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296, Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten Dezember 2014, www.daskonstruktiv.at, Euro 9,– | GZ 12Z039152 M | bAIK, Karlsgasse 9, 1040 Wien 296, Alpen In der Epoche der Industrialisierung steht die Geste der Naturaneignung hoch im Kurs. Naturwissenschaft und Technik werden im Mythos eines Sieges des Menschen über die Natur gelesen. Auf den Gipfeln der Berge wird dieser Sieg sinnbildlich erlebt.

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Inhalt 8 – 11 12 – 15 16 – 19 20 – 23 24 – 26 27 – 30 Alpen Editorial, Das neue Vorsitzteam der Bundeskammer Puntigams Kolumne, Dusls Schwerpunkt Standpunkte: Klaus Thürriedl; Peter Bauer, Bernhard Sommer und Christoph Mayrhofer, Hanno Vogl­Fernheim Plus / Minus: Schöne neue Alpenwelt – Fluch oder Segen? Andre Krammer Phantasmen des Alpinen | Vom Ruf der Wildnis zum Echo der Medientechnologie Wolfgang Pauser Wie trifft der Klimawandel den Siedlungsraum in Österreich? | Was wir wissen und in Planung und Architektur einkalkulieren sollten Martin König und Natalie Glas Tief im Berg | Ingenieure unter Tag Sebastian Jobst Der Siedlungsraum der Alpen | Vom regionalen zum globalisierten Kulturraum? Axel Borsdorf Vernakulare Architektur in den Alpen | Eine Spurensuche Carmen Auer Alpen in Bewegung | Aus starren Karten werden dynamische Modelle Barbara Opitz 34 – 35 36 – 38 40 – 41 Der Wert von Liegenschaften | Von Immobilien und Steuern Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ | Bei der Umsetzung darf nicht auf die Besonderheiten der geistigen Dienstleistung vergessen werden! Corinna Greger Aus dem Wettbewerb | Empfehlungen | Jüngste Entscheidung | Krassnitzers Lektüren Porträt Ursula Faix Fehlanzeige, Das nächste Heft Von oben Matthias Winterer Impressum Medieninhaber und Herausgeber Erscheinungsweise Auflage Einzelpreis Abopreis pro Jahr Redaktion, Anzeigen & Aboverwaltung Redaktionsteam Redaktionsbeirat konstruktiv 296 Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (bAIK) 1040 Wien, Karlsgasse 9 T: 01­505 58 07­0, F: 01­505 32 11 www.daskonstruktiv.at vier Mal jährlich 14.500 Stück 9,00 Euro 24,00 Euro art:phalanx Kunst­ und Kommunikationsbüro Clemens Kopetzky (Geschäftsleitung) Susanne Haider, Sebastian Jobst, Anna Resch 1070 Wien, Neubaugasse 25 /1 /11 T: 01­524 98 03­0, F: 01­524 98 03­4 redaktion@daskonstruktiv.at, anzeigen@ daskonstruktiv.at, abo@daskonstruktiv.at Walter Chramosta (Architekturpublizist), Gerald Fuxjäger (Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Steiermark und Kärnten), Georg Pendl (Vorsitzender der Sektion Architekten der bAIK), Rudolf Kolbe (Vizepräsident der bAIK und Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Oberösterreich und Salzburg), Sabine Oppolzer (Kulturjournalistin), Wolfgang Pauser (Konsumforscher & Berater) Lektorat Grafisches Basiskonzept Gestaltung Druck Abbildungen F. = Fotograf A. = Architekt Dorrit Korger Gassner Redolfi, Schlins Bohatsch und Partner, Wien vektorama. grafik.design.strategie Wien Ueberreuter Print GmbH, Korneuburg Gedruckt auf SoporSet Premium Seite 3: © Johannes Zinner // Seite 4: Ingo Pertramer, Andrea Maria Dusl // Seite 5: bAIK, F Katharina Gossow // Seite 7­29: © Margherita Spiluttini // Seite 8, 9, 12, 14, 15 vektorama. grafik.design.strategie, Wien // Seite 35: vektorama. grafik.design.strategie, Wien, iStock // Seite 36: © Mike Ranz / www.mikeranz.at // Seite 42: Ursula Faix // Seite 43: Angie Torres | Imaginechina // Seite 44: Ingo Meironke Die Redaktion ersucht diejenigen Urheber, Rechtsnachfolger und Werknutzungsberechtigten, die nicht kontaktiert werden konnten, im Falle des fehlenden Einverständnisses zur Vervielfältigung, Veröffentlichung und Verwertung von Werkabbildungen bzw. Fotografien im Rahmen dieser Publikation um Kontaktaufnahme. Das Gestaltungskonzept dieser Zeitschrift ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist unzulässig. Die Texte, Fotos, Plandarstellungen sind urheberrechtlich geschützt. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben ausschließlich die Meinung des Autors wieder, die sich nicht mit der des Herausgebers oder der Redaktion decken muss. Für unverlangte Beiträge liegt das Risiko beim Einsender. Sinngemäße textliche Überarbeitung behält sich die Redaktion vor. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Zugunsten der Lesbarkeit wird, wenn von den Autorinnen und Autoren nicht anders vorgesehen, auf geschlechtsspezifische Endungen verzichtet. Das Zitat auf dem Titel wurde dem Text von Wolfgang Pauser entnommen. Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz ist auf www.daskonstruktiv.at veröffentlicht. 2 | 3

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Editorial Abseits der Postkartenmotive stellen die Alpen für ihre Bewohner seit jeher einen herausfordernden Lebensraum dar. Besondere Landschaften erfordern auch besondere Lösungen, sich in ihnen zurechtzufinden, in Häusern, Siedlungsstrukturen und Infrastrukturen geben unzählige Aspekte und Details Auskunft über ihre Umwelt. In der Analyse vernakularer Architektur zeigt sich das besonders deutlich, denn in der Architektur ohne Architekt formten sich über Jahrhunderte regionsspezifische und dementsprechend an klimatische und landschaftliche Verhältnisse angepasste, charakteristische Bautraditionen aus. Parallel zu soziokulturellen Veränderungen lassen sich bereits zeitgenössische Adaptionen, aber auch Brüche in dieser gewachsenen Baukultur beobachten. Ebenso stellen die prognostizierten Klimaveränderungen die Architektur vor Herausforderungen, sich an diese neuen Gegebenheiten anzupassen. Im vorliegenden Schwerpunkt wird darüber hinaus dem kulturell geprägten Blick auf die Alpen und welchem Wandel dieser unterworfen war nachgegangen. Auf mehreren Ebenen gleichzeitig setzte die technische Bezwingung der Alpen, oder was sich als solche verstand, ein, touristische Infrastrukturen drangen in immer weitere Höhen vor, während Bergwerke und der Tunnelbau immer weiter ins Innere der Gebirge vorstießen. Mit dieser Ausgabe des KONstruktiv verabschiede ich mich als Chefredakteur des KONstruktiv und freue mich die traditionsreiche Geschichte dieser Publikation in den letzten Jahren ein Stück weitergeschrieben haben zu dürfen. An dieser Stelle bedanke ich mich bei den Autoren für die unzähligen spannenden Einblicke in ihre jeweiligen Fachgebiete und für die produktive Zusammenarbeit mit den gesamten Akteuren, die an den Heften mit Herz und Hirn mitgearbeitet haben. Künftig freue ich mich als Leser auf von meiner Nachfolgerin Franziska Leeb konzipierte Ausgaben des KONstruktiv. Sebastian Jobst N Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, seit dem 3. Oktober sind nun wir, Christian Aulinger und Rudolf Kolbe, im Amt und bilden gemeinsam das neue Vorsitzteam der Bundeskammer. Vorrangigstes unserer vielen Ziele ist die Fortführung der guten Zusammenarbeit zwischen den Sektionen. Was in der letzten Funktionsperiode bereits begonnen hat, wird von uns geschätzt und weiter ausgebaut werden. So zum Beispiel arbeiten wir bereits seit den Wahlen intensiv an einer Umstrukturierung des Umgangs mit den Themen und Aufgaben der Berufsvertretung. Anstatt beide Sektionen von jeweils deren Standpunkten aus an den (möglicherweise) selben Themen arbeiten zu lassen, werden nun Ressorts gebildet, in denen sich sektionsübergreifend Teams zusammenfinden. So soll gewährleistet sein, dass ein Team, welches die beiden Sektionen gleichermaßen vertritt, zu einer gemeinsamen Lösung, einem gemeinsamen Vorgehen innerhalb eines Bundeskammer­Ressorts kommt. Nur so können wir Meilensteine wie die Überführung der WE erreichen. Zum Beispiel ist die Frage des Nachwuchses innerhalb der ZiviltechnikerInnen eine sehr vitale. Wir müssen unsere jungen Kolleginnen und Kollegen von der Universität „abholen“. Orientiert man sich an anderen der Freien Berufe, die ja unterschiedliche Formen des Anwärterstatus (z. B. 2031 RechtsanwaltsanwärterInnen, 6290 TurnusärztInnen) kennen, dann sollte die Gruppe der ZT­Anwärterinnen und Anwärter eine ähnlich beachtliche Anzahl an Personen umfassen. Diese Überlegungen gehen Hand in Hand mit dem Ausbau des kammereigenen Fortbildungsangebots. Daher wird es auch hier von maßgebender Bedeutung sein, sämtliche Energien in die Schaffung einer österreichweiten Akademie zu bündeln. Fortbildung muss für jede Kollegin und jeden Kollegen leistbar und (geografisch) einfach zu erreichen sein. Auch internationale Entwicklungen müssen dabei berücksichtigt werden. Mit der zunehmenden Globalisierung und der weiteren Integration in den EU­Binnenmarkt nimmt die Nachfrage nach mobilen und qualifizierten ZiviltechnikerInnen schnell zu. Unser Bildungsangebot wird sich daher einerseits verbreitern müssen und andererseits die bereits bestehende Fortbildungsverpflichtung unserer Berufsgruppe eine genauere Regelung brauchen. Weitere Schwerpunkte sind die Vertretung unserer Interessen bei der Umsetzung der Vergaberichtlinie (Stichworte: Bestbieterprinzip, verbesserter Rechtsschutz, Erleichterung bei der Teilnahme). Auf Basis der von Univ.­Prof. Lechner publizierten LM.VM werden wir öffentlichen AuftraggeberInnen den Abschluss von Honorarvereinbarungen i. S. des ZTKG vorschlagen. Wir möchten uns auf diesem Wege auch bei unseren Wählerinnen und Wählern für das ausgesprochene Vertrauen bedanken. Wir sehen dieses nicht als selbstverständlich an und werden, dadurch gestärkt, verantwortungsvoll die kommende Legislaturperiode gestalten. Christian Aulinger (Präsident) Rudolf Kolbe (Vizepräsident) N

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Bergrettung Martin Puntigam Kabarettist, Autor und MC der Science Busters Berge können lästig sein. Es gibt sie erdgeschichtlich gesehen noch gar nicht so lange, die Alpen etwa waren erst vor circa 35 Millionen Jahren fertig, und sie sind manchmal ganz schön im Weg, wenn man auf kürzester Strecke weiterkommen will. Aber Berge können auch sehr praktisch sein, etwa wenn man mit einem Flugzeug über ihnen abstürzt. Wenn Sie aus einer Flughöhe von sechs bis sieben Kilometern abstürzen, haben Sie ungefähr zweieinhalb Minuten Zeit, um nach einem möglichst steilen Berghang zu suchen, am besten tief verschneit und vereist. Das Ziel lautet, beim ersten Aufprall möglichst mit dem ganzen Körper aufzukommen. Der Berg wird Sie abprallen lassen, und zwar mehrfach, und bei jedem Rendezvous mit dem Boden verlieren Sie etwa 20 km/h Geschwindigkeit. Wenn Sie dabei die Muskeln des gesamten Körpers anspannen, dann wird die Bewegungsenergie ebendieses Körpers in Reibungsenergie umgewandelt. Mit einigem Glück sind Sie im Tal nicht ein Haufen zerbroche ner Knochen umgeben von einer Hauthülle, sondern vielleicht zwar schwer verletzt, aber noch am Leben. Das klingt unglaubwürdig, ist jedoch schon mehrfach passiert. Man spricht vom sogenannten Club der 6000er. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Verein von Lebensmüden, die auf 6000 Meter hinauffliegen, ohne Fallschirm aus dem Flugzeug aussteigen und schauen, ob sie es überleben, sondern um Menschen, die einen derartigen Unfall zufällig überlebt haben. Davon gibt es nicht sehr viele und sie halten auch keine Jahreshauptversammlungen ab mit Entlastung der Geschäftsführung, aber sie können noch lebhaft von ihrem Unfall erzählen. Was aber soll man tun, wenn kein steiler Berghang in der Nähe ist? Hoffen, dass eine hohe Brombeerhecke seinen Platz einnimmt. Der Brite Michael Holmes musste im Jahr 2007 in Neuseeland während eines Sprungs aus 4000 Metern bemerken, dass seine Fallschirme sich diesmal freigenommen hatten. Er fiel in eine übermannshohe Brombeerhecke und überlebte mit Abschürfungen, Prellungen, Verletzungen an der Lunge und wenigen Knochenbrüchen. Und die Brombeerflecken hat er wahrscheinlich nicht mehr aus dem Gewand herausbekommen. Was ihn aber ebenso wenig gestört haben dürfte wie die Tatsache, dass er als Überlebender aus dieser Höhe natürlich noch keinen Anspruch auf einen Mitgliedsausweis im Club der 6000er hat. N Dusls Schwerpunkt 4 | 5 Puntigams Kolumne | Dusls Schwerpunkt

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Brüssel: Zug fährt ab! Wien: Zug fährt ein! Klaus Thürriedl Vorsitzender der Bundessektion der Ingenieurkonsulenten terprinzip als vorrangiges Zuschlagskriterium in den Richtlinien so festzuschreiben, dass es den Nationalstaaten gestattet, dieses (für Auslober) verpflichtend für geistige Dienstleistungen einzuführen. An den Erfolg auf EU­Ebene gilt es, nun auch auf nationaler Ebene anzuknüpfen. Gewerkschaften und WKO haben ebenfalls die Brisanz des Themas erkannt und betreiben anlässlich der Umsetzung der Vorgaben der EU­Vergaberichtlinie seit heuer die (auch medial) viel beachtete Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“. Im November wurden deren Forderungen im Rahmen einer Enquete im Plenarsaal des Parlaments zur Diskussion gestellt. Die Sozialpartner­Initiative fordert u. a. das verpflichtende Bestbieterprinzip bei Bauleistungen ab einer Million Euro – Seit über drei Jahren wurde in Brüssel an der Vergaberichtlinie gebastelt. Mit April 2014 wurde sie verabschiedet und muss bis Mai 2016 innerhalb der Mitgliedsstaaten umgesetzt sein. In Brüssel haben wir es geschafft, das Bestbiedies geht der bAIK allerdings nicht weit genug. Daher habe ich die Gelegenheit genutzt und vor Ort auf die Relevanz der Festschreibung einer Verpflichtung zum Bestbieterprinzip für geistige Dienstleistungen, unabhängig von der Höhe des Auftragwerts, hinzuweisen. Denn die ZiviltechnikerInnenleistungen gewährleisten Sicherheit und die Lebensqualität der Bevölkerung. Natürlich sind Bauherren im Allgemeinen gut beraten, sich nicht vom kurzfristigen Schein der geringen Anschaffungskosten blenden zu lassen, sondern langfristig zu denken. Auch wir denken langfristig und versuchen dafür zu sorgen, dass es politisch bei der Novellierung des BVerG nicht bei leeren Schlagworten bleibt. N Vergaberecht für Schummler Da die Kammer bei Anfechtungen von unfairen Direktvergaben von Planungsleistungen nicht als Antragstellerin fungieren darf, haben wir die „ARGE Mayrhofer Sommer Bauer“ gegründet und einen Anfechtungsantrag gestellt, um die unzulässige Direktvergabe der Umgestaltung eines Internats in Oberwart zu verhindern. Die Stadtgemeinde Oberwart verzichtete infolgedessen freiwillig auf eine Gerichtsverhandlung aufgrund der absehbaren Niederlage, und der Bürgermeister signalisierte, dass er das Gespräch mit der Kammer sucht. Die von der ARGE bezahlten Pauschalgebühren werden von der Stadtgemeinde ersetzt. Der gleiche Effekt ergab sich nach dem Einspruch unserer ARGE gegen die Vergabe der Umgestaltung des Wiener Austria Center. Der Auftraggeber IAKW­AG widerrief die beabsichtigte Vergabe. Anhand dieser Beispiele wird deutlich: Bei der freihändigen Vergabe sind Auftraggeber fein raus. Selbst wenn sie dabei gegen das Bundesvergabegesetz verstoßen, haben sie aufgrund des mangelhaften Rechtsschutzsystems kaum Konsequenzen zu befürchten. Diese unfaire Vergabe kann ein Einzelner zwar anfechten, er riskiert dabei aber hohe Kosten. Nur professionelle Korruptionsaufdecker tun sich das freiwillig an. Dem einzelnen Unternehmer ist das nicht zuzumuten. Wir fordern daher mit Nachdruck eine Antragslegitimation der Kammer für die Anfechtung solcher Verfahren und scheuen dabei auch nicht davor, diese sogenannten „Schummler“ öffentlich vor den Vorhang zu zerren. So zum Beispiel können Sie im Artikel „Direktvergabe: Peter Bauer (links) Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien|NÖ|Bgl Bernhard Sommer (Mitte) Vizepräsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien|NÖ|Bgl Christoph Mayrhofer (rechts) Sektionsvorsitzender Architekten der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien|NÖ|Bgl Fehlt Rechtsschutz?“ in der Presse­Ausgabe vom 13. November die Forderungen der Kammer nachlesen. N Pseudoholladrio Hanno Vogl-Fernheim Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Tirol und Vorarlberg Wer sich in Tirol auf die Suche nach qualitätvoller, zeitgenössischer Tourismusarchitektur macht, findet wenige Beispiele. Leider. Gerade hier tummeln sich nämlich meist Baumeister und Inneneinrichter. Architekten, die speziell im touristischen Bereich Konzepte entwickeln, sind kaum zu finden. Allerdings – und das möchte ich herausstreichen: Das Bewusstsein für zeitgemäße Qualität wird stärker. Es gibt einige Bauherren, die auf Baukultur setzen, und Erfolg damit haben – medial und bei den Gästen. Gerade was Aussichtsplattformen und Seilbahnstationen anbelangt sind hier neue Maßstäbe gesetzt worden. Auch die Dorfkernrevitalisierung spielt eine durchaus positive Rolle. Insgesamt aber müssen umfassendere Konzepte angedacht werden. Schließlich geht es nicht nur um Hotelarchitektur, sondern um einen Ort als Mikrokosmos. Es braucht also ein umfassenderes Denken, Leitprojekte und ­ideen. Solche gibt es erst in Ansätzen. Was sich leider hartnäckig hält, ist die Meinung, der Gast wolle diesen völlig überladenen „Tiroler Stil“. Tatsächlich gewinnen gerade Themen wie Einfachheit, Nachhaltigkeit, Materialien und Verarbeitung an Bedeutung. Die Jungen wollen weg von den Klischees. Dieses Pseudoholladrio ist zudem extrem teuer bei wenig handwerklicher Qualität. Wichtig ist, dass sich der Bauherr mit der Architektur identifiziert, dann überträgt sich das auch auf die Gäste. Eine der größten Herausforderungen in der Tourismusarchitektur ist und bleibt die Maßstäblichkeit: Bettenburgen sind Bettenburgen. Gerade in Tirol wird das immer wieder schmerzhaft sichtbar. N Standpunkte

