessen zu bestellen: Pasta Nero. Andre Krammer N Das nächste Heft „Jedes Volk, jede Stadt erhält den Städtebau, den sie verdient“, sagte einst der Stadtplaner und Architekt Ernst May, der in den 1920er-Jahren Regie über das Städtebauprogramm „Neues Frankfurt“ führte. Eine gebaute Umwelt, die mehr als reine Funktionserfüllung ist und über die Grundbedürfnisse hinaus Mehrwerte bereitstellt, ist eine kollektive Anstrengung, die jedermanns Kraft und vielerlei Kenntnisse erfordert. Vor dem Hintergrund des Themas der heurigen Architekturbiennale in Venedig „Reporting from the Front“ und dem österreichischen Beitrag „Orte für Menschen“ wollen wir Handlungsspielräume für Ziviltechniker/ innen bei einer menschenwürdigen, lebenswerten Gestaltung unserer Umgebung ausloten.

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Von oben betrachtet sieht ein Misthaufen wie ein Misthaufen aus. Zumindest für jene, die mit diesem Begriff noch eine Erfahrung verbinden. In Dörfern gab es früher einen Platz, wo alles hingebracht wurde, was man wegwerfen wollte. Heute würde man einen solchen Ort als wilde Deponie im Gemeindebetrieb bezeichnen – wenn es Misthaufen noch gäbe. Ihre Abschaffung verdanken wir dem Wandel der Haltung gegenüber dem Abfall. Die von vorne betrachtet gloriose Konsumgesellschaft zeigte sich von hinterwärts als Wegwerfgesellschaft. Weil ihr Heilsversprechen die Abfallberge in den Himmel wachsen ließ, fielen immer mehr Menschen von dem Glauben ab, dass mehr Dinge mehr Glück bedeuten. Konsumkritik und Ökokritik vereinten sich in den 1980er-Jahren, um gemeinsam Stunk zu machen. Der Misthaufen wurde zur Ikone der Umweltverschmutzung und landete auf dem Müllhaufen der Geschichte. Auf dem grünen Boden der Kapitalismuskritik spross ein großer Industriezweig, die Abfallwirtschaft. Hier herrscht das Prinzip des Recycling. Mit wachsendem Aufwand werden die von geplanter Obsoleszenz und Mode entwerteten Dinge in ihre stofflichen Bestandteile zerlegt und so gut wie möglich in neue Produkte verwandelt. Der Recyclinggedanke löst heute sogar allerlei Begeisterungen aus. Eine Welt, in der alles nur noch aus Abfall besteht, erscheint manchen Menschen als erstrebenswert, sie träumen vom geschlossenen Kreislauf im autarken Einfamilienhaus der Zukunft. Begeisterung weckt der Recyclinggedanke auch in urbanen Kreativmilieus, die der Designmode des Upcycling folgen und ihre Wohnungseinrichtung gern in jenen teuren Läden kaufen, die aus alten Obststeigen assemblierte Couchtische anbieten. Wenigen Dingen ist eine so drastische Aufwertung zuteil geworden wie dem Mist. Da wir im Zeitalter der Euphemismen leben, haben wir ihm auch einen neuen Namen gegeben. Er heißt jetzt Wertstoff. Gehäuft findet man ihn in Wertstoffhöfen, wo er in Sekundärrohstoff verwandelt wird. Was selbst hier als Rest übrig bleibt, darf auch nicht weggeworfen werden. Zumindest die Sprache sorgt dafür, dass der Mist vom Mist in einer Metapher der Lagerhaltung aufgewertet bleibt. Was einst ein Haufen war, ist nun ein Endlager, eine Deponie und ein Material für die Landschaftskunst. Wolfgang Pauser N