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Schöne neue Alpenwelt – Fluch oder Segen? Die wachsende Zahl an Zweitwohnsitzen in Alpengemeinden ist zum Symbol eines Transformationsprozesses geworden, der die Ordnung gewachsener Siedlungsstrukturen auf den Kopf stellt und neue raumordnerische Konzepte verlangt. Eine schleichende Urbanisierung der Alpen ist im Gange, die einerseits begründete Ängste der lokalen Be völkerung hervorruft, andererseits als Chance wahrgenommen werden könnte, über die Zukunft der Besiedelung des Alpenraums neu nachzudenken. In den Alpen trifft man immer öfter potemkinsche Dörfer, in denen die Häuser wie neu erscheinen und die gepflegten Gärten in der Sonne glänzen, aber kaum jemand auf den Straßen und Gassen anzutreffen ist, als hätte eine Epidemie die Bewohner hingerafft und Geisterdörfer zurückgelassen. Und doch ist der wahre Hintergrund wenig romantisch: Es handelt sich um lose Anordnungen von Zweitwohnsitzen, die Stadtflüchtige ausschließlich in ihrer Freizeit nutzen, oder auch um Zweitwohnsitze, die – um Restriktionen zu umgehen – als Erstwohnsitze getarnt werden, aber nur wenige Tage im Jahr tatsächlich bewohnt werden. Das ist streng genommen illegal, und obwohl mancherorts auch schon Zwangsversteigerungen von Liegenschaften stattgefunden haben sollen, wachsen die architektonischen Artefakte der Wochenendkultur weiter wie Schwammerl aus den Almböden, getrieben von einer prekären Wunschprojektion, in deren Mittelpunkt das alpine Holzhaus mit Panoramablick als kollektives Phantasma steht, das sich in Serie reproduziert. Das neue Alpendorf kennt keinen Raumzusammenhang, der seine Einzelteile zu verbinden mag. Das architektonische Vokabular ist aus dem Maßstab geraten und hat sich längst von ursprünglichen funktionalen Zusammenhängen abgelöst. Oft werden Tradition und Lokalkolorit vorgetäuscht. Die Folge dieser misslungenen Camouflage ist ein alpiner Kolonialstil mit fatalem Hang zum Kitsch. Dabei ist die Kolonisation der Alpen kein neues Phänomen. Allerdings ist die Sommerfrische von heute kein temporärer Einfall eines mondänen Publikums in gewachsene Strukturen mehr, der eine intakte Landschaft zurücklässt, sondern eine Invasion der Vermögenden, die sich auch in die Grundbücher einschreiben und so den alpinen Raum auf Dauer überformen. Die prekärsten Folgen sind unsichtbar. Erreicht die Zahl an Zweitwohnsitzen ein kritisches Maß, steigen die Immobilien­ und Grundstückspreise an, bis sie für die lokale Bevölkerung unerschwinglich werden und viele sich zur Abwanderung gezwungen sehen. Wenn Quadratmeterpreise im alpinen Raum sich jenen der Wiener Innenstadt annähern, wird die Problematik überdeutlich, dann hat die Gentrifizierung der Alpen längst eingesetzt. Der alpine Raum ist längst keine heile Gegenwelt mehr, sondern Teil des globalisierten Wirtschafts­ und Gesellschaftssystems, geprägt von Arbeitsmigration, Tourismus und Freizeitindustrie. Das romantisierende Bild einer vorgeblich idyllischen Alpenwelt ist eine Verzerrung der Wirklichkeit, ein künstlich am Leben gehaltenes Phantasma und als solches gefährlich, da es einen nüchternen und analytischen Blick verunmöglicht, der aber notwendig wäre, um neue raumplanerische, ökologische und nachhaltige Konzepte zu entwickeln. Die Forderung nach Autarkie und Autonomie, wie sie ein Reinhold Messner gerne erhebt, ist fragwürdig, da sich die metabolistischen Systeme in einer zunehmend vernetzten Welt nicht mehr fein säuberlich voneinander trennen lassen. Die Angst über den Verlust des Authentischen und des Ursprünglichen, die auch in der Klage über die wachsende Zahl an Zweitwohnsitzen, die gleichsam als Invasion einer fremden Kultur wahrgenommen wird, ist dabei ein schlechter Ratgeber. Hingegen wäre eine Objektivierung des Sachverhalts dringend notwendig. Mit der wachsenden Zahl an Wohnsitzen sind für Gemeinden auch im alpinen Raum höhere Steuereinnahmen verbunden. Wird diese urbane Wertschöpfung richtig reinvestiert, können auch Mehrwerte geschaffen werden, die der Allgemeinheit zugute kommen, etwa durch Infrastrukturmaßnahmen, durch Versorgung mit sozialen Einrichtungen wie Kindergärten oder eine Verbesserung der oft mangelhaften medizinischen Versorgung. Nicht der Wandel an sich ist das Problem, sondern die Einseitigkeit der Parameter, die diesen bisher vorangetrieben haben. Nicht der eine oder andere Zweitwohnsitz ist das Problem, sondern die Anzahl im Verhältnis zur ansässigen Bevölkerung. Neue, verträgliche Relationen müssten hergestellt werden, und Erfahrungen und Entwicklungsmodelle, die im urbanen Raum gemacht und erarbeitet wurden, sollten in den alpinen Kontext importiert, dort angewandt und möglicherweise verbessert werden. Dann könnte das Alpendorf zum Stadtlabor geraten, in dem neue räumliche, soziale und ökologische Strategien getestet und umgesetzt werden. Andre Krammer N 6 | 7 Minus/Plus

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Alpen Von 1991 bis 2003 hielt Margherita Spiluttini das ambivalente Wechselspiel zwischen dem Naturraum der Alpen und konstruktiven Eingriffen in diesen fest. In den Bildern der Serie „Nach der Natur. Konstruktionen der Landschaft“ prallen unterschiedliche Zeitlichkeiten aufeinander, einerseits die Alpen, deren Prozesse nur in geologischen Zeitaltern erfassbar sind, andererseits die technischen Konstruktionen, die aller Ingenieurskunst zum Trotz weit schnelleren Alterungsprozessen unterworfen sind. Gleichzeitig lassen die Fotos bewusst werden, dass die Alpen mittlerweile vom Menschen durch eine Kulturlandschaft gänzlich überformt wurden. In Anlehnung an einen Titel Max Frischs, „Der Mensch erscheint im Holozän“, ließe sich „Die Alpen verschwinden im Anthropozän“ weiterdenken. Nicht mehr länger sind es ausschließlich tektonische Verschiebungen, Wind und Wetter, die Gebirgen ihre Form verleihen, sondern der Mensch. Ein Umstand, der uns zu einem bewussteren Umgang mit dieser Landschaft mahnen sollte. Sebastian Jobst N Margherita Spiluttini Staumauer Grimselsee 2 und Grimselpassstraße, CH, 2001

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Phantasmen des Alpinen | Vom Ruf der Wildnis zum Echo der Medientechnologie Wolfgang Pauser beschäftigt sich als Kulturwissenschaftler, Autor und Berater mit Konsum, Produkten, Marken und Märkten. In den 90er­Jahren schrieb er Kolumnen über Konsumwelten für Die Zeit und unterrichtete Architekturtheorie am Institut für Wohnbau und Entwerfen an der TU Wien. Alpengeschichte ist Mediengeschichte. Erzherzog­Rainer­Hütte, Architekt unbekannt, Kaprun, 1869 Gotthard Hospiz, Umbau 2005 nach den Plänen von Quintus Miller und Paola Maranta, Gotthardpass, seit dem frühen 13. Jahrhundert Neue Monte Rosa­Hütte, Studio Monte Rosa, Bearth & Deplazes, 2009 Refuge du Goûter, Société d’Architecture GROUPE H/Décalaage Architecture, Mont Blanc, 2013 Passmuseum Timmelsjoch, Werner Tscholl, Passstraße Timmelsjoch, 2008 Top of Tyrol, LAAC Architekten, Neustift im Stubaital, 2008 Nirgendwo ist die Natur natürlicher als hoch oben am Berg – zumindest erscheint sie so im Verständnisrahmen gegenwärtiger Alltags­, Medien­ und Konsumkultur. Erweitert man den Beobachtungszeitraum um ein paar Hundert Jahre, zeigt sich, dass die Alpen für die Menschen jeweils etwas sehr Verschiedenes waren. Dass ihre Wahrnehmung stets geprägt war von Mythen, Metaphern und Projektionen kultureller Konstrukte. Aber auch ermöglicht und erweitert von Innovationen erschließender Technik, insbesondere jener Medien, die das Erleben des einsamen Bergsteigers einem Massenpublikum kommunizierbar machten. Das gilt nicht erst, seit Fotografie und Film felsige Gipfel ins Visier nahmen, sondern von Anfang an. Die ersten literarischen Beschreibungen und malerischen Darstellungen des Hochgebirges wurden von Menschen ersonnen, die selbst noch nie einen Fuß in eine so unwirtliche Gegend gesetzt hatten. Innere Bilder gingen der äußeren Anschauung voraus. Erst die Erfindung eines Phantasmas weckte das Interesse, die Aufmerksamkeit, schließlich die Sehnsucht nach eigener Wahrnehmung. Und den Entschluss, einen Berg zu besteigen. Die Sehnsucht danach, hochalpine Orte aufzusuchen, konnte nur in urbanen Zentren entstehen. Und erst, als die Stadt ein so sicherer Ort geworden war, dass ihr Aspekt des Verteidigens einer Humanzone gegen die feindliche Natur in den Hintergrund getreten war. Als Kultivierung weit genug fortgeschritten war, um sich von ihrem Gegenteil angezogen zu fühlen: von der Wildnis, der rohen Natur. Aus dem städtischen Bedürfnis nach einem mythischen Gegenbild wuchs den bislang unbrauchbaren Gebieten oberhalb der Schneegrenze Wert und Sinn zu. Die Kopfgeburt des Alpinen kolonisierte die Köpfe etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, doch erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Alpinismus zu einer wachs enden sozialen Praxis und Realität. Für die bäuerliche Kultur der Alpenregion standen die hohen Berge außerhalb jeden Interesses. Sie waren zu gefährlich, um sie aufsuchen zu wollen, zu unbrauchbar, um ihnen Aufmerksamkeit zu widmen, zu alltäglich, um sie ästhetisch als Landschaft wahrzunehmen. Auch war die körperliche Arbeit kein Nährboden für ein Bedürfnis nach Sport. An der Architektur der Bauernhöfe lässt sich das ablesen. Die Fenster sind klein und nicht nach „schönem Ausblick“ ausgerichtet. Der Innenhof ist wichtiger als die Umgebung, selbst wenn der Großglockner in Sichtweite ist. Der Bauer hob den Blick, um nach dem Wetter zu sehen, die Gipfel blieben mangels Bedeutung unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle. Man muss sich diese Art von Unsichtbarkeit der Alpen vor Augen führen, um die Bedingtheit moderner Bergwahrnehmung durch mythologische Phantasmen und mediale Techniken einzusehen. Da es im Gebirge nichts zu holen gab, konnte das Muster kolonialistischer Eroberung nicht auf die inneren weißen Flecken der Landkarte übertragen werden. Columbus war kein Avantgardist des Segelsports oder des Ferntourismus. Aristokraten und Geistliche waren die ersten Besteiger der Berge. Sie folgten gelehrten Interessen der Botanik, Geologie, Geografie und Landvermessung ebenso wie poetischen, ästhetischen und luxuriösen Impulsen. Vor der Besteigung lag stets eine weite Reise in großer Begleitung, eine Expedition. Das Großbürgertum folgte diesem steilen Pfad und entdeckte die 8 | 9 Phantasmen des Alpinen

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Alpen als Form exklusiver Erfahrungsmöglichkeit und Inszenierung sozialer Distanz. Da in die unbegehbaren Gefilde zuvor mancherlei Sagenhaftes und Gespenstisches projiziert worden war, hatte die Nachschau mit eigenen Augen auch etwas Aufklärerisches. Ab 1850 organisieren neue Codes die Wahrnehmung der Alpen und das Verhalten zu ihnen: Sport und Tourismus. Sie gelten bis heute, haben sich in vielen Stufen weiterentwickelt und dabei die Kulturlandschaft des Alpenraums prägend verändert. Aus der erkundenden Expedition wird die erobernde Besteigung. Neben den Wert des Gipfels tritt bald der Wert des Wegs zu ihm, das Klettern mit seinen Herausforderungen an körperliche Kraft, Durchhaltevermögen und Geschicklichkeit. Diese erwirbt man durch Training, angespornt durch Wettbewerb. Damit sind alle Ingredienzien beisammen, die den Berg in eine Stätte der Sportausübung verwandeln. Der bürgerliche Gesellschaftsentwurf, durch kontinuierliche eigene Anstrengung aufsteigen und auch „ganz nach oben“ gelangen zu können, findet am Hang seine Bühne. 1862 wird der Österreichische Alpenverein gegründet, 1865 das Matterhorn bezwungen. Das erste Bergbuch erscheint 1871 unter dem Titel „The Play ground of Europe“. In der Epoche der Industrialisierung steht die Die alpinen Sportarten unterschei­ Geste der Naturaneignung hoch im Kurs. Naturwissenschaft und Technik werden im den sich von den meisten anderen Mythos eines Sieges des Menschen über die durch ihre Verknüpfung mit ge­ Natur gelesen. Auf den Gipfeln der Berge wird dieser Sieg sinnbildlich erlebt. nuin ästhetischen Erfahrungen von Landschaft, Aussicht, Wildheit, Dramatik und Gefahr. Die zuvor nur als schrecklich wahrgenommenen Berge gerieten schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als „schrecklich­schöne“ in den Blick. In der Philosophie jener Zeit gliedert sich Ästhetik in die des Schönen und die des Erhabenen. Ersteres wird im idyllischen Garten gesucht, Zweiteres an inkommensurablen Größenunterschieden fest gemacht, die aus sicherer Distanz betrachtet das Erschrecken genießen lassen. Für diese Wahrnehmungsform einer kontemplativen Angstlust am Vertikalen sind die Gebirge bestens geeignete Objekte. Bis in die erste Hochphase des Alpentourismus zwischen 1880 und 1914 ist die Betrachtung der Berge aus der Entfernung für die meisten Besucher die einzig erstrebte Form des Erlebens, während das Besteigen einer kleinen Minderheit an Pionieren und Gipfelstürmern vorbehalten bleibt. Auch das Kulturphänomen Romantik trägt dazu bei, unwirtliche Territorien mit Sinn, Wert und Begehren aufzuladen. Das andere der Vernunft sucht seine Projektionsräume im Entlegenen, schwer Zugänglichen, chaotisch Natürlichen und uralt Verwitterten, wie etwa der Ruine oder auch des zerklüfteten Gebirges. Was wir ganz selbstverständlich „Landschaft“ nennen und in den Alpen umstandslos zu erblicken meinen, ist eine junge Erfindung, ein Konstrukt der Moderne. Landschaft wird definiert als kulturell geprägte subjektive Wahrnehmung einer Gegend als ästhetische Ganzheit. Diese Ganzheit wird aus dem Kontinuum der Natur und der menschlichen Realität herausgeschnitten. Der mit dem Blick erzeugte Ausschnitt wird als Bild interpretiert und nach den Maßstäben des Pittoresken bewertet. Der Alpinist ist in diesem Sinne ein Landschaftsmaler ohne Pinsel und Leinwand, der sein Bild mit dem Aufsuchen eines Aussichtspunkts und der gelernten ästhetizistischen Haltung eines städtischen Landschaftsgenießers erzeugt. Diese Projektion einer Idee von Ganzheit in den Ausschnitt kompensiert die industriegesellschaftliche Ausdifferenzierung von Wirklichkeiten. Das fragmentarisierte moderne Dasein sucht in der vermeintlichen Natur ländlicher und alpiner Regionen nach einem nostalgischen Bild verlorener Einheit des Inderweltseins, um sich darin zu spiegeln. Phantasmen des Alpinen

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Im narzisstischen Zauberspiegel der Landschaft geht es dem Alpinisten um die Selbsterfahrung eines heilen Ich, das am Berg alle heterogenen Ansprüche und modernen Zerrissenheiten weit unter sich gelassen hat und sich einsam am Gipfel entrückt als Ganzheit erleben kann, wie nirgendwo sonst auf unserem durchzivilisierten Planeten. Ohne Ausblendung der ländlichen Realität ist ein so hohes Ichgefühl nicht zu erklimmen. Die Höhe des Bergs hilft dem Subjekt zu jener Distanz von der vergesellschafteten Welt, in der es ganz bei sich angekommen zu sein wähnt. Eine weitere Quelle zur Stärkung des Ich ist die dramatisierte Grenzerfahrung, die der Bergsteiger an der Absturzgefahr, an der Endlichkeit der eigenen Körperkraft und an der Einengung des Wahrnehmungsraums auf die Felswand in Griffweite erlebt. Die Dosis der Möglichkeit des eigenen Todes ist zugleich das Maß nicht nur eines gesteigerten Lebensgefühls, sondern auch des Innewerdens des Ich und der Existenz, die im Steilhang buchstäblich – mit Heidegger formuliert – „hinausgehalten ist ins Nichts“. Der Weitblick vom Gipfel und die Daseinsenge über dem Abgrund haben gemeinsam, dass sie durchs Entfernen der Welt dem Ich Kontur verleihen und damit ein Hochgefühl spenden. Auf die Phase der Entdeckung der Alpen folgt die Phase der Besteigung immer höherer Gipfel. Als die höchsten erreicht sind, verlagert sich der Wettbewerb auf schwierigere Routen, dann auf Nordwände, schließlich auf Nordwände im Winter. In den 1950er­Jahren ist die heroische Eroberungsphase des Alpinismus, dem es um den Berg und die Landschaft geht, abgeschlossen. Das Sportklettern spaltet sich davon ab und gewinnt an Bedeutung. Diesem geht es um die Route, Geschicklichkeit, Fitness und Raffinesse. Der Heldenmythos als alpines Phantasma, dem die Berge mit erhöhten Chancen, im Tod den Opferstatus zu erlangen, entgegenkommen, wird ab dem Ersten Weltkrieg mit soldatischer Metaphorik aufgeladen und verstärkt. Die Ausweitung der Kampfzone vom horizontalen Schlachtfeld in die vertikalen weißen Flecken der Karten und verschneiten Territorien lässt Bergeroberung als nationale Gebietseroberung erscheinen. Mit dem Militär findet Technik den Weg auf den Louis Trenkers Berg. Heute sind an die Stelle des Panzers Pistenraupe und Schneekanone getreten, an die Stelle Bergfilme mussten noch Spielfilme mit Handlung der Rüstung die Ausrüstung, der Kampf ist dem sein, denn zu groß Wettkampf gewichen. und schwer waren die Kameras, um das Klettern selbst so (wie heute) filmen zu können, dass es für sich genügend Spannung und Schaulust erweckt. Im Nationalsozialismus wurde der bereits entfaltete und kriegsheldisch konnotierte Alpi nismus für Propagandazwecke funktionalisiert. Die Expedition auf den Nanga Parbat, den „Schicksalsberg der Deutschen“, im Jahre 1934 folgte dem Motto „Tod oder Ehre“ und wurde vom Reichssportführer als „Kampf der Deutschen Nation um die Gipfel der Welt“ interpretiert. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg machte sich Österreich zur Skination. Jedes Schulkind musste eine Woche des Jahres den „Volkssport“ erlernen. Die heldischen Phan tasmen wurden pazifiziert, Eroberungsimpulse ins Inland umgeleitet. Der Skilehrer trat uniformiert mit Bundeswappen auf, um seinem Befehl, in Reih und Glied anzutreten, gehörig Autorität zu verleihen. Das Abfahren erfolgte im Geschwader. Die Rolle des Volksempfängers übernahmen die Lautsprecher der Liftstation, aus denen im gewohnt gebellten Stakkato der Sportberichterstatter vom Wettlauf um den heimischen Sieg kündete. Die von Gruppendrill, Disziplin und Opferbereitschaft sozialisierte Generation konnte in ihrer Freizeit dem Eisregen trotzen und an den Beschwernissen der Berge auf unschuldige Weise jene Werte ausleben und weitergeben, zu denen sie erzogen worden war. In Karl Schranz erblickte Österreich die Repräsentationsfigur seiner neuen Identität. In den 1970er­Jahren trat der technische Fortschritt als Thema des Alpinen in den Vordergrund. Kletterer setzten stolz Bohrmaschinen ein, um Haken nicht nur zur Sicherung, sondern zum Aufstieg in die Felswände zu treiben. Ein Netz aus Liften breitete sich über die Skigebiete. Präparierte Pisten erhielten den Namen „Autobahn“. Knallbunte Kleidung aus Kunststoff brachte Farbe auf die weißen Hänge. Die Mode machte auch vor Fahrstilen nicht halt, der Jet­ Schwung zitierte das Düsenflugzeug herbei, unterstützt von gewaltigen Plastikschuhen, die den Beinen die neue Haltung aufzwangen. Die Gegenbewegung setzte in den 1980er­ Jahren ein. Vom Technischen verlagerte sich die Begeisterung zum Natürlichen. Reinhold Messner verzichtete auf die Sauerstoffflasche und wurde Kraft seines zotteligen Aussehens und Marketingtalents zum medialen Repräsentanten des Naturburschen schlechthin. Er personifizierte den Ökogedanken, das neue politische Leitbild, dem zufolge der Mensch nicht mehr die Natur besiegen, sondern sich ihr anpassen solle, auch wenn dies mit dem Verzicht auf technisch Mögliches und Bequemes verbunden ist. Seither verzichten Kletterer um die Wette auf Ausrüstung, bis hin zum nackten Freeclimbing. Immer mehr Skifahrer nehmen nicht den Lift, sondern gehen daneben mit Fellen bergauf, um dann im Tiefschnee abzufahren. Heute wird die alpine Landscape zur Brandscape von Redbullistan. Im Servusland ist an die Stelle des Bergfex der gesponserte Profisportler getreten. Dieser ist eine Art Stuntman im Dauerwerbespot immer neuer Extremsportarten. 10 | 11 Phantasmen des Alpinen

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Margherita Spiluttini Großglockner Hochalpenstraße 6, AT, 2002 Auf seiner Kleidung ist der Bundesadler dem Logo gewichen. Das Hochgebirge hat für ihn eine Doppelfunktion – es ist Schaubühne und dekora tiver Hintergrund für mediale Inszenierungen von Akrobatik, wie sie traditionell nur im Zirkus oder auf Jahrmärkten zu sehen war. Zugleich fungiert das Gebirge als Sportgerät in dem Sinne, dass es der Fort bewegung Widerstand bietet, vergleichbar der Hürde beim Hürdenlauf und dem Sack beim Sackhüpfen. Sinnhorizont dieses Bergverhaltens ist die Markenmetapher jenes Fliegens, das vom Slogan der Limonade als Pseudo­Doping­Effekt versprochen wird. Medientechnischer Hintergrund des alpinen Funsport ist die Miniaturisierung hochauflösender Kameras kombiniert mit der gestreuten Übertragung via Internet, wo Social Media globale Zuseherund Anhängerschaften bündeln und auch privaten Enthusiasten ermöglichen, die nach Halt suchende Hand in Großaufnahme der Community sichtbar zu machen. Die Einsamkeit in der Steilwand wird von dieser Was man vor Technologie mit totalisierter Sichtbarkeit und 30 Jahren nur Öffentlichkeit verbunden. auf Bergfilmfestivals zu sehen bekam, ist nun omnipräsent. Die Verdrängung des Skis durch das Snowboard schlug eine sinnbild liche Brücke zum „Surfen“, jener Form zielloser Vor­Ort­Bewegung, die der Erkundung des Internets den Namen gab. Die Professionalisierung der Alpinsportarten führte zu Steigerungen der Leistung und Erweiterungen des Sichtbaren, die so stark in den Vordergrund traten, dass eine Loslösung vom Gebirge möglich wurde. Urbane Zentren, einst Ausgangspunkte aller alpinen Fantasien und nachfolgenden Eroberungen, werden nun ihrerseits vom Bergsport erobert. Freikletterer suchen neue Herausforderungen, indem sie ihre Kunstfertigkeit von der Eiger­ Nordwand auf innerstädtische Wolkenkratzer übertragen. Wiens größte Kletterwand – unterirdisch gelegen – bietet Aufstiege aller Schwierigkeitsgrade für die Abendfreizeit des Städters. Der „Industriealpinist“ wurde zum Beruf, er wird zu Hilfe gerufen, wenn auf dem Kirchdach ein Ziegel locker ist, die Betonwand eines Atommeilers geprüft werden soll oder ein Architekt darauf vergessen hat, dass Fenster dann und wann geputzt werden müssen. Wenn der Städter nicht zum Berg will, muss der Berg in die Stadt kommen. Die Distanz zwischen Zentrum und Dachstein wurde ohnehin längst von der Technik zum Verschwinden gebracht. N Phantasmen des Alpinen

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Wie trifft der Klimawandel den Siedlungsraum in Österreich? | Was wir wissen und in Planung und Architektur einkalkulieren sollten Martin König leitet seit zwölf Jahren am Umweltbundesamt europäische und nationale Projekte im Bereich Klimafolgen und Anpassung. Seine jüngsten Arbeiten beschäftigen sich vor allem mit den wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels, den Klimafolgen für Mensch und Umwelt und insbesondere der öffentlichen Infrastruktur. Derzeit starten durch den Klimaund Energiefonds finanzierte Projekte im Bereich private Anpassung an den Klimawandel sowie Kostenabschätzungen öffentlicher Klimawandelanpassung. Natalie Glas studierte Landschaftsplanung an der Universität für Bodenkultur und absolvierte Ausbildungen für Marketing und Risikomanagement. Mit ihrer langjährigen Erfahrung in mehreren Disziplinen arbeitet(e) sie in zahlreichen nationalen und internationalen Projekten an der Schnittstelle Klimawandel, Risikoassessment und Kommunikation. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind Freiwilligenarbeit im Katastrophenschutz sowie Klimawandelanpassung in Unternehmen und Regionen. Hitze, Wasserhaushalt und Extremereignisse Der Klimawandel macht sich im Alpenraum besonders bemerkbar. Einerseits zeigt sich dies in den meteorologischen Messwerten: Die Temperaturzunahme liegt hier etwa doppelt so hoch wie im globalen Mittel – bezogen auf ca. 1850 (also die vorindustrielle Zeit) waren das in Österreich rund 2 °C, während das globale Mittel um 0,85 °C stieg. 1 Ebenso war der Anstieg während der Jahrzehnte besonders starker Erwärmung seit 1980 in Österreich mit 1 °C doppelt so hoch wie die globale Temperaturerhöhung. 2 Das hat mehrere Gründe: Die kontinentale Lage Österreichs, der Rückgang der Eis­ und Schneebedeckung – also eine positive Rückkopplung zwischen Temperaturzunahme und Landschaftswandel beziehungsweise Albedo (Refle ­ x ionsvermögen) – und die Lage Österreichs an den atlantischen, mediterranen und kontinentalen Luftmassengrenzen. Hintergrundinformationen und weitere wesentliche Erkenntnisse sind im ersten „Österreichischen Sachstandsbericht Klimawandel“ (APCC, 2014) nachzulesen, an dem über 240 führende Klimaforscher, darunter zahlreiche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Umweltbundesamtes be teiligt waren. Im Laufe des Jahrhunderts ist mit einem weiteren Anstieg der Temperaturen in Österreich zu rechnen. Damit gehen eine Zunahme und Verschärfung von Hitzewellen einher, die besonders im urbanen Raum (städtische Wärmeinsel) ihre Wirkung entfalten werden (Abbildung 2). 3 Der Wasserhaushalt der Alpen wird sich in den kommenden Jahrzehnten allmählich verändern. Während der alpine Raum in der Vergangenheit von den glazialen Puffern profitierte, die insbesondere bei sommerlicher Hitze und Trockenheit stets für eine ausreichende Wasserversorgung sorgten, wird zukünftig die Abhängigkeit von Regenereignissen bedeutender. Damit wird die Verletzlichkeit gegenüber sommerlichen Hitzewellen und Trockenphasen regional zunehmen. Eine weitere Herausforderung stellen zunehmende Wetterextreme dar. Es ist zu erwarten, dass Starkregen häufiger auftreten werden. Damit gehen sowohl lokale Hochwasserereignisse (Wildbachereignisse im alpinen bzw. „urban flash floods“ im städtischen Raum) als auch Massenbewegungen (Hangrutschungen, Muren, Schlammlawinen, ggf. auch Felsstürze und Lawinen) einher. Die großräumigen Starkniederschlagsereignisse legen zumindest im Trend der letzten Jahre sehr stark zu: 1.200 1.000 Gravierende Hochwässer traten 2002, 2005 und 2013 auf. Einerseits bedingt durch den Klimawandel, andererseits aufgrund fortschreitender Versiegelung unterliegen die als Bemessungsgrundlage relevanten Jährlichkeiten starken Schwankungen. Wesentlich ist, diese zunehmende Dynamik auch in der Planung und Bauausführung zu berücksichtigen. Klimainduzierte große Schadensereignisse haben in Österreich von 1980 bis 2013 deutlich zugenommen (vgl. Abbildung 1): Eine Folge sowohl des Werteanstiegs der Infrastruktur, der Änderungen in der Landnutzung als auch des Klimawandels. 1980 geschätzte nicht versicherte Schäden geschätzte versicherte Schäden 1985 1990 1995 Abbildung 1: Direkte Schäden durch meteorologische Extremereignisse in Österreich in den letzten 32 Jahren in Preisen von 2010 (König/APCC 2014 auf Datenbasis Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft, Geo Risks Research, NatCatSERVICE) Regional muss man davon ausgehen, dass besonders der Osten des Landes vermehrt unter Hitzewellen und Dürren zu leiden haben wird, während im Alpenraum die niederschlagsbedingten Naturgefahren das Hauptproblem darstellen. Nicht zu vergessen ist dabei, dass es in Österreich etliche Räume gibt, die gegenüber Hangrutschungen und Muren besonders disponiert sind. Muren sind zumeist an bekannte alpine Wildbäche gebunden, ihre Anrissgebiete werden allerdings durch den Rückzug des Permafrostes ausgeweitet. Zudem wird künftig den Hangrutschungen vermehrtes Augenmerk zu widmen sein: Hier sind etliche Regionen, vor allem die Flysch­ und Molassezonen der Voralpen, besonders gefährdet. 4 So sollte etwa bei Bauvorhaben im Bezirk Feldbach, im steirischen Riedelland, in den Regionen Wienerwald und Bregenzerwald geprüft werden, ob spezielle Schutzmaßnahmen vor Hangrutschungen einzuplanen sind. 2000 3.670 Mio. EUR Anteil des August - hochwassers 2002 daran: 3.545 Mio. EUR 2005 2010 2013 12 | 13 Wie trifft der Klimawandel den Siedlungsraum in Österreich?

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vgl. APCC 2014 ebd. vgl. Formayer 2007 vgl. Schindlmayr 2014 vgl. Steininger et al. 2015 vgl. ebd. vgl. König et al. 2014 vgl. ebd. Umweltbundesamt 2014 Sektoral betrachtet beziehungsweise hinsichtlich Ansatzpunkten für die Anpassung an den Klimawandel sind wohl unter anderem folgende drei Bereiche in Österreich in den Blickpunkt zu nehmen: In der landwirtschaftlichen Produktion wird der Ertrag durch den Klimawandel, explizit die Temperaturerhöhung und die damit verbundene Ausdehnung der Vegetationsperiode, einerseits begünstigt. So werden zwar etwa im Weinbau bestimmte Reben nicht mehr so gut gedeihen wie bisher, können aber sukzessive durch andere ersetzt werden. Im Ackerbau sowie in der Grünlandwirtschaft kann es durchaus zu Mehrerträgen kommen – die allerdings davon abhängig sind, inwiefern sich das zunehmende Risiko für Wetterextreme und auch extreme Witterungsperioden regional auswirkt. 5 Dementsprechend freut eine längere Vegetationsperiode den Landwirt, nur hat er nichts davon, wenn ein Hagel, ein Sturm oder eine Überflutung ihm die reifende Ernte vernichtet. Von den daraus resultierenden nachhaltigen Schäden etwa für den Boden durch Erosion und Verschlämmung, ganz zu schweigen. Für die Forstwirtschaft kann grob vereinfacht davon ausgegangen werden, dass hier einerseits die Chancen darin liegen, dass mit höherer Waldgrenze und längerer Vegetationsperiode ebenfalls die Ertragspotenziale zunehmen. Andererseits werden auch hier Risiken sichtbar – in diesem Fall vor allem durch Sturm und Trockenheit in Form von Schädlingen und Waldbrand –, die alle graduellen Ertragszuwächse rasch ins Gegenteil wenden können. Einer der Hauptakteure hierbei ist der Borkenkäfer und sein Hauptopfer sind die Fichtenbestände vor allem im trockeneren Osten unseres Landes. Mit den Gefahren und Risiken für den Wald ist auch die Bedrohung seiner Schutzwaldfunktion verbunden. 6 Siedlungen und Infrastrukturen sind in vielen Regionen Österreichs von diesem Schutz sehr abhängig. Eine Gefährdung der Schutzwaldfunktion ist gleichbedeutend mit einer Gefährdung von Siedlungen, Verkehrs­ und Energieinfrastrukturen. Letztere sind zusätzlich durch Stürme und Nassschneedeposition, wie im Februar 2014 wieder deutlich in Osttirol, Kärnten und Slowenien zu sehen war, gefährdet. 7 Was ist zu tun? Die Hauptursache des aktuellen Klimawandels sind die vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen. Kohlendioxid steht hier zu Recht im Mittelpunkt der Debatte, da es den größten Beitrag zur globalen Erwärmung leistet. 9 Aber auch andere Treibhausgase wie Methan und Lachgas müssen – hier vor allem in der Landwirtschaft und der Landnutzung generell – in alle Klimaschutzbemühungen miteinbezogen werden. Zukunftsfähige nationale, europäische und internationale Klimaschutzziele sind dringend notwendig, um einen verbindlichen Rahmen für die notwendigen Schritte zur Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen zu schaffen. In diesem Zusammenhang sind die von den EU­Staats­ und Regierungschefs im Oktober 2014 gefassten Beschlüsse, die Treibhausgasemissionen der Europäischen Gemeinschaft bis 2030 um 40 % gegenüber 1990 zu vermindern, als wichtiges Signal einzustufen. Diese Beschlüsse werden auch in Österreich den Druck verschärfen, Treibhausgasemissionen einzusparen. Ebenso bedeutend ist allerdings, dass diese politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen durch Bottom­up­Initiativen ergänzt werden. Hoffnung gibt, dass mittlerweile zahlreiche Projekte von Unternehmen, Privatpersonen, auf Gemeinde­ oder Regionalebene initiiert wurden, die sich eine Verminderung von Treibhausgasemissionen zum Ziel gesetzt haben. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger erkennen bereits, dass es vieles gibt, was jede/r Einzelne tagtäglich – sowohl im Beruf als auch privat – zum Klimaschutz beitragen kann, und entscheiden sich bewusst für einen klimafreundlichen Lebensstil. Da die globale Erwärmung nur begrenzt, in absehbarer Zeit jedoch nicht rückgängig gemacht werden kann, ist es notwendig, sich auf den fortschreitenden Klimawandel einzustellen. Gefordert sind daher insbesondere auch Akteure aus Raumplanung, Architektur und Bauwirtschaft, da diese langfristig wirksame Entscheidungen treffen und langlebige Objekte planen bzw. errichten. Der Tourismus in Österreich ist im Winter­ Auch wenn zwischenzeitliche sport­dominierten Westen des Landes durch den Klimawandel besonders betroffen. 8 gute Jahre immer wieder die Probleme verdrängen und eine intensivere Auseinandersetzung aufschieben, sollten Investitionen in Skigebiete außerhalb schneesicherer Orte hinterfragt werden. In jedem Fall werden Orte und Regionen, die zu sehr auf Skitourismus im Winter fokussiert sind, Gefahr laufen, besonders verwundbar gegenüber dem erwartbaren Temperaturanstieg zu sein. Durch entsprechende Planung und Ausführung von Gebäuden und Infrastruktur ist es möglich, sowohl zum Klimaschutz als auch zur Anpassung an veränderte klimatische Bedingungen beizutragen. Erfolgen diese Weichenstellungen nicht, ist mit hohen Folgekosten, gegebenenfalls mit „stranded investments“ zu rechnen, da einerseits der regulatorische Druck zur Verminderung von Treibhausgasemissionen stark steigen wird und andererseits das Klimaänderungssignal in den kommenden Jahrzehnten deutlich sein wird. Das Umweltbundesamt hat hier in den letzten Jahren zahlreiche Erfahrungen gesammelt und Werkzeuge, Handbücher und Dienstleistungen Wie trifft der Klimawandel den Siedlungsraum in Österreich?

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www.klimawandelanpassung.at Bei einer Vb­Wetterlage (sprich: Fünf­B­Wetterlage) transportiert ein anhaltendes Adriatief sehr feuchte Luftmassen über mehrere Tage hinweg in den Alpenraum, was zu sehr hohen Niederschlagsspitzen führen kann. vgl. Steininger et al. 2015 vgl. Florineth 2012 vgl. dazu insbesondere die Österreichische Klimawandelanpassungsstrategie (BMLFUW 2012, insbesondere Kapitel Raumordnung) vgl. Prutsch et al. 2014 Quellen • APCC (2014): Österreichischer Sachstandsbericht Klimawandel 2014 (AAR14). Austrian Panel on Climate Change (APCC), Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, 1096 Seiten. ISBN 978­3­7001­7699­2. http:// www.apcc.ac.at/ • BMLFUW (2012): Die österreichische Strategie zur Anpassung an den Klimawandel Teil 2 – Aktionsplan, Handlungsempfehlungen für die Umsetzung. Wien • Florineth, F. (2012): Pflanzen statt Beton. Sichern und Gestalten mit Pflanzen. Berlin, Hannover • Formayer, H., Haas, P., Hofstätter, M., Radanovics, S., Kromp­Kolb, H. (2007): Räumlich und zeitlich hochaufgelöste Tempe raturszenarien für Wien und ausgewählte Analysen bezüglich Adaptionsstrategien (Endbericht einer Studie im Auftrag der Wiener Umweltschutzabteilung – MA 22 der Stadt Wien gemeinsam mit der MA 27 – EU­Strategie und Wirtschaftsentwicklung). Institut für Meteorologie, Universität für Bodenkultur, Wien • König, M., Loibl W., Steiger R., Aspöck H., Bednar­Friedl B., Brunner entwickelt, um Akteure aus Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand bei Aktivitäten zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel erfolgreich zu unterstützen. 10 Für Architekten und Planer stellen sich aus der derzeitigen Situation folgende vier große Herausforderungen: Hitze, Naturgefahren, Klimaschutz sowie die Anpassung und Integration von Klimaschutz. Hitze Vor allem im urbanen Raum müssen sowohl planerisch als auch bautechnisch häufigere und verstärkte Hitzewellen in Bedacht genommen werden (vgl. etwa Szenarien thermischer Indikatoren für Wien in Abbildung 2). Heiße Nächte Hitzetage 30 °C 1975 1990 Donaufeld Gr. Enzersdorf 2020 2050 Aus planerischer Sicht ist wesentlich, Frischluftschneisen zu schaffen oder freizuhalten, da diese ein nächtliches Abkühlen der städtischen Wärmeinseln während sommerlicher Hitzewellen ermöglichen. Für städtische Agglomerationen gilt die Faustregel, dass Hochbauten, die den Zustrom von Frischluft aus dem Umland, insbesondere dem Wienerwald, erschweren, in jedem Fall vermieden werden sollten. Die Begrünung von Straßen, Fußwegen, Plätzen und Häusern sorgt für Schatten K. M., Haas W., Höferl K. M., Huttenlau M., Walochnik J. und Weisz U. (2014): Klimafolgen für die Anthroposphäre. In: Österreichischer Sachstandsbericht Klimawandel 2014 (AAR14). Austrian Panel on Climate Change (APCC), Austrian Academy of Sciences, Vienna, Austria, S. 641–704 • Prutsch, A., Felderer, A., Balas, M., König, M., Clar, C., Steurer, R. (2014): Methoden und Werkzeuge zur Anpassung an den Klimawandel. Ein Handbuch für Bundesländer, Regionen und Städte. Umweltbundesamt, Wien. 2085 Innere Stadt Hohe Warte Abbildung 2: Auswahl thermischer Indikatoren für 5 Standorte in Wien. Klimaszenarien beruhen auf einem mittleren Emissionsszenarium (A1B) der Regionalszenarien von REMO-UBA (Formayer/APCC 2014 auf Basis Formayer et al. 2007) 1975 1990 2020 Mariabrunn • Steininger, K., König, M., Bednar­Friedl, B., Kranzl, L., Prettenthaler, F. (Hrsg.) (erscheint 2015): Economic Evaluation of Climate Change Impacts: Development of a Cross­Sectoral Framework and Results for Austria. Berlin, Heidelberg, New York. • Umweltbundesamt (2014): Klimaschutzbericht 2014. REP­0491. Wien. ISBN 978­3­99004­299­1. www.umweltbundesamt. at/fileadmin/site/ publikationen/ REP0491.pdf 2050 2085 und beeinflusst das Mikroklima positiv. Bei der Auswahl der Arten ist zu beachten, dass diese an das Stadtklima angepasst sind. Sie müssen in den Sommermonaten heißes und trockeneres Klima tolerieren und möglichst widerstandsfähig gegenüber Schädlingsbefall sein, der durch die sich ändernden Klimabedingungen ebenfalls zunehmen kann. Dunkle Asphaltdecken schaffen durch die sehr effektive Umsetzung von Sonnenstrahlung in Wärme ein extrem schlechtes Mikroklima und erhöhen den städtischen Wärmeinseleffekt. Sämtliche Versiegelungen von Flächen sind für das Stadtklima nachteilig, da durch die rasche Abfuhr von Wasser in die Kanalisation kaum Verdunstungskühle nach Regenschauern oder morgendlichem Tau entstehen kann. Unversiegelte Böden, Grünanlagen und Wasserflächen hingegen schaffen Linderung durch Verdunstungskühle. Bauträger, Architekten und Bauherren stehen vor der Herausforderung einer klimaangepassten Bauweise. Diese reicht von der Anordnung der Wohnblöcke in Neubaugebieten bis hin zu Maßnahmen an den Gebäuden selbst. Diese reichen von der Passivkühlung durch höhere Reflexion an Gebäudeoberflächen oder Begrünung von Dächern und Wänden bis hin zur Beschattung und solaren Kühlung. Auch die Wahl der Baustoffe hat großen Einfluss auf das Raumklima. Alternative Baustoffe können einen höheren thermischen Komfort während Hitze perioden bieten als konventionelle. Naturgefahren Die klimabedingten Naturgefahren sind eine besondere Herausforderung für Planer. Gefahrenzonenplanung, Flächenwidmungspläne und Bauvorschriften enthalten zwar entsprechende Hinweise oder Vorschriften, diese basieren jedoch häufig auf Erfahrungswerten aus der Vergangenheit und spiegeln meist nicht das sich ändernde Gefahrenpotenzial im Zuge des Klimawandels wider. Da Gebäude langlebig und oftmals auch Wertanlage sind, müssen künftige Gefahren bestmöglich einkalkuliert werden. Dies gilt auch für alle liniengebundenen Infrastrukturen wie Straße, Schiene und Stromtrasse. Eine zentrale Herausforderung für die Raumplanung ist es, die Ausweitung der Risiko­ und Gefahrenzonen einerseits und die Dynamik der Siedlungsfläche andererseits unter einen Hut zu bekommen (vgl. Abbildung 3). Gerade in Alpentälern ist dies bereits jetzt zum Teil schwer lösbar, klimawandelbedingt wird sich der Druck künftig noch verstärken: Die gefahrlos besiedelbare Fläche abseits der Hochwasserzonen und außerhalb der hangseitigen Gefahr durch 14 | 15 Wie trifft der Klimawandel den Siedlungsraum in Österreich?

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Muren, Hangrutschungen und Lawinen schrumpft einerseits, während andererseits der Flächenbedarf für Siedlung, Gewerbe und Hochwasserrückhalteflächen in vielen Tälern weiter zunimmt. Zukünft. Gefahrengebiet Bestehendes Gefahrengebiet Bestehender Siedlungsraum Zukünft. Siedlungsraum Sich verändernde Gefahrengebiete gelangen ins Lebensraumgebiet. Sich verändernde Lebensraumansprüche gelangen ins Gefahrengebiet. Abbildung 3: Siedlungsraum und Gefahrengebiet im zeitlichen Wandel Quelle: Höferl/APCC 2014 auf Basis von ARE 2005 Beispiel Stadt: In den vergangenen Jahren führten zahlreiche Starkregenereignisse – sogenannte „urban flash floods“ – zu einer Überlastung der Kanalisation. Dabei wurden Schäden häufig in jenen Stadtgebieten verursacht, die vormals als hochwassersicher galten. Beispiel Land/Umland: Lokale Extremniederschläge und großräumige lange Regenperioden (sog. Vb­Wetterlagen 11 ) können nicht nur Hochwasser, sondern auch Massenbewegungen, wie etwa Hangrutschungen, auslösen. Sie bilden daher ein zunehmendes Gefahrenpotenzial für die Siedlungsräume in den Berg­ und Hügelländern Österreichs. Für Planer und Architekten ergeben sich dadurch zusätzliche Herausforderungen: Grundsätzlich gilt es, eine Bebauung in Gefahrenzonen, auch wenn diese noch nicht als solche ausgewiesen sind, zu vermeiden. Falls dies nicht möglich ist, sollten bei Neubau wie Sanierung Maßnahmen zum Objektschutz, wie etwa Drainagegräben, Schutzwaldpflanzungen und Ähnliches, vorgesehen werden. Klimaschutz und Anpassung Die energieeffiziente Ausführung von Neubauten und die fachgerechte thermische Sanierung des Altbaubestandes unterstützen einerseits die Erreichung der Klimaschutzziele und leisten andererseits einen erheblichen Beitrag, um unter veränderten Klimabedingungen den thermischen Komfort sicherzustellen. Wesentlich ist darüber hinaus, den Einsatz fossiler Energieträger für Heizung und Warmwassererzeugung in Neubau und Bestand zu vermeiden. Wesentlich hierbei ist, dass Klimaschutz und Klimawandelanpassung zielkonform sein müssen: So kann der Einbau von konventionellen Klimaanlagen den Klimaschutzzielen zuwiderlaufen, da diese neue Bedarfsspitzen an elektrischer Energie verursachen, deren Bedeckung neue Pro bleme schafft: Denn gerade während sommerlicher Hitze­ und oft auch Dürreperioden kann es zu einem Engpass kommen, indem Flüsse weniger Wasser führen. Somit ist auch weniger Strom aus Wasserkraftwerken verfügbar. Falls diese Minderleistung nicht durch Fotovoltaik und Windkraft ausgeglichen wird, müssen kalorische Kraftwerke einspringen, die einerseits Treibhausgasemissionen verursachen, andererseits selbst durch die verminderte Verfügbarkeit von Kühlwasser beeinträchtigt sein können. Fazit Klimaanpassung und Klimaschutz in Stadtplanung, Architektur und Bau müssen als Einheit gedacht werden. Der Siedlungsraum muss ebenso wie das einzelne Gebäude klimaangepasst und energieeffizient sein, um den Herausforderungen des Klimawandels nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft gewachsen zu sein. Es muss klar sein, dass mit Neubauten langfristige Infrastruktur geschaffen wird. Pfade demnach, die – wenn sie falsch begonnen werden – extrem teuer und gesellschaftlich unakzeptabel werden können. 12 Die wesentlichen Aspekte hierbei sind: Frischluftschneisen freihalten, Gebäude durch Bäume beziehungsweise Bauweise beschatten, grüne und blaue Infrastrukturen zur Verbesserung des städtischen Mikroklimas einplanen, innovative passive Gebäudekühlung vorsehen, zum Beispiel durch Bepflanzung und geeignete Baumaterialien, sowie Versiegelung von Böden vermeiden, so bietet sich etwa Schotterrasen als Alternative zu Asphalt vor allem für große Flächen an. 13 Viel Raum für Innovation bleibt. Die wesentlichen Erkenntnisse sind bereits vorhanden, um Klimawandelanpassung „einzuplanen“ und „einzubauen“ – im Englischen wird das als „Mainstreaming“ bezeichnet. Auch gibt es zahlreiche Anpassungsoptionen in Architektur und Raumordnung 14 sowie Know­how und Instrumente zur Prozessbegleitung. Das Umweltbundesamt bietet unterstützende Beratungsleistungen an, „übersetzt“ Forschungsergebnisse und agiert als Mittler zwischen Wissenschaft und praktischer Anwendung. 15 N Umfangreiche weiterführende Informationen finden sich im Österreichischen Sachstandsbericht Klimawandel 2014 (kurz AAR14). Als österreichisches Pendant zum IPCC­Bericht stellt er das Wissen zum Klima in Österreich, dessen Wandel (Band 1) und die Folgen (Band 2) daraus dar. Die Erfordernisse und Möglichkeiten des Klimaschutzes und der Klimawandelanpassung nehmen dabei ebenfalls einen wesentlichen Raum ein (Band 3). Insgesamt rund 240 österreichische WissenschaftlerInnen haben an diesem dreijährigen Projekt mitgearbeitet und damit den aktuellen Stand des Wissens zum Klimawandel in Österreich zusammengestellt. Der AAR14 kann als Printversion erworben oder unter http://hw.oeaw.ac.at/7699­2 heruntergeladen werden. Wie trifft der Klimawandel den Siedlungsraum in Österreich?

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Margherita Spiluttini Pùnt da Suransuns, Via Mala CH, 2000 16 | 17

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Tief im Berg | Ingenieure unter Tag Sebastian Jobst Redaktion KONstruktiv Die Alpen dienten immer schon als Projektionsfläche für unwirtliche Naturregionen inmitten der über Jahrhunderte geformten Kulturlandschaft Europas. Entsprechend galt die technische Erschließung der Gebirgsmassive vielen als Kräftemessen des neuesten Stands der Technik mit den Naturgewalten. Als Erstes fallen die unzähligen technischen „Auflehnungen“ gegen die Unbillen der schroffen Gebirge in der Höhe ins Auge, Pässe wurden durch Straßen und Bahnen bezwungen, immer steilere Hänge agrarisch genutzt, bis sie später zur Erlebnisfläche von Freizeitalpinisten wurden. Sogar die höchsten Gipfel, einst nur unter größten Anstrengungen risikoreich erklimmbar, wurden durch Seilbahnen und Aussichtsplattformen für jeden als vermeintlicher Extrempunkt erfahrbar. Neueste Techniken überwachen überdies, dass Siedlungen und Infrastrukturen im Schatten der Hänge und Felswände sicher sind, oder warnen rechtzeitig, um stabilisierende Maßnahmen zu treffen oder die Gefahrenzone zumindest noch evakuieren zu können. Auch wenn es hier noch vieles in der Wissenschaft genauer zu klären gilt, scheint die Oberfläche der Alpen schließlich unter menschlicher Kontrolle. Die ersten technischen Vorstöße in die Alpen erfolgten allerding nicht in der Höhe, sondern in der Tiefe. Der Ingenieur als Kulturtechniker | Der Wegbereiter für unsere moderne Zivilisation, Wolfgang Pircher, KONstruktiv 283, Seiten 8–11 Menschheitsgeschichtlich beginnt der Bergbau zwar 6500 vor unserer Zeitrechnung im Iran. Das der Epoche namensgebende Kupfer strahlte eine derart große Anziehungskraft aus, dass Menschen sogar die Risiken erster Minen nicht scheuten. In Europa kennt die Archäologie erste Feuersteinbergwerke um 4500 vor unserer Zeitrechnung im heutigen Frankreich, Belgien und Holland. Weiters in einem groben historischen Abriss des Tunnelbaus zu erwähnen sind die Quanate, unterirdische Wasserkanäle, deren Konstruktion bereits von einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlichen technischen Wissens zeugt. Denn hier galt es, bereits zuvor auf Vermessungen fußende Pläne unter Berücksichtigung geologischer und hydrologischer Gegebenheiten genau umzusetzen, war doch ein spezifisches Gefälle essenziell für die funktionierende Wasserversorgung. Hierher lassen sich geschichtlich auch die Spuren der ersten Ingenieure verfolgen, wenngleich noch nicht von einer klaren Trennung der technischen Disziplinen gesprochen werden kann. 1 Dieser Kanaltyp nahm ebenfalls vom heutigen Iran seinen Ausgang und breitete sich vor allem im arabischen Raum und gen Osten bis Indien aus. Als historisch erster Tunnel aus moderner Perspektive gilt der Eupalinostunnel auf der Insel Samos. Dieser wurde im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung vom namensgebenden Architekten Eupalinos akribisch geplant, wurde der Tunnel nach heutigem Forschungsstand doch als erster im Gegenortvortrieb gebaut. Als sich die beiden Tunnelröhren schließlich wie geplant auf halber Strecke trafen, trennte sie lediglich ein Niveauunterschied von 60 cm. Ein technischer oder vielmehr planerischer Quantensprung, misst der Tunnel doch insgesamt eine Länge von 1036 Metern. Weitaus zurückhaltender nimmt sich im Vergleich das Urner Loch, das gemeinhin als erster Alpentunnel gilt, mit knappen 64 Metern aus. Der Bau war den Naturgewalten geschuldet, ersetzte er doch eine von massiven Überschwemmungen 1707 mitgerissene Brücke. Mit der Planung und Koordination der Umsetzung wurde der Schweizer Festungsbaumeister Pietro Morettini beauftragt, dennoch zu zivilem Zweck, um die Handelsroute sicherer zu gestalten. Gebirge waren neben Gewässern naheliegende natürliche Grenzziehungen territorialer Ansprüche. Als solche sollten die Alpen im Ersten Weltkrieg Schauplatz schrecklicher Kampfhandlungen werden. In der perfiden Dynamik des Kriegs war es so also eine logische Konsequenz, die sichtbare Oberfläche zu verlassen und den Konflikt in ausgedehnten Tunnelsystemen fortzuführen. Den tragischen Höhepunkt dieses alpinen Tunnelkonflikts stellt wohl die Zündung der mit 55 Tonnen Dynamit größten Sprengladung des Ersten Weltkriegs unter einer italienischen Stellung am Pasubio dar. In der Kriegsführung des Zweiten Weltkriegs sollten Tunnel und Stollen eine andere Rolle spielen, der Stellungskrieg hatte sich in einen Luftkrieg verwandelt und so wurde immer mehr Infrastruktur in die Tiefen des Bergs verlagert. Heute haben Tunnel dieses düstere Erbe zumindest in Europa hinter sich gelassen, vielmehr zeigen etliche Großprojekte, dass der zivile Tunnelbau die Distanz zwischen Ländern nicht nur geografisch verringert. Der Rekordhalter im Ranking der europäischen Tunnel durchdringt allerdings kein Gebirge, sondern unterwandert die Meerenge zwischen Folkstone in Kent und Coquelles nahe Calais. Mit seinen 50 km Länge reiht sich der Eurotunnel auch international an die zweite Stelle hinter den 4 km längeren Seikan in Japan. Anders als die Landmarks des Hochbaus sind diese technischen Höchstleistungen im Tunnelbau jedoch kaum sichtbar beziehungsweise deren Komplexität für eine breite Öffentlichkeit nur schwer erkennbar. Denn naturgemäß konstruiert der Tunnelbau sein Resultat in erster Linie durch Tief im Berg

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die Wegnahme von Material, tatsächlich nach außen hin sind lediglich die Portale sichtbar. Die Planung eines Tunnels ist entsprechend an die lokalen Gegebenheiten gebunden, ebendiese Voraussetzung macht die Zusammenarbeit unterschiedlichster technischer sowie naturwissenschaftlicher Disziplinen erforderlich. Diese Bauaufgabe lässt sich erst im komplexen Zusammenspiel von Statik, Massivbaukenntnissen, Geologie, Geomechanik, Maschinentechnik und Bauverfahrenstechnik bewältigen. Trotz der zentralen Lage inmitten Europas und damit an bereits jahrhundertealten Handelsrouten waren die Alpen kaum erschlossen und galten als schwer überwindbares Hindernis. Die Römer kannten Regionen diesseits und jenseits der Alpen, also cis­ und transalpina, bezeichnet wurde damit nicht nur eine geografische, sondern natürlich auch eine strategische Trennlinie. Dass diese überwindbar ist, demonstrierte der kathargische Feldherr Hannibal mit seinem Heer und seinen legendären Kriegselefanten im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Heute bezwingen tagtäglich andere Giganten die Alpen, Pässe und Tunnel haben im Laufe der Zeit immer größere Verkehrsströme über und durch die einstige natürliche Barriere ermöglicht und selbst für die größten Lkw passierbar gemacht. Folgten die ersten Stollen also Rohstoffadern, Nun stellen transnationalen Güter­ folgen heutige Tunnel einer anderen Logik. ströme die Lebensadern eines glo balisierten Handelsraums dar und bringen nicht nur Rohstoffe und Produkte, sondern auch Lärm und Emissionen auf ihren Transitrouten mit sich. Zwei europäische Mammutprojekte sollen laut Befürwortern diese Nebenwirkungen des Transits erheblich vermindern. Der 1999 angestochene Gotthard­Basistunnel soll nach aktuellem Stand 2017 offiziell eröffnet werden und wird mit einer 57 km langen Röhre Erstfeld im Kanton Uri und Bodio im Tessin verbinden. Der Brenner­Basistunnel soll mit einer geplanten Länge von 55 km durch den Berg reichen und nach aktueller Prognose ab 2025 die Portale Innsbruck und Franzensfeste miteinander verbinden. Im Kontext europäischer Verkehrsachsen verortet, soll dadurch ein Teil der Eisenbahnstrecke München­Verona und auf weitere Zeitperspektive betrachtet der Infrastrukturkorridor Skandinavien­ Mittelmeer, ein langfristiges Infrastrukturentwicklungsziel der Europäischen Union, geschlossen werden. Diese Langzeitplanung für grenzübergreifende Mobilitätsinfrastruktur wurde in einem Konzept der Europäischen Union namens Transeuropäische Netze oder kurz TEN definiert. Aufgrund der schwierigen geologischen Beschaffenheit des Fels entlang der periadriatischen Naht, die der Brenner­ Basistunnel queren muss, stellt das Projekt eine besondere technische Herausforderung dar. 200 Erkundungsbohrungen und ein 6 m durchmessender, zwischen den künftigen Hauptröhren geführter Erkundungsstollen sollen dafür ausreichend Daten liefern, dennoch sehen Kritiker neben den hohen Kosten darin ein gewisses Risiko. Hauptkritikpunkt im Großteil der Analysen sind allerdings die enormen Kosten von rund 8,6 Milliarden Euro, eine Kostenprognose vonseiten der Projektgesellschaft, die vielen als zu optimistisch erscheint. Dieses Investionsvolumen würde in kleineren Infrastrukturprojekten fehlen, ebenso zweifeln Verkehrsexperten an dem prognostizierten Verlagerungsprozess des Güterverkehrs auf die Schiene. Die Befürworter geben zu bedenken, dass die Investition in den Tunnel nicht nur unmittelbar der Infrastruktur zugute käme, sondern über volkswirtschaftliche Mechanismen Arbeitsplätze und Multiplikatoreffekte in der Wirtschaft schaffe. So wird wohl erst die Zukunft zeigen, ob der Brenner­Basistunnel die erwünschten Effekte auf die Transitrouten durch die Alpen haben wird. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass Großprojekte wie diese in jedem Fall den gemeinsamen politischen Willen demonstrieren, in bi­ beziehungsweise multinationalen Kooperationen überregionale Aufgabenstellungen innerhalb Europas zu bewältigen. Damit stellen ebendiese transnationalen Infrastrukturen ein sichtbares Symbol für die Bereitschaft der einzelnen Unionsländer, sich zur in der EU verankerten Freizügigkeit von Menschen und Gütern zu bekennen und damit anachronistische Nationalismen in einer globalisierten Welt zu überwinden. N 18 | 19 Tief im Berg

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Margherita Spiluttini Schöllenenbahn, CH, 2001

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Margherita Spiluttini Viamalabrücke, CH, 2000 20 | 21

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Der Siedlungsraum der Alpen | Vom regionalen zum globalisierten Kulturraum? Axel Borsdorf Institut für Geografie, Leopold­Franzens Universität Innsbruck, und Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Einführung Von außen werden die Alpen vor allem als Naturraum wahrgenommen, wenn als Kulturlandschaft, dann als ländlicher Raum. Erholungssuchende finden dort „Natur pur“, Sportbegeisterte „weiße Pracht“, Nostalgiker Landschaften, „in denen die Zeit stehen geblieben ist“. Dies zumindest gaukeln die Prospekte und Versprechungen der Tourismusorte vor. Tatsächlich ist der Alpenbogen städtearm. Die größeren urbanen Zentren und die Metropolen (Wien, Graz, Maribor, Ljubljana, Verona, Brescia, Mailand, Turin, Bern, Zürich, München, Salzburg) liegen am Rand oder im Vorland der Alpen. Innerhalb des Gebirges befinden sich nur sechs Stadtregionen mit mehr als 200.000 Einwohnern: Grenoble, Annecy­Chambéry, Klagenfurt­Villach, Innsbruck, Trient und Bozen. Von 1960 bis 1995 nahm die Zahl der Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern von 138 auf 132 ab, die der Gemeinden zwischen 5000 und 10.000 Einwohnern sank von 254 auf 247 (Perlik 2001: 78). Bätzing (1999) meint einen Strukturwandel der Alpenstädte von zentralen Orten zu Vorstädten europäischer Metropolen feststellen zu können. Demnach verlieren die Alpenstädte ihre Eigenständigkeit als Versorgungszentren für ihre alpinen Einzugsbereiche und werden Teil der großstädtischen Agglomerationen jener Metropolen, deren Zentren sich außerhalb des Alpenbogens befinden. Zugleich entstehen in den großen Alpentälern bandförmige Siedlungs­ und Gewerbestrukturen, die zu formal­funktionalen Einheiten – verfingerten Alpenstädten – zusammenwachsen, wenngleich sie administrativ atomisiert verwaltet werden, sodass ihr Wachstum weitgehend unkontrolliert erfolgt. Distanzen scheinen heute kaum noch Im Zuge dieser eine Rolle zu spielen, die Theorie zentraler Entwicklung sank Orte hat in den Alpen ausgedient (Borsdorf & der Anteil der Bewohner von ländlichen Siedlungen Paal 2000). von 43,5 % auf 38,4 %, der Anteil der Menschen, die in urbanisierten Zonen wohnen, stieg dementsprechend von 56,5 % auf 61,6 %. Die urbanisierten Räume verlieren hierbei formal und funktional zunehmend ihren lokaltypischen Charakter, der allenfalls noch als folkloristische Tünche oberflächlich aufgebracht wird. In weiten Teilen der Alpen scheint es, als ob Dynamik und jüngere Entwicklung der urbanen und suburbanen Räume kaum mit ihrem „alpinen“ Charakter zusammenhängen. Der Charakter der „alpinen Stadt“ (vgl. Torricelli 1999, Fourny 2000) droht verloren zu gehen. Stattdessen prägen überregionale und globalisierte Trends zunehmend nicht nur die Architektur­ und Städtebaustile, sondern auch die Lebensstile der Bevölkerung und die ökonomische Struktur und Funktion. Schon 2007 wurde untersucht, welche endogenen und exogenen Faktoren diese Entwicklung steuern, wie die derzeitige Raumstruktur zu kennzeichnen und zu bewerten ist, wie die aktuellen Siedlungsmuster im Licht des Postmoderne­Diskurses zu sehen sind und wie – auf einer solchen Grundlage – Zukunftsszenarien der Siedlungsentwicklung im Alpenraum aussehen könnten (Borsdorf 2007). Diese Analyse wird im Folgenden aktualisiert. Die wichtigsten Trends der Siedlungsentwicklung und ihre endogenen und exogenen Steuerungsfaktoren 2007 wurden die Deagrarisierung, der Alterungsprozess der Bevölkerung, Schrumpfungsprozesse in Teilen der Alpen als weitgehend endogen verursacht bezeichnet. Eindeutig exogen bestimmt sind dagegen die Zunahme der Mobilität, die Immigration nicht alpiner Bevölkerung und die politische, wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung. Ihre Ursachen und Folgen sind seither mehrfach beschrieben worden (Borsdorf), sodass auf eine erneute Darstellung verzichtet wird. Vielmehr soll auf neuere Trends hingewiesen werden, die sich vor allem in einer Zunahme der Amenity­ bzw. Lebenstilmigration spiegeln und in manchen Teilen der Alpen die bisherige Bergflucht und Entleerung peripherer Täler in einen positiven Trend umkehren (Löffler et al. 2011). Dies ist auch in Tirol zu beobachten (Borsdorf & Bender 2014). Dies kann sich in Form einer dauerhaften Verlagerung des Lebensmittelpunktes in die Alpen, aber auch in vielfältigen Formen der Multilokalität äußern (McIntyre 2009, Borsdorf 2009), wobei dann die Standortqualitäten von zwei oder mehr Lokalitäten für das eigene Wohnen in Anspruch genommen werden. Für die multilokale Bevölkerung kommen zu den Mobilitätskosten Standortkosten für den Unterhalt von mehreren Wohnungen hinzu. Daher ist ein Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status der involvierten Bevölkerungsgruppen evident, wobei allerdings auch demografische Merkmale (Lebenszyklus: Alter, Haushalt) und Lebensstile zu berücksichtigen sind. Perlik (2011) geht so weit, die multilokalen alpinen Lebensformen der „Gentrification“, also der sozialen wie baulichen Aufwertung von Siedlungsteilen, zuzuordnen. Der Siedlungsraum der Alpen

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Literatur • Andexlinger, W. et al. 2005: Tirol City. New urbanity in the Alps. Neue Urbanität in den Alpen. Wien, Bozen • Bätzing, W. 1999: Der Strukturwandel der Alpenstädte von zentralen Orten zu Vorstädten europäischer Metropolen und die Zukunft der Alpen. In: Perlik, M. & Bätzing,W. (Hg.): L’avenir des villes des Alpes en Europe – Die Zukunft der Alpenstädte in Europa. Revue de Géographie Alpine 87, 2: 185–200 • Bender, O. & Borsdorf, A. 2014: Neue Bewohner in den Alpen? Räumliche Mobilität und Multilokalität in Tirol. In: Chilla, T. (ed.): Leben in den Alpen. Verstädterung, Entsiedlung und neue Aufwertungen. Bern: Haupt: 15–30. • Born, K. M. 2007: Zuwanderungen in den peripheren ländlichen Raum. Eine Chance? In: Schmied, D. & Henkel, G. (Hg.): Leerstände von Gebäuden in Dörfern – Beginn der Dorfauflösung oder Chancen durch Umnutzung? Göttingen: 19–36. • Borsdorf, A. & Paal, M. 2000: Die „Alpine Stadt“: Bemerkungen zu Forschungsfragen und wissen­ schaftlichen Perspektiven – eine Einleitung. In: Borsdorf, A. & Paal, M. (Hg.): Die „Alpine Stadt“ zwischen lokaler Verankerung und globaler Vernetzung. ISR­Forschungsberichte 20, Wien: 9–26 • Borsdorf, A. 2004: On the way to post­suburbia? Changing structures in the outskirts of European cities. In: Borsdorf, A. & Zembri, P. (Hg.): Structures. European Cities. Insights on Outskirts. Paris : 7–30 In Tirol beträgt die Nebenwohnsitzdichte 14,8 %, überdurchschnitttliche Dichten haben die Bezirke Kitzbühel, der untere Bezirk Kufstein, das obere Zillertal, die Achenseeregion, das Seefelder Plateau, Leermoos/Biberwier, die Arlbergregion, und Serfaus/Fiss. Nimmt man an, dass Amenity­/Lebensstilmigranten vor allem „best agers“, also die Altersgruppe der 50 bis 74­jährigen, sind, so zeigt eine Analyse der Tiroler Gemeinden die Bedeutung dieser Migrantengruppe (Borsdorf 2014, Borsdorf & Bender 2014). Anders als in anderen Alpenländern werden in Tirol und Österreich die Vorteile des Zuzugs von Amenity­Migranten zur Erhaltung von Ortsbildern und Infrastruktur und dem Zustrom neuer Kaufkraft noch nicht erkannt. Die positive Bevölkerungsentwicklung in den französischen Westalpen und die Wiederbelebung entleerter Gemeinden in den italienischen Alpen zeigen jedoch, dass andere Staaten darin eine Chance sehen, Bergflucht und Marginalisierung entgegenzutreten. Dies umso mehr, als mit Fortsetzung des Klimawandels immer mehr Menschen den zunehmend wärmer werdenden Mittelmeerregionen entfliehen könnten und die Pullfaktoren der Amenitys der Alpen von Pushfaktoren des Klimawandels in den Tiefländern abgelöst werden. • Borsdorf, A. 2014: Second homes in Tyrol. Growth despite regulation. Journal of Alpine Research, Revue de Géographie Alpine: http://rga.revues.org/ 2262 ; DOI : 10.4000/ rga.2262, abgerufen 25. 10. 2014 • Fourny, M.­C. 2000: De l’identité alpine et des villes des Alpes : Quelques éléments de réflexion sur la valeur et la nature de l’identité urbaine. In: Borsdorf, A. & Paal, M. (Hg.): Die „Alpine Stadt“ zwischen lokaler Verankerung und globaler Vernetzung. ISR­Forschungsberichte 20, Wien: 45–58. • Frankhauser, P. 2005: La morphologie des tussus urbains et périurbains à traves une lecture fractale. Revue Géographie de l’Est 45, 3–4 : 145–160. • Löffler, R., Beismann, M., Walder, J. & Steinicke, E. 2011: New demographic developments and their cultural impact on the Italian Alps. In: Borsdorf, A., Stötter, J. & Veulliet, E. (Hg.): Managing Alpine Future II. Proceedings of the Innsbruck Conference November 21–23, 2011. IGF­Forschungsberichte 4. Wien: 383– 393 • McIntyre, N. 2009: Rethinking Amenity Migration: Integrating Mobility, Lifestyle and Social­Ecological Systems. Die Erde 140, 3: 229–250 Perlik, M. 2001: Alpenstädte – Zwischen Metropolisation und neuer Eigenständigkeit. Geographica Bernensia P 38 • Perlik, M. 2011: Alpine gentrification: The mountain village as a metropolitan neighbourhood. New inhabitants between landscape adulation and positional good. Revue de géographie alpine 99, 1. http://rga.revues. org/1370; abgerufen am 25.10.2014 • Torricelli, G. P. 1999: Les villes des Alpes suisses. In: Perlik, M. & Bätzing, W. (Hg.): L‘avenir des villes des Alpes en Europe – Die Zukunft der Alpenstädte in Europa. Revue de Géographie Alpine 87, 2: 123­146 Der Einfluss der Postmoderne Die sich verdichtenden Gunsträume der Alpen sind dem Globalisierungstrend in besonderer Intensität ausgesetzt. Dort lässt sich auch heute schon beobachten, dass Phänomene, die aus außeralpinen, sich im Globalisierungsstress befindlichen Räumen bekannt sind, in ähnlicher Weise ablaufen. Diese sind die Verlagerung der „zentralen“ Einrichtungen, ehemals im Stadtkern verortet, an die Peripherie, die zunehmende Fragmentierung des urbanen Raums und seine Umwandlung von einem Stadt­Land­ Kontinuum zu einem Stadt­Land­Verbund oder einem urban­ruralen Archipel, die Verräumlichung von Lebensstilen und die Überführung klarer Raumstrukturen in fraktale Muster sowie die Privatisierung öffentlichen Raums und die akzentuierte sozialräumliche Segregation. Da Regulative der Raumordnung, Regional­ und Stadtplanung oder Investitionssteuerung im Zeitalter der Globalisierung an Bedeutung verlieren, verlaufen diese Prozesse vielfach ungehemmt und in ihrer vollen Widersprüchlichkeit. Der postmoderne Raum ist nicht mehr rational, er ist „chaotisch“ im Sinne der Chaostheorie (Frankhauser 2005). Distanzen spielen als kostenverursachende Faktoren keine entscheidende Rolle mehr, nahezu unbegrenzte Mobilität und Zeitpotenziale setzen die limitierenden Grenzen des Raums außer Kraft. Der neue Stadt­Land­Archipel weist keinen Gegensatz von Land und Stadt mehr auf. Im einstigen ruralen Raum liegen die neuen Businesscenter, Entertainmentcenter, Malls und Einkaufszentren, die Dienstleistungscluster und Freizeiteinrichtungen, Golfplätze und Erlebnisparks, Messezentren, Technologieparks, Privatuniversitäten und Science Parks. Die neue Struktur ist nicht mehr „suburban“ im Sinne eines Ergänzungsgebiets zum Stadtzentrum, so wie es die einstigen Schlafstädte mit ihren „Grünen Witwen“ waren. Im Gegensatz zu diesen bieten sie zentrale Güter und Dienste an, besitzen Infrastruktur, ziehen auch tagsüber Verkehrsströme an und bieten eine Vielzahl von Arbeitsplätzen. Es ist daher gerechtfertigt, sie als „Post­Suburbia“ zu bezeichnen. Für Tirol hat eine Gruppe von Autoren (Andexlinger et al. 2005) ein mögliches Endstadium einer solchen Entwicklung in der Vision von „Tirol­ City“ grafisch zu veranschaulichen versucht. Tirol ist in dieser prognostischen Sicht ein einziger Stadtraum geworden, der alle Tallagen umfasst und in denen einzelne Stadtteile bereits in ihrer Benennung die Struktur von Post­Suburbia erkennen lassen: In Lower East Side liegt z. B. der Stadtteil Glamourous City mit Fun Arena, Alpinolino und Adventure Park, South Park ist aufgeteilt auf drei Talschaften und umfasst u. a. die Super Arena mit 22 | 23 Der Siedlungsraum der Alpen

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Es darf aber nicht übersehen werden, dass es auch Gegentendenzen gibt. Viele Amenity­ Migranten suchen die Idylle und kümmern sich sehr aktiv um die Restaurierung, Renovierung und Erhaltung alter Gebäude, die sie mit neuem Leben erfüllen. Dies ist nicht mehr rural geprägt, ist aber dennoch dem ländlichen Leben verpflichtet. Zahlreiche Beispiele in den italienischen und französischen Alpen belegen das Potenzial der Lebensstilmigranten. So kann die Zuwanderung durchaus auch als Chance gesehen werden (Born 2007). Eine (virtuelle) Zukunft für die Alpen? War die Suburbanisierung noch eine Erscheinung der Spätmoderne, so scheint die Postmoderne sich mit postsuburbanen Strukturen, räumlicher Fragmentierung und der Randwanderung ehemals zentraler Einrichtungen auch in Teilen des Alpenraums durchzusetzen. Auch die Suche nach der Verwirklichung von Lebensstilen in gesunden, landschaftlich schönen und von lokalen Kulturen gestalteten Räumen ist eine Erscheinung der Postmoderne. Es kann aber nicht übersehen werden, dass dabei die Alpen zunehmend zur bloßen Kulisse verkommen. Margherita Spiluttini Alte und neue Teufelsbrücke, CH, 2001 Aqua Dome im Ötztal. Auf der Inntallinie liegen die drei Shoppingbereiche East, Central und West, im Außerfern gesellt sich Lechtal Shopping hinzu. Insgesamt beinhaltet die Vision ein Patchwork aus „urbanized, residential, touristic, commercial areas“, ergänzt um historische Stadtzentren. Die umgebende Berglandschaft ist „Fußgängerzone“, darüber liegt der „Ice Park“. In dieser Vision ist „Post­Suburbia“ zu Ende gedacht worden. Ein im Umland der Stadt Innsbruck gelegenes Einkaufszentrum – streng genommen eine Mall mit nicht integrierten randlichen Fachmarktagglomerationen – trägt den semiotisch aufschlussreichen Namen „Cyta“: Er erinnert an city, cité, ciudad, cittá und suggeriert den Menschen, dass das neue Stadtzentrum, die City, dort draußen liegt (Borsdorf 2004). Und tatsächlich: Fast hat man den Eindruck, dass unter der Glaskuppel dieser Mall mehr städtisches Leben herrscht als im tourismusgeprägten Stadtzentrum von Innsbruck selbst. In Post­Suburbia verliert sich auch die Spur Stahl, Beton, Glas der regionalen Baukultur. Das Pultdach­Haus und Aluminium scheint ubiquitär zu werden, die verwendeten beherrschen das Bild. Der für die Baumaterialien sind es längst. Aluminiumherstellung gerodete tropische Regenwald kümmert schon deswegen nicht, weil es ja die Möglichkeit gibt, Bürgerinitiativen zur Erhaltung ebendieser Hyläa finanziell zu unterstützen. Es ist daher zu reflektieren, ob die (räumlichen) „Entankerungsprozesse“ der Postmoderne die Frage nach der Siedlungsentwicklung einer kulturräumlichen Einheit wie der Alpen nicht schon deshalb obsolet machen, weil dieser Kulturraum als solcher globalisiert, d. h. homogenisiert, wird. Was dies bedeutet, kann am Beispiel des spanischen Urban Entertainment Centre Xanadu, im (ruralen) Umland von Madrid gelegen, verdeutlicht werden. Es bietet der Bevölkerung der spanischen Metropole in einer 250 m langen Skihalle ganzjährig die Möglichkeit, Abfahrtski oder Schlitten zu fahren, Indoorautorennen zu erleben oder ebenfalls ganzjährig unter scheinbar sonnengereiften Plastikfrüchten zu speisen. Raum und Zeit sind in diesem Einkaufs­ und Erlebnistempel aufgehoben, die Realität ist nahezu virtuell geworden. Sind dies Lösungen für die Zukunft des alpinen Siedlungsraums, um den Herausforderungen von globaler Erwärmung, kultureller und ökonomischer Globalisierung und postmoderner Lebensgestaltung zu begegnen? Am Ende der Reflexion bleibt eine ganze Reihe von Fragezeichen. Die Alpen als Seniorenresidenz, als Begegnungs­ und Integrationsraum vieler Kulturen, als europäischer sun & snow­belt, als rurbanes Archipel, als partielle Wildnis oder virtuell­technische Erlebniswelt? Wenn alle diese Tendenzen ihren Niederschlag finden, aber auch nicht viele andere Szenarien Platz greifen, dann wäre die Zukunft des Siedlungs­ und Wirtschaftsraums in wahren Sinn postmodern. N Der Siedlungsraum der Alpen

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Vernakulare Architektur in den Alpen | Eine Spurensuche Carmen Auer forscht an der TU Graz am Institut für Architekturtheorie, Kunst­ und Kulturwissenschaften an der buddhistischen Architektur im westlichen Himalaya und vernakularer Architektur in den Alpenregionen Jenseits der vielfach klischeebelasteten und ideologisch eingefärbten Bedeutungen des Begriffs Heimat weist das im englischen Sprachraum allgemein gebräuchliche Adjektiv vernacular, das vom lateinischen vernaculus für „einheimisch“ übernommen wurde und im Englischen sprachbezogen auch die Mundart und den Dialekt einschließt, auf das regionsbezogen Wesentliche einer historischen Hauslandschaft hin. Der Begriff vernakulare Architektur gibt uns die Möglichkeit, einen Schritt zurückzutreten und einen einigermaßen unverstellten Blick auf einen baugeschichtlich vernachlässigten Bereich der historischen Architektur im Alpenraum zu werfen, der trotz aller kulturpessimistischen Einwände die Anstrengung einer Spurensuche noch wert ist. Und das sowohl in kultursoziologischer als auch in architektonischer Hinsicht, denn hier äußert sich – wenn heute auch oft ephemer – eine kulturelle Leistung von Generationen, die kaum an Erfindungsreichtum und Vielfältigkeit zu übertreffen ist. Es handelt sich also bei der vernakularen Architektur in den Alpen um das sogenannte traditionelle Bauen im ländlichen Raum, das bis in das 20. Jahrhundert hinein von einer überwiegend agrarischen Gesellschaft geprägt war. Sie umfasst Einzelbauten, Siedlungsverbände und landschaftsprägende Kleinbauten, die sich über lange Zeiträume und in einem engen Zusammenhang mit der Landschaft, den Wirtschafts­ und Gesellschaftsformen einer bestimmten Region herausgebildet haben. Die Qualität und das individuelle schöpferische Potenzial, das in Bezug auf die baulichen Möglichkeiten und aus den unterschiedlichen Zwängen heraus entstand, führte durch Modifikationen und Anpassungen über Generationen hinweg zu überzeugend intelligenten Lösungen von sehr unterschiedlichen Problemstellungen. Die Ergebnisse dieser Prozesse boten für Architekten schon immer einen Fundus an Ideen, die in vielen Bereichen bis heute wichtige Anregungen bieten. Morphologie und Identität Was diesen Bereich unserer Baukultur besonders auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie in direktem Zusammenhang mit der räumlichen Konfiguration eines bestimmten Territoriums steht, also direkt reagiert auf die Beschaffenheit der Landschaft, ihre Topografie und ihr Klima. Landschaft und Klima definieren das Szenario und die funktionelle Organisation einer Siedlung, sie sind unmittelbar miteinander verbunden und werden deshalb als „natürliche“ Einheit wahrgenommen. Tatsächlich aber handelt es sich bei der Morphologie der vernakularen Architektur um ein Kunstprodukt, um das Resultat der Anstrengung vieler aufeinanderfolgender Generationen und somit um ein unmissverständliches Zeichen ihrer sozialen und formalen Kreativität. Vor allem in abgeschiedenen Bergregionen bedeutete das Bauen siedlungs­ und bautechnisch über Jahrhunderte eine große Herausforderung. Die Charakteristik und die geomorphologischen Gegebenheiten mancher Orte scheinen den Siedlungsstrukturen und Bauformen ihre Gestalt regelrecht aufgezwungen zu haben. Je schwieriger die geomorphologische Ausgangssituation war, umso prägnanter gestaltete sich die bauliche Anpassungsfähigkeit. Die Formensprache der vernakularen Architektur hängt stark mit dem vorherrschenden Gemeinwesen zusammen, das im Wesentlichen auf dem Zusammenhalt der Familienverbände basierte. Die Organisation der Einzelbauten spiegelt die gegenseitige Wechselbeziehung von Zusammengehörigkeit und Abhängigkeiten wider. Diese Wechselbeziehung bewirkte eine starke, identitätsstiftende Bindung zwischen der Gesellschaft und ihrer Umwelt. Besonders in den abgelegenen Gebieten des Alpenraums, wo die Natur mit übermächtiger und suggestiver Kraft das Leben dominierte, entstanden autonome Lokalkulturen, die sich in ihrer Identität durch eine große Widerstandsfähigkeit gegen Veränderungen und eine ausgeprägte Abwehrhaltung gegenüber Neuerungen und Übernahmephänomenen charakterisieren lassen. Das zeigt sich deutlich an den lokal tradierten Formen der vernakularen Architektur, an denen häufig auch dann noch festgehalten wurde, als sich die Anforderungen und Rahmenbedingungen des alltäglichen Lebens bereits stark verändert hatten. Neuorientierung und Erhaltung Heute werden besonders die Gebirgsregionen mit ihren spektakulären Bergkulissen und Landschaften vermehrt als Ferien­ und Rückzugsgebiete für Menschen gesehen, die den Großstädten entgehen wollen. Die vernakulare Architektur bildet als Zeuge der Baugeschichte einen erfahrbaren Ausdruck der lokalen Gesellschaft und stellt einen wesentlichen Bestandteil der materiellen Zeugnisse der Kultur einer Region dar. Die Veränderungen von Landwirtschaft und Gesellschaftsform brachten für die ländlichen Regionen viele Probleme und neue Herausforderungen. 24 | 25 Vernakulare Architektur in den Alpen

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Margherita Spiluttini Staudamm Gepatsch, Kaunertal, AT, 1998 Eine davon betrifft die Instandhaltung und Bewahrung der territorialen Zeichen und Bauwerke. Doch welche Möglichkeiten gibt es neben der Musealisierung von historischen Siedlungen und Bauten noch? Ohne Zweifel ist die beste Form der Erhaltung die Nutzung oder Revitalisierung von Bauwerken. Gerade aber die Adaptierung oder Neuinterpretation zeigt das Grundproblem des Bedeutungs­ und Wissensverlustes in Bezug auf historische Bauformen überdeutlich auf. Man kann diese Problematik durchaus vergleichen mit dem modischen Aufschwung und dem gleichzeitigen Bedeutungsverlust der Trachtenkultur in Österreich. Ursprünglich stark gebunden an eine regional sehr unterschiedliche und traditionell klar reglementierte Kleiderordnung unterschiedlicher Stände und Berufsgruppen, ist die Tracht heute in der totalen Beliebigkeit einer forcierten Eventkultur angekommen. Ähnlich stellt sich der Befund der Bedeutungslosigkeit bei den Adaptierungsversuchen traditioneller, ländlicher Bautypen dar. Das sogenannte Tiroler Haus als Prototyp der Appartement­ und Hotelanlagen im alpinen Raum überschwemmt noch immer die Fremdenverkehrszentren, vollkommen aus dem Kontext entlassen und zur baulichen Kulisse der Tourismusindustrie verkommen. Scheinbar entspricht die Sehnsucht nach dem Erhalt von traditionellen Formen umgekehrt proportional ihrem Bedeutungsverlust. Wir sehnen uns vermehrt nach Bedeutung statt Beliebigkeit. Das ist allerdings nicht mit falsch verstandenen Typologien von tra ditionellen Hausformen zu erreichen, sondern nur mit dem tiefreichenden Grundverständnis dessen, wie bestimmte Haus­ und Siedlungsformen im jeweiligen Kontext entstanden sind und was ihre Qualität und Schönheit im Besonderen ausmachen. Um diese Qualitäten zu erkennen, jenseits von schlechten Kopien und falschen Klischeevorstel lungen, muss man sich mit den noch bestehenden, authentischen Beständen intensiver auseinandersetzen. Mühen und Tücken der Bauforschung Ein kompliziertes Geflecht unterschiedlicher Rahmenbedingungen und Motivationen hat in Vernakulare Architektur in den Alpen

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den Alpenregionen zur Entstehung bestimmter Formen und Dimensionierungen, zur Wahl bestimmter Standorte und zur Festlegung von Funktionen eines Hofes oder einer Siedlung geführt. Bestimmende Aspekte waren neben den räumlichen Gegebenheiten und der Wirtschaftsform das historisch­politische System, die bestehenden Bedrohungsszenarien durch Kriege und Naturkatastrophen, die Energiegewinnung und das Transportwesen ebenso wie die Fähigkeiten von Handwerkern und die Verfügbarkeit von Baumaterialien. Um die vernakulare Architektur systematisch untersuchen zu können, darf ein Bauernhaus nicht als ein in sich abgeschlossenes und aus seinem Kontext losgelöstes Artefakt betrachtet werden. Die Charakteristik der Landschaft, der Siedlungsform und des Hausverbandes spielt ebenso eine Rolle wie die bautechnischen Materialkenntnisse bis hin zu den konstruktiven Details. Zeitaufwendige Grundlagenforschung ist notwendig, um eine nur kleinräumige Region befriedigend und aussagekräftig bearbeiten zu können. Geomorphologische Untersuchungen, historische Siedlungspläne und detaillierte Bauaufnahmen sind notwendig, um das Material für eine Analyse zu erstellen und die Essenz eines bebauten Territoriums zu erfassen, die eben nicht nur in seiner spezifischen Form, sondern auch in seiner Größenordnung und Ausdehnung begründet ist. Aber auch in der Abgrenzung zu Theorien, die sich durch ihre Verallgemeinerungen auszeichnen, ist die Bauforschung heute gefordert. Die sogenannte „Heimatforschung“ führte in der Vergangenheit allzu oft zu verkürzten Thesen, die sich vor allem gerne mit der ethnischen Zugehörigkeit der Bevölkerung unterschiedlicher Gebiete befassten, vorzugsweise mit deren Einfluss auf die Siedlungsformen, Bautypen und die Bevorzugung bestimmter Baumaterialien. Die historischen Siedlungsgebiete im Alpenraum nach der Völkerwanderung gehen auf das frühe Mittelalter zurück. Die für die Erschließung und Bewirtschaftung von Anbauflächen nötigen Arbeitskräfte waren überwiegend Leibeigene, die im Alpenraum unterschiedlichster Herkunft waren. Die Wahl der Siedlungsform hatte definitiv nichts mit der ethnischen Zugehörigkeit der Bevölkerung zu tun, sondern wurde von den Feudalherren planmäßig vorgegeben. Die urkundlich nachgewiesene, feudale Kolonialisierungsphase im 9. und 10. Jahrhundert forcierte die Siedlungsform der Haufendörfer, da sie dem in Gruppen organisierten, ländlichen Gemeinwesen am besten entsprach. Die Besiedlung in Form von verstreut liegenden Höfen ist der Ausdruck eines späteren Siedlungsprogramms, das im Zuge der feudalen Landnahme neue Anbauflächen in kolonialisierten Gebieten erschließen sollte. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft wurde das Siedlungswesen streng politisch reglementiert und bot den Wünschen und Entscheidungen der Bevölkerung nur einen engen Spielraum an eigenen Entscheidungen. Auch in Bezug auf das in bestimmten Gebieten zum Einsatz kommende Baumaterial ist heute klar, dass die Verwendung oder Bevorzugung einer bestimmten Bauweise vor allem mit der Verfügbarkeit des Materials vor Ort zu tun hatte und nicht auf ethnische Traditionen zurückzuführen ist. Waren sowohl Holz als auch Stein verfügbar, wurde eine den funktionalen Kriterien entsprechende Auswahl getroffen, beispielsweise Stein für das Wohnhaus, Holz für die Scheune oder eben entsprechende funktional bedingte Mischbauweisen. Bestimmte Hofformen, bei denen Wohnen und Wirtschaften unter einem Dach stattfanden, gehen ebenfalls auf frühe, von Lehensherren geprägte Wirtschaftsformen zurück. Durch Aufsplitterung und Verdichtung wurden mit wenigen Ausnahmen die ursprünglichen Bauformen verändert und modifiziert. Was in diesem Veränderungsprozess eigenständige Erfindung und was die Übernahme unterschiedlicher kultureller Muster ist, lässt sich nur durch genaue und fachübergreifende Untersu ­ ch ungen ansatzweise beantworten, da diese Prozesse über einen langen Zeitraum erfolgten. Generell hat sich aber gezeigt, dass räumlich begrenzte Siedlungs­ und Hausformen sich nicht mit ethnischen Grenzen überlagern. Aussichten Man muss sich heute darüber im Klaren sein, dass von den ehemaligen Landschaften der vernakularen Architektur nur noch Fragmente übrig sind. Die Grenzen zwischen ländlichen und städtischen Typologien verschwimmen mehr und mehr, die Zersiedelung der Landschaft macht die ehemaligen Siedlungsstrukturen nahezu unkenntlich und durchsetzt die vorher charakteristischen Hauslandschaften mit Einfamilienhäusern aus dem Katalog und Bauten, die sich mehr nach dem Formenkanon der Baumärkte richten als nach den vorgefundenen, lokalen Gegebenheiten. Hochwertiges, lokales Handwerk ist, soweit überhaupt noch vorhanden, für den durchschnittlichen Bauwerber kaum bezahlbar und wird von industriell vorgefertigten Bauteilen abgelöst. Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten, bestenfalls durch kluge Gemeinde­ und Regionalpolitik zu reglementieren. Vor allem aber sind die Aufwertung und das Grundverständnis des baukulturellen Erbes als Teil einer unwiederbringlichen Materialkultur einer Region die Grundvoraussetzungen, individuelle Wege eines sinnvollen Umgangs mit der vernakularen Architektur in der Alpenregion zu ermöglichen. Denn dieser Teil unserer Baukultur zeigt uns in vielen Bereichen noch heute exemplarische Lösungen eines sensiblen Umgangs von Architektur, Material und Umwelt. N 26 | 27 Vernakulare Architektur in den Alpen

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Alpen in Bewegung | Aus starren Karten werden dynamische Modelle Barbara Opitz wandte sich nach ihrem Architekturstudium dem Journalismus zu. Sie schreibt u. a. für „brand eins“, den „stern“, die „taz“ und „Spiegel Online“. Margherita Spiluttini Staumauer Grimselsee, CH, 2001 Die Alpen, eine Region, in der „die Zeit stehen geblieben zu sein scheint“, ein Ort der „paradiesischen Ruhe“, der „ewigen Berge“ und des „ewigen Eises“ – wenn man der Tourismusbranche Glauben schenkt. Dabei sind die Alpen in Wahrheit in permanenter Bewegung. Im Jahr 2010 wurde die internationale Presse auf ein Phänomen aufmerksam: In einer Höhle in der Obersteiermark hatten Geologen Hinweise auf Erdbeben entdeckt. Eine 400 Kilometer lange Störungszone zwischen Innsbruck und dem Wiener Becken sei tektonisch nach wie vor aktiv. Geologische Kräfte würden die Ostalpen unaufhaltsam in Richtung Osten schieben, berichteten Geoforscher vom Naturhistorischen Museum in Wien im Fachblatt „Geology“. Vor allem aber die zunehmende Klimaerwärmung, die die Höhenlagen in den Alpen überdurchschnittlich betrifft, hat einen großen Einfluss auf die ständige Veränderung. Mit dem Rückgang der Gletscher und dem Auftauen des Permafrosts geht ein massiver Bewegungsprozess der Gebirgszüge und einzelner Hänge einher. Jahr für Jahr legen die weichenden Gletscher Fels, loses Gestein und Schutt frei. Unermüdlich zerrt die Schwerkraft an ihnen, baut Spannungen auf, öffnet Spalten und zerbricht jeden Widerstand, bis schließlich Steine, Felsen oder aber Schneebretter abbrechen und ins Tal donnern. Durch die Schneeschmelze im Frühjahr oder durch intensive Regenfälle werden Steinschläge, Muren und Lawinen – in der Wissenschaft auch „Hangrutschungen“ oder „Massenbewegungen“ genannt – zudem begünstigt. Martin Rutzinger vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck: „Früher hatte man ein eher statisches, starres Bild von

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Margherita Spiluttini Marmorera Staudamm, CH, 2001 Landschaft. Die Berge waren bis vor hundert Jahren weitgehend unerforscht, Veränderungen in der Landschaft mit der damals statischen Kartografie kaum fassbar.“ Heute richte man den Fokus auf die Beobachtung von Veränderungen, beispielsweise durch Gletscherrückgang, Schneeschmelze, Erosion oder Hangrutschungen. „Die systematische Erfassung von Daten über längere Zeiträume werden in der Gebirgsforschung immer wichtiger.“ Mit seinem Team nimmt Rutzinger seit diesem Jahr am Projekt „adaptInfra“ teil, das vom alpS (Centre for Climate Change Adaptation) durchgeführt wird. In den kommenden drei Jahren sollen die Wissenschaftler bestimmte Analysewerkzeuge und Arbeitsabläufe entwickeln und optimieren, die eine Beobachtung der Hänge und Gebirgszüge anhand von hochaufgelösten digitalen 3D­Geländedaten ermöglichen. 28 | 29 Alpen in Bewegung

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gesamten Hanges in Form einer sogenannten 3D­ Punktwolke“, eine Art dreidimensionales Modell, bei dem einzelne Messpunkte anstelle eines Rasters ausschlaggebend sind. Rutzinger und seine Kollegen wollen jetzt Methoden entwickeln, wie man ein solches Modell mit Informationen füttert, etwa die Erdbeschaffenheit, Vegetation, Hangnutzung, ­neigung und ­ausrichtung. Ziel ist es unter anderem, festzustellen, wo Laserscanning, an einem Hang die Gefahrenzonen erkennbar also das Abtasten werden. von Ober flächen oder aber Körpern mit einem Laserstrahl, um diese dreidimensional zu vermessen, sei der Schlüssel. Ein Lasergerät, „beispielsweise per Drohne, Flugzeug oder schlicht auf einem Dreifuß, scannt die Oberfläche des Hanges. Heraus komme eine komplexe Aufnahme des Im Laufe des Projekts sollen mehrere zeitlich aufeinander folgende 3D­Hangmodelle, also „Ist­Zustände“ im Abstand von etwa drei Monaten, miteinander verglichen werden. Denn erst im Vergleich könne man Veränderungen feststellen, „sehen, wo sich etwas bewegt, also aktive Bereiche des Hanges erkennen oder aber Bewegungsmuster feststellen und so künftige Hangentwicklungen abschätzen. Die Datenmengen, die anfallen, sind gigantisch, weshalb das Team an einem Programm für die automatische Auswertung dieser Daten arbeitet. Bis 2017 sollen die Auswerte­ und Analyseverfahren fertig zur Anwendung sein, die dann beispielsweise Experten für Steinschläge und Muren, Behörden oder Ingenieuren im Straßen­ oder Wasserbau zur Verfügung stehen sollen. „Gefahrenanalyse in den Bergregionen ist dabei ein wichtiger Faktor“, sagt Rutzinger. Einen ähnlichen Ansatz, was die Gefahrenanalyse angeht, hat das WSL­Institut für Schneeund Lawinenforschung (SLF). Sein Softwarepaket „RAMMS“ kann zwar noch nicht voraussagen, wo die Schlamm­, Schneelawine oder der Steinschlag ausgelöst werden. Dafür können mit dieser Software Szenarien berechnet werden, bei denen die Falllinie, die Geschwindigkeit und die Reichweite etwa eines Steinschlags oder einer Lawine festgestellt werden können. Auch hierfür braucht man ein 3D­Geländemodell, erstellt anhand von Satellitenoder Luftbildern oder einfach mithilfe der Informationen von topografischen Diensten. „Aufgrund von Erfahrungen über Jahre haben wir bestimmte Parameter, speziell für Steinschläge, Erdrutsche oder Lawinen entwickelt, mit denen die Software arbeitet“, sagt Dr. Yves Bühler vom SLF. Beim Lawinenmodul seien beispielsweise die Reibungsparameter an großen Lawinenabgängen in der Schweiz kalibriert worden. Die Software funktioniere so: Man nutzt die Informationen über einen bestimmten Hang anhand eines zuvor erstellten 3D­Modells. Wenn der Experte dann den Ort des Abrisses etwa einer Lawine und die Höhe der Abrisskante bestimmt, kann man auf dem Monitor verfolgen, wo, wie schnell und wie weit die Lawine ins Tal geht. Auch bei Steinschlagszenarien bestimmt der Experte zuvor die Steinart, Größe und Steinform, um anschließend zu berechnen, welche Folgen ein Steinschlag in einer bestimmten Region haben wird. Dafür muss der Stein mit hundert oder gar tausend multipliziert werden, je nachdem ob man einen großen oder kleinen Steinschlag simuliert. Alpen in Bewegung

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Mit neu entwickelten Kontaktgesetzen berechnet die Software sogar jede Berührung des Steinkörpers mit der Geländeoberfläche und simuliert Bewegungsabläufe wie Rollen und Springen oder plötzliche Richtungsänderungen. Der Vorteil dieser Programme sei vor allem die Objektivität, sagt Bühler. Früher musste der Experte nur aufgrund seiner Erfahrung und seines Wissens die Lage beurteilen und die Gefahrenkarte zeichnen. Er konnte „im Feld stehen und sagen, ,mich zwickt's am linken Zeh‘, deshalb verhalte sich die Lawine so und so“, sagt Dr. Bühler. Die Software aber berechne nach physikalischen Gesetzen. „Man kann immer wieder von Neuem, mit unterschiedlichen Eingaben, verschiedene Szenarien errechnen und darüber diskutieren. „Hier ist mehr Transparenz gegeben.“ Ein Riesenfortschritt im Bereich der Gefahrenkalkulation, beispielsweise beim Thema Sicherung von Straßen, Dörfern, Skigebieten. Wie aber verändern jenseits der reinen Gefahrenanalyse diese technischen Neuerungen und die Orientierung an physikalischen Gesetzen die Sicht auf die Alpen als eine sich ständig wandelnde Region? Beispielsweise in territorialen Machtfragen? Wie die jüngsten Vorkommnisse in der Ukraine zeigen, sind Landkarten hochpolitisch: Die Krim gehört zu Russland – zumindest nach Ansicht der russischen Regierung. Russische Kartendienste wie Yandex sind nachgezogen und zeigen die Krim als russisches Staatsgebiet. Auf Google­Maps dagegen ist die Sache weniger eindeutig. Im Fall der Krim werden gestrichelte Linien verwendet, um auf unklare Grenzziehungen hinzuweisen, jedoch nur in der internationalen und deutschen Google­Map­ Version. Die russische Version teilt die Krim hingegen Russland zu. „Für jedes Land wählt Google also die politisch bequemste Lösung“, echauffierte sich jüngst die Presse. Einen Lösungsvorschlag für eine objektive Definition der Grenze hatte sie jedoch auch nicht parat. In den Alpen kam es zuletzt 1991 zu einem Grenzstreit – wenn auch einem der kuriosen Art. Similaun, auch Als die Mumie von „Ötzi“ genannt, unterhalb des Niederhochferners, der Grenzregion zwischen dem österreichischen Tirol und dem italienischen Südtirol, entdeckt wurde, erhoben beide Staaten Anspruch auf die Mumie. Es entstand ein Konflikt, der nur schwer zu lösen war. Das Problem: Die Grenzlinie – so war es definiert – zog sich entlang der dortigen Wasserscheide, ein Gebirgskamm auf rund 3300 Metern über dem Meeresspiegel, auf dem ein zu Boden fallender Wassertropfen entweder in das eine oder andere Land fließt. Da das Gebiet jedoch von einem Gletscher überzogen ist, behalf man sich im Jahr 1922 mit einer vertraglich festgelegten geraden „Hilfs“­Linie mit der ungefähren Lage der Wasserscheide unterhalb des Gletschers. Bezogen auf diese Linie wurde Ötzi rund 93 Meter von der Grenze entfernt auf italienischem Gebiet gefunden – obwohl es sich eigentlich, das ergaben Messungen im Jahr 1991, um die der Österreich zugewandten Seite der Wasserscheide handelte. Ein neues Projekt, „Italian Limes“ der Gruppe Folder, das jüngst auf der Biennale in Venedig zu sehen war, widmet sich diesem Grenzstreit auf einer völlig neuen Ausgangsbasis: Der Fund der Mumie hatte nämlich nachhaltige Folgen: 2006 trat ein neuer Vertrag zwischen Österreich und Italien in Kraft, der die Grenze bei Gletschern nicht mehr als Wasserscheide unterhalb dieser Gletscher, sondern auf der Gletscheroberfläche und damit variabel definiert. Die Grenze folge so „der allmählichen und natürlichen Veränderungen dieser Linie“. Mit anderen Worten: Durch Erosionen am Kamm oder durch das Schmelzen von Gletschern und Schneefeldern verändert sich auch die Grenze. Das Projekt Italian Limes machte nun diese „mobile Grenze“ zwischen Österreich und Italien in Form einer aufwendigen Projektion erfahrbar. Ein 2,7 mal 2,7 Kilometer großer Ausschnitt des Geländes wurde in kleinem Maßstab als kartografisches Relief nachgebaut und diente als Projektionsfläche. Hierauf wurden die Veränderungen der italienisch­österreichischen Grenze zwischen 1920 und 2014 aufgezeigt. Die Abweichungen von der ursprünglichen Linie aus den 20er­Jahren betragen bis zu 300 Meter. Um das Phänomen der aktuellen Veränderungen zu visualisieren, wurden entlang des Grenzverlaufs fünf solarbetriebene GPS­Sensoren installiert. Die Bewegungen der Eisdecke und damit die der variablen Staatsgrenze werden von den Sonden als geografische Daten erfasst und während der gesamten Laufzeit der Ausstellung in das fast 190 Kilometer entfernte Venedig übertragen. Dort nimmt eine eigens entwickelte Zeichenmaschine die Daten in Empfang und übersetzt die Koordinaten in eine Art „Liveübertragung“ der Grenzlinie. Das Similaun­Projekt ist auf zweierlei Ebenen von Bedeutung. Zum einen thematisiert es die Dynamik natürlicher Grenzen aufgrund von Klimaveränderungen und zeigt die neuen technischen Möglichkeiten auf, sie auch präzise festzuhalten. Zum anderen schafft es eine neue Vorstellung von „Grenze“. Das Konzept der Variablen, sogar gesetzlich verankert, schafft eine neue Sicht auf territoriale Machtfragen zugunsten – in diesem Fall – eines einheitlicheren Europas. „Ötzi“ jedenfalls wurde nach langem Hin und Her am Ende zwar Italien zugesprochen. Nach den Erkenntnissen des „Italian Limes“ jedoch wäre es zumindest vorstellbar, dass die Mumie, je nach Gletscherzustand, zweimal im Jahr die Seiten wechselt. N 30 | 31 Alpen in Bewegung

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Der Wert von Liegenschaften | Von Immobilien und Steuern Michael Krassnitzer geboren 1967 in Graz, Studium der Philosophie. Lebt als freier Journalist mit den Schwerpunkten Kulturgeschichte und Medizin in Wien. Keppert, T. (2010): Die Immobilienbewertung als Spezialfall der Unternehmensbewertung – SWK­Heft 20/21 Wessely, R., Twaroch, Ch., Navratil, G., Muggen huber, G., Mansberger, R., Lisec, A. (2013): Der Beitrag von Kataster und Geodaten zur Liegenschaftsbewertung – Von Einheitswerten zu neuen Steuermesszahlen für Liegenschaften. – VGI 1/2013, 11­21 Schratzenstaller, M., Picek, O., Bauer, H., Ott,S., Staringer, C., Heidenbauer, S., Höllbacher, M. (2008): Reform der Grundsteuer nach dem Grazer Modell. – WIFO Einheitswert, Vergleichswert, Ertragswert: Die Ermittlung des Werts von Liegenschaften ist alles andere als eine einfache Angelegenheit. Die elektronische Verknüpfung des Grundstückskatasters mit den verfügbaren Geodaten könnte als Basis für ein künftiges Bewertungssystem dienen. Ab Beginn des kommenden Jahres gelten in Österreich neue Einheitswerte für die Land­ und Forstwirtschaft. Die Einheitswerte sind die Bemessungsgrundlage für eine Reihe von Steuern, Abgaben und Beihilfen im Bereich der Land­ und Forstwirtschaft sowie der Beiträge für die Sozialversicherungsanstalt der Bauern und wurden zuletzt im Jahr 2001 erhöht. (Die letzte Hauptfeststellung für Grundvermögen und dazugehörige Betriebsgrundstücke fand 1973 statt, zehn Jahre später wurden diese Einheitswerte linear um 35 Prozent angepasst.) Die Landwirtschaftskammer schätzt, dass durch die Neufeststellung mit einem Ansteigen der gesamten Einheitswertsumme in Land­ und Forstwirtschaft um rund 10 Prozent zu rechnen sei. Wer jedoch glaubt, damit würden die Einheitswerte den reellen Werten der Liegenschaften angepasst, der irrt: Die derzeitigen Einheitswerte machen in der Regel 10 bis 30 Prozent des tatsächlichen Werts aus. Und schon ist man mittendrin im Minenfeld der Liegenschaftsbewertung, das Prof. Dr. Thomas Keppert, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Immobilienverwalter in Wien, als „ein in der betriebswirtschaftlichen Lehre und Praxis enorm diskutiertes und umstrittenes Gebiet“ 1 beschreibt. „Eigentlich wissen wir nicht wirklich, was Immobilien in Österreich wert sind“, fasst Univ.­Prof Dr. Gunther Maier, Leiter des Forschungsinstituts für Raum­ und Immobilienwirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien, die Lage zusammen. „Der Einheitswert ist eine kuriose Größe, die kaum etwas mit dem wirklichen Wert zu tun hat“, erläutert Maier. Der Einheitswert sei nur durch das Einbeziehen politischer Aspekte zu verstehen. Grundstückseigentümern und Lobbys von Grundstückseigentümern sei es gelungen, eine Neubewertung so lange hinauszuschieben, dass Einheitswerte und Verkehrswerte mittlerweile so weit auseinanderklaffen, dass jede Änderung massive Eingriffe mit sich bringe. „Einheitswert bedeutet, dass Einheit darüber besteht, nichts daran zu rühren“, feixt Maier. „Der Einheitswert ist eine rein steuerliche Größe, der durch die Finanzverwaltung ermittelt wird und insbesondere die Grundlage für die Grundsteuer bzw. Grunderwerbsteuer ist, und spielt sonst keine Rolle“, schildert Mag. Anton Androsch, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer in Wien, die Praxis. Geht es um handfeste Transaktionen, wird der Wert einer Liegenschaft völlig unabhängig von deren Einheitswert ermittelt. Allerdings herrscht kein Konsens darüber, welchem Ermittlungsverfahren – Sachwertverfahren, Vergleichswertverfahren oder Ertragswertverfahren – der Vorzug zu geben ist. Im Zuge des Sachwertverfahrens wird der Wert einer Liegenschaft durch den Wert des Bodens, der baulichen Anlagen und der Außenanlagen ermittelt. Dieses Verfahren kommt freilich eher bei Liegenschaften zur Anwendung, die privat genutzt werden, etwa bei einem Einfamilienhaus, oder auch bei öffentlichen Ge bäuden. Bei Ertragsliegenschaften gilt diese Methode geradezu als „verpönt“, wie Androsch berichtet. Beim Ertragswertverfahren sind der zu erwartende Reinertrag aus der Bewirtschaftung der Liegenschaft und der Kapitalisierungszinssatz die bestimmenden Größen. Wie viel Gewinn aus der Nutzung einer Liegenschaft erzielt werden kann, bestimmt also deren Wert. „Das Ertragswertverfahren setzt sich bei bebauten Ertragsliegenschaften in der Praxis immer mehr durch“, betont Androsch. Allerdings ist dieses scheinbar rationale Verfahren dann nicht objektiv, wenn in den Kapitalisierungszinssatz, in dem grundsätzlich die Erwartungshaltung des Investors zum Ausdruck kommt, nicht nachvollziehbare Risikoaufschläge gerechnet werden. „Der Risikozuschlag lässt viele Gestaltungsspielräume offen“, weiß der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Nicht nur deshalb ist das Ertragswertverfahren aus ökonomischer Sicht problematisch. „Erfahrungsgemäß ist nichts so schwer vorherzusagen wie die Zukunft“, hegt Maier Zweifel an der Verlässlichkeit von angenommenen Reinerträgen. Außerdem sei ein Euro, den man jetzt in der Hand habe, aus verschiedenen Gründen mehr wert als ein Euro, den man erst in einem Jahr bekomme, erläutert der Ökonom: Wie hoch jedoch der Diskontierungsfaktor, mit dem dieser Tatsache Rechnung getragen werde, anzusetzen sei, stehe in den Sternen. Das Vergleichswertverfahren ist daher die Methode, die Maier favorisiert. Dabei wird der Wert einer Liegenschaft durch den Vergleich mit tatsächlich erzielten Kaufpreisen vergleichbarer Liegenschaften ermittelt. „In der Ökonomie entspricht der Wert dem Preis. Alles andere ist problematisch“, unterstreicht Maier. Der Preis müsse natürlich auch von bestimmten Charakteristika wie der Beschaffenheit von Gebäuden und der Lage abhängen. Ökonomen nennen dies ein hedonisches Preismodell. Dem Wirtschaftswissenschaftler sind die Schwächen dieser Methode, wegen derer sie heute in erster Linie bei unbebauten Grundstücken zur Anwendung kommt, durchaus bewusst: „Immobilien sind sehr heterogen und werden relativ selten gehandelt. Und wenn sie gehandelt werden, ist es schwierig, den Preis zu erfahren.“ Oft würde über den Verkaufspreis Stillschweigen vereinbart, und bei den im Grundbuch ersichtlichen Preisen sei manchmal offensichtlich, dass es sich dabei nicht um die Summe handeln könne, die tatsächlich geflossen ist. Auch Anbotspreise seien nicht sehr aussagekräftig, weil sie nur den Wunsch des Verkäufers widerspiegelten und nicht das, was dann tatsächlich am Markt bezahlt wird. 34 | 35 Der Wert von Liegenschaften

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„Es gibt in Österreich einen großen Mangel an soliden und zugänglichen Daten über den Wert von Immobilien und Grundstücken“, fasst Maier zusammen. Dipl.­Ing. Dietrich Kollenprat, Vorsitzender der Bundesfachgruppe Vermessungswesen in der bAIK, ist optimistischer, was die Datenlage anbelangt: „Marktwerte von Liegenschaften und Immobilien liegen in Kaufverträgen, in der Urkundensammlung des Grundbuchs und in Aufzeichnungen des Finanzamts flächendeckend für ganz Österreich vor.“ Es ist der erklärte Wunsch des Kammerfunktionärs, dass die Einheitswerte an die reellen Werte von Liegenschaften angeglichen werden. Zu diesem Zweck schlägt er auch gleich eine Methode vor, wie auf der Grundlage des österreichischen Grundstückskatasters und der verfügbaren Geodaten ein Massenbewertungssystem auf EDV­basierter Berechnung aufgebaut werden kann. „Das ist eine mathema tische Aufgabe mit geografischem Bezug – also eine mögliche Aufgabe von Ziviltechnikern“, bekräftigt Kollenprat. Er verweist auch darauf, dass Ziviltechniker bei etwaigen Fehlberechnungen mit der Berufshaftpflichtversicherung haften, während bei der Werter mittlung durch die Verwaltung oder durch Interessenverbände die Allgemeinheit – sprich: der Steuerzahler – haftet. Marktwerte von Liegenschaften und Immobilien hätten gegenüber den bisher verwendeten Einheitswerten große Vorteile, liefern sie doch wertvolle Informationen und Grundlagen für die Wirtschaftspolitik, Steuer­, Siedlungs­, Sozial­, Umweltpolitik oder Raumplanung, erläutert Kollenprat unter Berufung auf einen einschlägigen Fachartikel. 2 „Voraussetzung ist allerdings, dass sie flächendeckend verfügbar und ausreichend treffsicher sind. Damit sollen das Risiko im Umgang mit Liegenschaften minimiert, die Planbarkeit verbessert und das Liegenschaftsmanagement effizienter gemacht werden“, meint Kollenprat. Als Vorbild dient dem Kärntner Zivilingenieur für Vermessungswesen und Geoinformation das „Grazer Modell“ 3 , das eine möglichst einfach zu handhabende Flächensteuer vorsieht. Das dabei zugrunde liegende Bewertungsverfahren sieht für die Liegenschaften 20 unterschiedliche Zonen vor, die die Qualität der Liegenschaften berücksichtigen. Wertebildende Parameter sind dabei die Lage des Grundstücks/Gebäudes, die Benützungsart, Ertragmesszahlen, die tatsächliche Nutzung, Flächenwidmung, Bebauungsplanung, Infrastruktur, Topografie, Nähe zu auf­ bzw. abwertenden Faktoren wie Seen, Kurzonen, Erholungs zonen, Innenstadt bzw. zu Mülldeponien, Kläranlagen, lärm­ und luftbelasteter Infrastruktur. Also ein klassisches hedonisches Preismodell. In welchem Maß die einzelnen Einflussfaktoren berücksichtigt werden, könne von den politischen Entscheidungsträgern und den Interessenvertretungen abgestimmt werden, spezifiziert Kollenprat. Das vom bAIK­Funktionär skizzierte Modell eines Bewertungssystems nutzt den Grundstückskataster im Sinne eines modernen Mehrzweckkatasters und berücksichtigt alle verfügbaren aktuellen Transaktionsdaten: „Die Auswertung und Berechnung der Marktwerte sämt licher Grundstücke erfolgt einerseits durch Datenfilterung, andererseits durch Dateninterpolation.“ Die Datenfilterung bewirkt, dass nur die gleichen, vergleichbaren Liegenschaften rechnerisch verknüpft werden. Die Dateninterpolation erfolgt innerhalb der nächstgele genen Vergleichsdaten unter Berücksichtigung sämt licher einzubeziehender Parameter. „Grundsätzlich klingt das nach einer guten Sache“, kommentiert Maier Kollenprats Bewertungsverfahren: „Sollte dieses Projekt konkret werden, wäre ich durchaus interessiert, darin involviert zu sein.“ Allein mit der Idee, dass politische Entscheidungsträger und Interessenvertretungen bei der Gewichtung der Einflussfaktoren ein Wörtchen mitzureden haben, kann er nichts anfangen: „Das sollte sich durch den Markt ergeben.“ Ob die Politik jemals die Problematik des viel zu niedrigen Einheitswerts an der Wurzel packt, ist freilich fraglich – zumal auch in der Wirtschaft eine Bewertungsmethode um sich greift, bei welcher der reelle Wert einer Liegenschaft überhaupt keine Rolle spielt. Immobilienentwickler, die Großprojekte von der Nutzungsidee bis hin zur Übergabe an die Käufer oder Mieter durchziehen, rechnen aus den Herstellungskosten, den Vermarktungskosten, der erwünschten Rendite und dem Verkaufspreis jene Summe heraus, die das Grundstück kosten darf, damit die Kalkulation aufgeht. „Das ist der Grund, warum Developer oft horrende Summen für kleine Flächen zu bezahlen bereit sind“, erklärt Androsch. N Der Wert von Liegenschaften

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Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ | Bei der Umsetzung darf nicht auf die Besonderheiten der geistigen Dienstleistung vergessen werden! Corinna Greger verstärkt seit 2012 das Generalsekretariat der bAIK insbesondere in Angelegenheiten des Vergaberechts. Davor war sie als Konzipientin in verschiedenen Wiener Rechtsanwaltskanzleien tätig. Die engagierte Juristin ist darüber hinaus fachkundige Laienrichterin für öffentliches Auftragswesen beim Bundesverwaltungsgericht Wien. Sektionsvorsitzender Klaus Thürriedl am Podium bei der Enquete „Faire Vergaben“ im Parlament Drei Fachgewerkschaften, zwölf Bundesinnungen und zwei Fachverbände der WKO sowie weitere interessierte Gruppen haben die Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ (www.faire­vergaben.at) gegründet. Die Initiative betreibt eine sehr professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Mittlerweile haben auch einige Landeshauptleute, Bundespolitikerinnen und Bundespolitiker sowie die Bundeswirtschaftskammer öffentlich ihren Zuspruch zu dieser Initiative bekundet. Neben Forderungen zur Novellierung des Lohnund Sozialdumpinggesetzes hat diese Initiative insbesondere einen umfassenden Forderungskatalog zur Adap tierung des Vergaberechts anlässlich der heuer ver lautbarten EU­Vergaberichtlinien veröffentlicht. Ihre Forderungen fokussieren auf die ­ Qualität bei der öffentlichen Auftragsvergabe („Best­ statt Billigstbieterprinzip“); ­ Vermeidung von Preisdumping durch die Schaffung klarer Vorgaben für die vertiefte Angebotsprüfung ­ Vermeidung von Lohn­ und Sozialdumping durch Einschränkung der Subvergaben. Die Zielrichtung der Forderungen entspricht grundsätzlich auch jener, welche die bAIK bei ihren Maßnahmen zur Umsetzung der EU­Vergaberichtlinie 2014 eingeschlagen hat. Der Druck auf die Politik ist gewachsen. So fand am 11. November 2014 eine Enquete im Plenarsaal des Parlaments statt, bei der die Forderungen der Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ präsentiert und öffentlich zur Diskussion gestellt wurden. Die zur Umsetzung dieser Initiative geplanten Maßnahmen konzentrieren sich auf die Probleme bei der Ausschreibung von Bauaufträgen. Aufgabe unserer Kammer wird sein, dass es im Zuge dieser Diskussion nicht nur bei plakativen Schlagworten bleibt, sondern wirklich zu substanziellen Verbesserungen in Zusammenhang mit der Vergabe geistiger Dienstleistungen kommt: Best- statt Billigstbieterprinzip Die Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ fordert die zwingende Anwendung des Zuschlagskriteriums des wirtschaftlich günstigsten Angebots („Bestbieterprinzip“) bei Bauleistungen ab einer Million Euro. 36 | 37 Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“

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Die Forderung der bAIK geht darüber hinaus: Geistige Dienstleistungen sollen ohne Auftragswertbeschränkung ausnahmslos nur nach dem „Bestbieterprinzip“ vergeben werden müssen. Nur auf diese Weise kann eine vernünftige Auftragsvergabe nach angemessenen und objektiven Qualitätskriterien, bei der die Qualität gegenüber dem Preis den Vorrang hat, sichergestellt werden. Klare Vorgaben für die vertiefte Angebotsprüfung zur Vermeidung von Preisdumping Die vertiefte Angebotsprüfung soll ein Instrument darstellen, um unangemessenen Preisen, die auf Lohn­ und Sozialdumping zurückzuführen sind, auf den Grund gehen zu können. Das BVergG gibt die notwendigen Prüfmaßstäbe aber nicht ausreichend prä zise vor. Der Auftraggeber hat bei der Preisangemessenheitsprüfung vielmehr von gesetzlich nicht näher definierten Erfahrungswerten auszugehen. Das zieht oft lange Vergabe­ und Gerichtsverfahren nach sich, in denen sowohl Auftraggeber als auch Auftragnehmer gefordert sind, ihre Ansicht zur Preisangemessenheit darzulegen. Zur leichteren Handhabe fordert die Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ die gesetzliche Möglichkeit des zwingenden Ausscheidens von Angeboten, deren Preise um mehr als 20 % vom Mittelpreis ab weichen, ohne dass der Auftraggeber eine vertiefte Angebotsprüfung durchführen muss. Eine derartige Regelung erscheint zwar praktisch, ist aber im Lichte der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs bedenklich, sodass von einer Umsetzung dieser Forderung durch die Politik nicht auszugehen ist. Stattdessen fordert die bAIK daher das Heranziehen der von Univ.­Prof. Lechner erstellten Leistungs­ und Vergütungsmodelle, LM.VM 2014, als allgemeine Leitlinie und Prüfungsmaßstab für die Prüfung der Preisangemessenheit bei der vertieften Angebotsprüfung. Vermeidung von Lohn- und Sozialdumping durch Einschränkung der Subvergaben Die derzeitigen Regeln des BVergG zur Weitergabe von (Teil)Leistungen an Subunternehmer durch die Bieter lassen in allen Bereichen weite Spielräume offen. Diese Spielräume wurden im Baubereich zur Umgehung arbeits­ und sozialrechtlicher Mindeststandards genutzt. Die Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ will dieses Problem nunmehr mit der Einführung der Verpflichtung, alle Subunternehmer von Beginn an im Angebot bekanntzugeben, in den Griff bekommen. Weiters sollen das Verbot der Subsubvergabe sowie die Verpflichtung eingeführt werden, dass 80 % der Kernleistungen eines Auftrags vom Bieter selbst erbracht werden müssen. Diese Forderungen zielen auf die Probleme am Bau ab. Werden für geistige Dienstleistungen dabei aber keine ausreichenden Ausnahmeregelungen getroffen, so würden die Ziviltechnikerinnen und Ziviltechniker in ihrer Tätigkeit erheblich eingeschränkt werden: Beispielsweise werden Generalplanerleistungen seit jeher unter Beiziehung von Subunternehmerleistungen angeboten. Müssen Planerinnen und Planer in Zukunft alle Subunternehmer bereits bei der Angebotslegung nennen, so entstehen hohe Vorhaltekosten. Oftmals ergibt sich die Notwendigkeit der Beiziehung von Subunternehmern überdies erst nach Abschluss der Angebotsphase. Jedenfalls entsteht für jene Ziviltechnikerinnen und Ziviltechniker, die öffentliche Auftraggeber bei der Er stellung von Ausschreibungen betreuen, eine erhöhte Prüfpflicht bezüglich der bereits im Angebot zu nennenden Subunternehmer. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass kleine und mittlere Ziviltechnikerbüros bei Ausschreibungen nicht mehr zum Zug kommen und zu Unternehmenszusammenschlüssen gezwungen werden. Das führt zum Aussterben der Regionalität in der Auftragsvergabe. Große Unternehmen werden nämlich auch in Zukunft tendenziell kein Problem mit der Nennung billiger, ausländischer Subunternehmer zum Zeitpunkt der Angebotslegung haben. Die Vertreterinnen und Vertreter der bAIK haben bereits Gelegenheiten genutzt, um auf die Forderungen der bAIK zur Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ an der richtigen Stelle aufmerksam zu machen. Zuletzt war die bAIK auch bei der parlamentarischen Enquete zur Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ vertreten, wo der Sektionsvorsitzende der Ingenieurkonsulenten, DI Klaus Thürriedl, den o. g. Standpunkt der bAIK zur Anwendung des „Bestbieterprinzips“ bei geistigen Dienstleistungen öffentlich dargelegt hat. Bei der Enquete wurde bekannt, dass zur Behandlung der Forderungen der Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“ noch heuer eine „kleine“ Novelle zum BVergG in Begutachtung gehen soll. Nächstes Jahr soll dann an der darüber hinausgehenden Umsetzung der Richtlinienvorgaben der EU gearbeitet werden. Die bAIK wird dabei nicht müde werden, auf die Besonderheiten, die sich bei der Vergabe geistiger Dienstleistungen, wie der Planungsleistungen der Ziviltechnikerinnen und Ziviltechniker, ergeben, aufmerksam zu machen. N 38 | 39 Initiative „Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze“

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Das Rezept zur perfekten Küche. Beratung, Planung und Realisierung. Alles aus einer Hand. Professionalität in der Gastronomieausstattung erfordert Erfahrung in Planung und Baustellenbegleitung komplexer Projekte. Wir kennen die Arbeitsabläufe in modernen Großküchen und die damit verbundenen Anforderungen und stellen unser Wissen gerne in der Zusammenarbeit mit ArchitektInnen unseren KundInnen bei der Umsetzung auch hochkomplexer Projekte zur Verfügung. Stölner Group – wir wissen, worauf es ankommt. Stölner GmbH Günter Maurer Key Account Manager +43 (0) 676 830 81 307 Herzogenburgerstraße 9, 3100 St. Pölten T + 43 (0) 27 42 36 22 20-0 39 | 39 group Anzeigen Burggasse 120, 1070 Wien T + 43 (0) 1 52 24 674 office@stoelner.at | www.stoelner.at

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Diskursiv, kompetitiv, nicht kooperativ Im Zug der Zeit liegt ein kurzschlüssig oft „kooperativ“ genannter Verfahrenstyp, der in den Siebzigerjahren für den Wiener Donau­Hochwasserschutz „maßgeschneidert“ wurde – das „Wiener Modell“. Als Gegenentwurf zum Architekturwettbewerb entstand ein Werkstatt­Verfahren, das heute als leistungsfähige Methode zur Planerbeteiligung bei unvollständig entfalteten Projekten gilt. Es wird eine multiplikative Gesprächssituation zwischen problemrelevanten Disziplinen hergestellt. Indem über Teillösungen verhandelt wird, tritt das Gesamtproblem überhaupt erst in Erscheinung. Für die mitwirkenden Planer ergibt das einen kollektiven Erkenntnisschub, der eine produktive Alleinarbeit in ihren Büros ermöglicht. Für die verfahrenslenkenden Politiker bedeutet das die Möglichkeit, ihr Handeln zu legitimieren. Kooperiert im engen Sinn von Arbeitsgemeinschaften wird zwischen Planern nicht, die Mitwirkenden sind vielmehr parallel beauftragt. Ihr Arbeitsverhalten ist diskursiv zu nennen; Lösungen werden auf den Tisch gelegt, ungeachtet der Frage, von wem sie stammen. So wie für die Entwicklung einer Stadt die Vorstellung produktiv ist, dass sie keinen namentlich bekannten Autor für ihr Konzept braucht, so leben diskursive Verfahren von der Vorstellung, dass bei ihrem Abschluss keiner der Autoren obsiegt. Eine von vielen Autoren getragene Vorstellung wird bei einem gelingenden diskursiven Verfahren für verbindlich erklärt, urheberrechtliche Zuordnungen sind unerheblich. Der diskursive Weg ist kompetitiv: Nicht weiterführende Teillösungen werden ausgeschieden. Der im öffentlichen Wettbewerbswesen bewährte Beurteilungsmodus tritt gegenüber einem umfassender aufgesetzten Verhandlungsmodus in den Hintergrund. In diskursiven Verfahren legen Fachleute gemeinsam eine Basis für weitere Planungsschritte danach, die meist von Dritten vollzogen werden. Daher sind das klare Ziel und der transparente Zugang zum diskursiven Verfahren von entscheidender Bedeutung für die Relevanz des Ganzen. Die beste Praxis baut auf vorlaufender Bürgerbeteiligung auf, beinhaltet eine begleitende Öffentlichkeitsarbeit und mündet in abgegrenzte Verfahren, etwa städtebauliche Ideenwettbewerbe oder objektbezogene Realisierungswettbewerbe mit anschließendem Verhandlungsverfahren. Im Werkstattverfahren werden Probleme sortiert, indem man offen über ganz und gar nicht vergleichbare Lösungsansätze spricht. Im Preisge richt eines Architekturwettbewerbs wird dagegen über vergleichbare Lösungen gesprochen, weil man sich für die Auslobung auf ein beschreibbares Planungsproblem einigen konnte. Walter M. Chramosta N Jagdempfehlung Man muss kein Förster oder Wilderer sein, man kann auch ein Zahmerer sein und statt Hirschen Schnäppchen jagen, wenn einen das böse Gelüst nach einer Trophäe übermannt. Schließlich befinden wir uns am Ende der Zivilisation, egal ob diese sich in asketisch moralistischer Selbstnormierung mithilfe digitaler Überwachungswerkzeuge vollendet oder ob sie in Barbarei zurückfällt, was angesichts aktueller politischer Entwicklungen durchaus wieder möglich erscheint. Der Mensch ist formbar, auch seine Wünsche sind plastisch, und seit dem Anbruch des Plastikzeitalters ist die technische Substituierbarkeit natürlicher Objekte der Begierde beinahe grenzenlos. Ein Plastikgeweih erscheint in dieser Perspektive als Verdichtung der Zivilisationsgeschichte, die sie von den archaischen Anfängen menschlicher Naturaneignung bis hin zum begeisterten Verzicht darauf resümiert. Die Massenproduktion aller erdenklichen und unausdenklichen Konsumprodukte (nicht nur durch Biennal versammelt Best of Austria ausgezeichnete in Österreich gebaute oder von österreichischen Architekten im Ausland realisierte Architekturprojekte. Die Re dakteure der Publikation streben dabei nicht nach einem ohnehin zum Scheitern verurteilten Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr werden die Gewinner für die österreichische Baukultur besonders relevanter Auszeichnungen und Architekturpreise präsentiert. Ausschlaggebend ist dabei die fachliche Expertise der Jury sodie Kunststoffindustrie) hat jedoch mittlerweile vielerlei Gegenkräfte mobilisiert. Diese sind nicht immer widerspruchsfrei: Für ein selbst erlegtes Geweih spricht, dass ein Tier ohne Massentierhaltung und Schlachthof, also gleichsam durch Handarbeit, seinen Weg auf den Teller fand. Im Hochwald, fern industrieller Entfremdung, standen Mensch und Tier einander noch Aug in Aug, wenngleich asymmetrisch bewaffnet, gegenüber. Andererseits wird aktuell auf Jäger politisch Jagd gemacht. Diese verstehen sich selbst als Zivilisierer der Natur und werden nun zu gewalttätigen Barbaren erklärt. Man sollte also Geweihe besser „gebraucht“ bei eBay kaufen, das mildert die eigene Schuld. Oder in Erwartung einer wachsenden Schar vegetarischer und veganer Gäste gleich zum Plastikhirsch greifen. Dieser schont zwar die tierische Natur, belastet jedoch auf seine Weise das Gewissen öko­ und klimabewegter Zeitgenossen. Obwohl das Erdöl, dem unser Hirsch entsprungen ist, ursprünglich natürlichen Ursprungs ist. In diesem Dilemma verfangen bleibt uns als Trost nur die Einsicht, dass in einer Konsumgesellschaft das Verhältnis des Menschen zum Konsumobjekt nur ein ambivalentes sein kann. Wir jagen weiter Schnäppchen, auch wenn wir dabei Beute höchst zivilisierter Schuldgefühle werden. Wolfgang Pauser N Orientierungsempfehlung Best of Austria | Architektur 2012_13 Herausgegeben vom Architekturzentrum Wien PARK BOOKS 2014 wie, dass architektonische Aspekte als Entscheidungsgrundlage dienten. In gewissem Sinne zeichnet die Publikation also wiederum die Auslober und Teams der ausgewählten Architekturpreise aus. All jene vorgestellten 170 Projekte und Akteure dürfen sich also zu Recht zu den besten ihrer Profession zählen. Im Vordergrund der Publikation steht allerdings nicht so sehr das Ranking unterschiedlicher Zugänge zur Architektur, sondern vielmehr einem breiten Publikum die Vielfalt österreichischer Baukultur aufzuzeigen. So finden sich unter den Best of Austria sowohl kleine Holzarchitekturen wie auch monumentale Großbauten. Damit trägt auch diese Ausgabe der Buchreihe, die dieses Jahr zum vierten Mal erscheint, zur Bewusstseinsbildung für die qualitätsvolle Gestaltung unserer gebauten Umwelt bei. Insider haben mit Best of Austria die Möglichkeit zur Konkurrenzbeobachtung beziehungsweise Inspirationen, bei welchem Architekturpreis möglicherweise das nächste besonders gelungene Projekt eingereicht werden könnte. Ein Buch also, das jedem Leser die eine oder andere Orientierungshilfe durch die facettenreiche Architekturlandschaft Österreichs bietet. Redaktion N 40 | 41 Aus dem Wettbewerb | Empfehlungen

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Gebäudemiete oder öffentlicher Bauauftrag? Mietet ein öffentlicher Auftraggeber („öff AG“) ein Gebäude, kommt das Vergaberecht grundsätzlich nicht zur Anwendung. Muss dieses Gebäude aber erst errichtet werden, ist zu hinterfragen, ob der Mietvertrag in Wahrheit einen ausschreibungspflichtigen Bauauftrag darstellt. Im gegenständlichen Fall beabsichtigte die Comune di Bari, sämtliche Gerichte an einem neuen Sitz zu vereinen. Sie führte hierfür eine „Marktuntersuchung“ durch, wobei sie einen Katalog der strukturellen, funktionalen und organisatorischen Anforderungen für die Errichtung des geplanten Gerichtskomplexes zur Verfügung stellte. Im Zuge dieser „Marktuntersuchung“ bot ein Bieter – vereinfacht zusammengefasst – an, ein neu zu errichtendes Gebäude an die Comune zu vermieten. Der EuGH hatte nun zu beurteilen, ob der Vertrag trotz charakteristischer Merkmale eines Mietvertrags einen vergaberechtlich relevanten öffentlichen Bauauftrag darstellt. Er kam dabei zu folgendem Ergebnis: • Ob ein Vorhaben einen öffentlichen Bauauftrag darstellt oder nicht, richtet sich allein nach den gesetzlichen Bestimmungen. Die Bezeichnung und Qualifizierung als „Mietvertrag“ durch Bieter und/oder Auftraggeber ist irrelevant. • Ein Vertrag, der zugleich Elemente eines öffentlichen Bauauftrags und Elemente eines Auftrags anderer Art aufweist, ist nach seinem Hauptgegenstand zu beurteilen. • War die Errichtung des zu vermietenden Gebäudes zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses (bzw. des Vertragsanbots) noch nicht abgeschlossen, ist davon auszugehen, dass der Hauptgegenstand in der Errichtung liegt. • Damit ein öffentlicher Bauauftrag angenommen werden kann, muss die Errichtung des geplanten Gebäudes den Erfordernissen des öff AG genügen. Ein Anforderungsrahmen des öff AG, der die verschiedenen technischen und technologischen Merkmale des Gebäudes festlegt, versetzt diesen in die Lage, auf die Planung des Gebäudes entscheidenden Einfluss zu nehmen. • Zur Beurteilung des Hauptgegenstandes ist die Höhe der Vergütung oder die Art und Weise der Zahlung irrelevant. Dem stand – im konkreten Anlassfall – auch ein für 18 Jahre abgeschlossener Mietvertrag mit einer Jahresmiete von 3,5 Mio. Euro (in Summe 63 Mio. Euro) nicht entgegen, obwohl die Gesamtkosten des Gebäudes 330 Mio. Euro betrugen. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass nach Ablauf von 18 Jahren weitere Verträge geschlossen werden. Im Ergebnis beurteilte der EuGH den Vertrag über die Miete des Gebäudes wegen seines Hauptgegenstandes als öffentlichen Bauauftrag. Offen blieb jedoch die (zentrale) Frage, ab wann ein entscheidender Einfluss des öff AG auf die Planung der Bauleistung anzunehmen ist. (EuGH 10.7.2014, Rs C­213/13, Pizzarotti) Gudrun Mittermayr/Johannes Schramm (Schramm Öhler Rechtsanwälte www.schramm­oehler.at) N Researching Utopia Hg. von Cuno Brullmann niggli Verlag 2014 Es darf geträumt werden Utopien sind Inspirationsquelle, Motor und Katalysator für soziale oder technische Erfindungen. Sie sind der Schlüssel dazu, eingefahrene Denkweisen und Verhaltensmuster zu hinterfragen und möglicherweise hinter sich zu lassen. Der von Cuno Brullmann herausgegebene Band „Researching Utopia“ widmet sich dem Stellenwert der Utopie in der architektonischen Lehre und Praxis von heute. Die vorgestellten Projekte, Skizzen, Bilder und Thesen stehen für ein breites Spektrum an unterschiedlichen, mitunter auch sehr persönlich geprägten Zugängen und Interpretationen zum Thema. In zahlreichen Beiträgen (u. a. von Christoph Laimer, Elke Krasny und Jan Tabor) wird über die gebauten Stadt­ und Architekturutopien der Geschichte räsoniert, deren Erfolg bzw. Scheitern behandelt und über neue Formen von Utopie spekuliert. Präsentiert wird auch eine Auswahl von Projekten von Studierenden der TU Wien, die besonders utopische Entwürfen wagten. „Ideen freien Lauf zu geben und so Utopien zu begünstigen ist das Grundprinzip meiner Lehre“, unterstreicht Brullmann, der seit 19 Jahren die Abteilung für Wohnbau und Entwerfen der TU Wien leitet: „Es darf geträumt werden, um Utopien zu entwickeln.“ Harry Glück. Wohnbauten Hrsg. Reinhard Seiß Müry Salzmann Verlag 2014 „Häuser aus dem Supermarkt“, „maßlose Übersteigerung städtebaulicher Wohn­Monokulturen“, ein „missverstandener Amerikanismus“, der familienfeindlich sei: Das Architektur­Establishment ließ kein gutes Haar am in den Jahren 1973 bis 1985 errichteten Wohnpark Alt­ Erlaa. Doch die Bewohner liebten die Anlage mit ihren begrünten Terrassen und Balkonen, sieben Dachschwimmbädern, reichhaltiger Infrastruktur, zahlreichen Gemeinschaftseinrichtungen und großzügigen Grünräumen von Anfang an. Die geringe Fluktuation und die lange Vormerkliste belegen, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. Dem Architekten dieses Vorzeigeprojekts einer gelungenen Satellitenstadt ist nun ein Buch gewidmet: „Harry Glück. Wohnbauten“. Kein österreichischer Architekt hat so viele Wohnungen geplant wie Harry Glück. Was seine Architektur einmalig macht: Sie orientiert sich an den elementaren Bedürfnissen der Bewohner nach Grün, nach Wasser und Gemeinschaft. Die uralte sozialdemokratische Maxime „Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ wurde ihm zum Leitbild. Gemeinsam mit elf renommierten Autoren untersucht der Stadtplaner und Filmemacher Reinhard Seiß in dem von ihm herausgegebenen Buch das in über fünf Jahrzehnten entstandene Werk von Harry Glück. Architekten und Architekturkritiker, Wohnbauexperten und Nachhaltigkeitsforscher, Soziologen und Ethologen, aber auch Zeit­ und Kunsthistoriker gehen dabei nicht zuletzt der Frage nach, worin die Bedeutung des bald 90­Jährigen für den gegenwärtigen Wohnbau liegt. Michael Krassnitzer N Jüngste Entscheidung | Krassnitzers Lektüren

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Bös in Architektur verliebt | Ursula Faix im Porträt Matthias Winterer Studium der Geschichte (Universität Wien) sowie Masterstudium Journalismus und Neue Medien (Fachhochschule Wien der WKW). Freier Redakteur u. a. für die Wiener Zeitung und Format.at Die Fadesse der Salzburger Vorstadt ist lähmend. Ursula Faix weiß das, denn sie wuchs dort auf. Im Dorf. Doch bereits im Alter von acht Jahren sollte ihr Leben den prägenden Anstoß erhalten, der bis heute nachhallt. Der Anstoß hieß London, der Anstoß hieß Stadt. Seither beschäftigt sich Ursula Faix mit dem Phänomen Stadt in seinen mannigfaltigen Facetten. Und wo sie hinwill, ist klar, in die ideale Stadt, doch die muss erst erfunden werden. Am besten von ihr. In der indischen Stadt Chandigarh lebt rund eine Million Menschen. Sie ist in den 1950er­Jahren nach den Plänen des schweizerisch­französischen Architekten Le Corbusier entstanden. Chandigarh wird von seinen Bewohnern liebevoll „City Beautiful“ genannt, wächst kontinuierlich und bietet höchste Lebensqualität. Die italienische Stadt Palmanova ist ebenfalls eine Planstadt. Ihr sternförmiger Grundriss wurde im 16. Jahrhundert als ideales Stadtbild gepriesen. Sie wurde von den Menschen aber nie angenommen, man siedelte sich neben ihr an. Heute dient sie vorwiegend als riesiges Freilichtmuseum und Touristenat traktion. Doch wo liegt die Diskrepanz zwischen den beiden Städten? Wieso kann hier etwas so blendend funktionieren, während es dort so entsetzlich schief geht? Diesen Fragen widmet sich Ursula Faix seit ihrem kindlichen Besuch in London. Natürlich konnte sie nach ihrer Matura niemand in der ländlichen Enge Salzburgs halten. „Es musste unbedingt die größte Stadt des Landes sein“, sagt sie. Und selbst die reichte nur bedingt. Immer wieder verschlug es sie in die Metropolen der Welt. So unterbrach sie ihr Architekturstudium an der Technischen Universität Wien um ein Jahr an der Rhode Island School of Design in New York zu studieren. Als eine von nur zwölf Studenten intensivierte sie dort ihre Liebe zur Architektur und Stadtplanung. Doch auch das Klima an der TU empfand sie in den 1990er­Jahren als relativ nährstoffreichen Boden für neue architektonische Ideen. Vor allem ihr Lehrer Helmut Richter vermittelte ihr unkonventionelle Herangehensweisen. Heute beschäftigt sich Ursula Faix nicht nur mit klassischer architektonischer Planungsarbeit im traditionellen Sinn, sondern hat ihr Tätigkeitsfeld in eine gesellschaftspolitische Richtung erweitert. Die Funktion des Architekten fasst sie weit. „Jedes Einfamilienhaus ist Städtebau. Jede öffentliche Toilette trägt zur städtebaulichen Produktion bei.“ Natürlich sei die Wirkungsbreite eine andere, wenn man mit der Planung eines ganzen Gebiets, eines ganzen Stadtteils beauftragt wird. Mit ihrem jungen – gemeinsam mit Paul Burgstaller – in Innsbruck gegründeten Architekturbüro „bad architects“ versucht sie genau dies zu tun. Das Team bietet ein breit gefächertes Œuvre. Es reicht von städtebaulichen Studien über Lehrtätigkeiten an der Uni Innsbruck und im Kosovo bis hin zur Innenraumgestaltung. Ursula Faix arbeitete drei Jahre bei Massimiliano Fuksas in Wien und Rom, Paul Burgstaller bei Rem Koolhaas in Rotterdam. Sie konnten Erfahrungen bei großen internationalen Projekten sammeln. Mit diesen Erfahrungen kamen sie nach Österreich zurück und setzten sie in lokalen Büros um. Dort lernten sie sich auch kennen und gründeten 2004 schließlich die „bad architects“. Doch nicht nur dies. Das „bad architects network“ entstand durch ihre vielen internationalen Kontakte und „weil wir es einfach schade fanden, nach unserer Rückkehr nicht mehr mit unseren Kollegen arbeiten zu können“. So umspannt das Netzwerk mittlerweile den ganzen Globus, mit Außenstellen in Atlanta, Richmond, Oslo, Mailand, London, Hamburg, Lille, Denpasar, Manado, Salzburg, Byre und Göteborg. Die Stadtgemeinde Schwarz in Tirol erlebte durch die Neugestaltung einer einzigen Straße durch die „bad architects“ eine umfassende Aufwertung. Die Straße verbindet den Stadtkern mit dem Einkaufszentrum. Sie war grau und trostlos. „Wir haben sie einfach schön gemacht“, sagt Faix. Die Folge war beachtlich. Die Bürger von Schwarz begannen reihen weise ihre Häuser zu renovieren. Die Fassaden der Stadt wurden an die Schönheit der neuen Straße angeglichen. „Jeder Euro, den man in den öffentlichen Raum investiert, kommt siebenfach durch private Investitionen zurück. Das kurbelt die Wirtschaft an“, ist sich Faix sicher. Auch in der Entwicklung der Tiroler Gemeinde Kundel haben die „bad architects“ ihre Finger im Spiel. Sie versuchen den öffentlichen Raum zu entwickeln, Begegnungszonen zu schaffen. In der Philosophie des Büros sollten auch Straßen zu urbanen Freiräumen gezählt werden. „Sie sind mehr als gewöhnliche Verkehrsrouten, sie sind Aufenthaltsräume für die gesamte Bevölkerung“, sagt Faix. Hier liegt ihr besonders die Vielfalt am Herzen. „Fußgängerzonen sind Monokulturen, alle Teilnehmer des öffentlichen Raums sollten gleichbehandelt werden.“ Und warum eigentlich „bad“? „Weil wir Architektur lieben“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Es meint nicht das Wort „böse“, sondern bezieht sich auf eine gewisse Emotionalität, ein Gefühl, das der Ausdruck verstärken soll. „I love you so bad“ bedeute schließlich auch nichts Böses. N 42 | 43 Bös in Architektur verliebt

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Fehlanzeige Gefangen im Tiefenzug Auch in der Vorweihnachtszeit werden viele Coffee-Table-Books über den Ladentisch gehen, in denen architektonische Objekte und ihre Räume in hochglänzenden Fotografien präsentiert werden. Oft zieht einen die übersteigerte wie spektakuläre Tiefe der Fotografie in den Bildraum hinein und verunmöglicht so a priori eine kritische Distanz. Der Blick ist bereits in der Suggestion des bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Raums gefangen, bevor er sein analy tisches Potenzial entfalten kann. Der architektonische Raum wird abgelichtet und archiviert, bevor erste Spuren des Gebrauchs sichtbar geworden sind und das Alltägliche, das Gewöhnliche Einzug gehalten hat. Erläuternde Grundrisse und Schnitte müssen da folgerichtig entfallen, da sie in ihrer Abstraktion und Nüchternheit als Auffor derung zum Gebrauch verstanden werden könnten und so auf eine Wirklichkeit verweisen, die jenseits des im Bild konservierten Idealzustands existiert. Erst wenn erste Manifestationen des Verfalls sichtbar geworden sind und das Pittoreske oder gar Morbide zum Vorschein kommt, kehrt das Auge der Kamera an alte Tatorte zurück. Aber dann verweisen die Spuren, die es vorfindet, nur noch auf längst vergangene Ereignisse. Die Tradition einer kühlen, dokumentarischen Architektur- Fotografie hat es in der gegenwärtigen Bilderflut schwer, ihrer leisen Stimme im allgemeinen Getöse Gehör zu verschaffen, tritt in ihr doch die Architektur selbst in den Hintergrund, um das Rahmenwerk sichtbar zu machen, das viele Aktionen und Begegnungen, die für uns wichtig sind, ermöglicht. Andre Krammer N Zwei Häuser einer Wohnanlage in der Xinyuan West Community in Shanghai, China, neigten sich kurz nach der Fertigstellung aufgrund eines fehlerhaft geplanten Fundaments aneinander. Dennoch gab die zuständige Behörde die Gebäude als sicher für die Bewohnung frei. Wo die Planung zugunsten ökonomischer Effizienz vernachlässigt wird, leiden die architektonische Qualität und die Sicherheit. Das nächste Heft In der kommenden Ausgabe wird das KONstruktiv dem komplexen Verhältnis zwischen den Kräften des Markts und nachhaltiger sowie qualitätsvoller Planung nachgehen. Wie viel Wirtschaftlichkeit kann und soll in visionärer Architektur stecken? Wie viel Mitsprache sollte ökonomische Effizienz in der technischen Planung, bei der Auswahl von Verfahren und in der Umsetzung von Sicherheitsstandards haben? Ebenso stellt sich natürlich die Frage, wie viel Wettbewerb produktiv beziehungsweise qualitätssenkend ist.

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Von oben betrachtet sieht ein Berg wie ein Zebra aus, zumindest im Winter. Schneisen für Lifte, Pisten, Seil bahnen und die Holzwirtschaft malen weiße Streifen in den Hang. Wo der Hochwald gerodet ist, bleibt der Schnee liegen. Das Streifen muster markiert die Naturlandschaft als Kulturlandschaft. Zu unserer Kultur gehört die Informatik. Die Frage, wie Zebrastreifen als unregelmäßige Regelmäßigkeiten im Tierfell entstehen, wurde von Alan Turing, dem Ahnherrn der Informatik, schon 1952 beantwortet. Das Zusammenspiel von Aktor und Inhibitor in einem ungleichgewichtigen System führt zur Musterbildung. Die mathematische Darstellbarkeit der Selbstorganisation von Ordnungen in der Natur ließ jedoch bis heute das Rätsel ungelöst, warum die Zebras ihr auffälliges Kleid tragen. Erst kürzlich wurde von Biologen nach gewiesen, dass mit Streifen bemalte Pferde weniger häufig von Bremsen ge stochen werden als andere. Facettenaugen kommen nämlich mit Streifen nicht wirklich gut klar. Aus unerforschlichen Gründen zeigen sich die Bremsen des sommerlichen Alpenlands von gestreiften Hängen gänzlich unbeeindruckt und piesacken die Wanderer nach Herzenslust. In der Kulturlandschaft Berg ist der Wald Aktivator, der Mensch Inhibitor. Aus ihrem Zusammenwirken hat sich ein Muster entwickelt, das nun die Hänge ornamentiert. Da sich sein Wuchern längst verselbstständigt hat, ist es sowohl für die Bewohner der Alpen als auch für diese selbst zu einer Art „Zweiten Natur“ geworden. Diese ist voraus berechenbar wie die erste. Ob die Bergrücken auf ihr schmuckes Zebrafell stolz sind und ihren Aufputz genießen, werden wir nie erfahren. Uns gefallen Zebras – aber wir haben schließlich keine Facettenaugen. Wolfgang Pauser N